Zweite Chance (1) – Kapitel 13
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Kapitel 13 – Bärchenschlafanzug für den Knuddelbären
„Halt, halt, hier! Die noch!“, ruft einer der Wissenschaftler noch und reicht mir noch eine weitere Festplatte durch die noch geöffnete Schiebetüre herein, grade noch rechtzeitig bevor einer der Beiden mir namentlich noch unbekannten Agenten das Gaspedal gefühlt bis zum Anschlag durchtritt und wir mit dem VW-Bus mit beinahe dreistelliger Geschwindigkeit die verkehrsberuhigte Straße vor unserem Haus hinunterrasen.
Nach verschiedenen Experimenten und Szenenachstellungen in meinem Zimmer wird es nun bereits langsam Dunkel während wir die immer noch leeren Straßen des Dorfes durchrasen und uns nach wenigen Minuten bereits wieder auf der Landstraße in Richtung Forschungszentrum befinden. Als die Forscher nach einer halben Ewigkeit, in welcher entweder Giacomo, ich, wir Beide oder keiner von uns still in unserem Zimmer stehen mussten, endlich ihre Messgeräte eingestellt hatten und langsam mit den richtigen Messungen anfingen, brach unter ihnen langsam aber exponentiell steigend eine leichte Hektik aus.
Es wirkte aber nicht so, als hätten sie endlich einen Durchbruch oder eine Erklärung für Giacomos Zeitreise gefunden sondern vielmehr so, als hätten ihre Messapperaturen in dem in unserem Wohnzimmer provisorisch aufgebauten Observatorium etwas gemessen, was sich die Forscher selbst nicht erklären können.
Nach mehr als zwei Stunden Messungen mit kurzer Pause, dem umstecken von verschiedenen Kabeln, dem aufkleben von Messelektroden auf meinem und Giacomos Körper schienen die Forscher erst einmal genug zu haben, ließen es sich aber nicht nehmen, die meisten Messungen erneut durch zu führen, nur in unserem Garten statt in meinem Zimmer. „Ich will, dass unsere Königin die Daten umgehend durchrechnet!“, wurde Freelancer von dem einzigen Forscher, der nicht grade vor einem Rechner oder Whiteboard beschäftigt ist, informiert nachdem die Experimente mit mir und Giacomo scheinbar vorerst beendet waren. Die Königin? Hä?
Wenige Minuten später trugen vier Leute, darunter Giacomo und ich, eine mittlere zweistellige Anzahl an Festplatten aus unserer Wohnung und verfrachteten sie säuberlich gestapelt in eine Kiste in den Kofferraum des VW-Busses mit dem wir auch schon auf dem Hinweg vom Luftwaffenstützpunkt gefahren sind. Durch Zufall erfuhren ich und Giacomo, dass die Messungen mit uns beiden hier wohl beendet sind und wir eigentlich auch mit den Festplatten zurück ins Forschungszentrum fahren dürften. Grade rechtzeitig schaffte es Kai noch, den Agenten daran zu hindern nicht ohne uns los zu fahren.
Wenige Sekunden später saßen wir auch schon mitsamt meinem Rucksack mit überlebenswichtigem Laptop im Bus und hörten den TDI-Motor anspringen.
Ein kurzer Blick auf mein Handy bestätigt mir: Kurz nach 22 Uhr. Die Umgebung um uns herum wird immer dunkler, Felix Gesicht wirkt bizarr im Rot-Blauen der Scheinwerfer und der Bordelektronik in der Mittelkonsole welches abgesehen von respektvoll in langsamen Tempo auf der Gegenseite vorbeifahrenden Autos die einzige uns umgebende Lichtquelle ist. Auch die Geräuschkulisse ist nicht unbedingt vielfältiger, Motorgeräusche, an einer Kreuzung schaltet der Agent ab und zu die Sirene ein, ansonsten herrscht Stille im Raum.
Die Sirene ist vermutlich der einzige Grund, der Giacomo davon abhält, im Auto einzuschlafen. Giacomo und Ich sind eines dieser Autoschlafkinder, welche, sobald sie in einem fahrenden Auto sitzen, einschlafen. Seltene längere Autofahrten habe ich früher mit sicherer Regelmäßigkeit friedlich im Kindersitz verschlafen, ganz zum Ärgernis meiner Eltern, welche mich anschließend abends nicht mehr ins Bett bekamen.
Die Fahrweise des Agenten am Steuer ist allerdings doch zu hektisch, um ein Einschlafen zu ermöglichen und so begnügt sich Giacomo damit, seinen Kopf müde gegen meine Schulter zu lehnen, mit einer Hand an seiner wieder ein wenig aufgequollenen Windel herumzudrücken und sich durch die Frontscheibe anzuschauen, wie vor uns die Autos an den Rand fahren um den Einsatzwagen durch zu lassen, einer Beschäftigung welcher auch ich grade nur zu gerne nach gehe, denn dies ist auch für mich eine völlig ungewohnte Perspektive. Also das mit der Blaulichtfahrt, nicht das auf meiner Windel rumdrücken! Im Gegensatz zu Giacis Pampi ist meine Drynites allerdings auch noch komplett leer.
Eine Beschäftigung allerdings, die nicht lange währt. Der Sirene ist es geschuldet, dass wir nach weniger als einer halben Stunde erneut die Eingangskontrolle des Forschungszentrums passieren. Allerdings diesmal, ohne an zu halten, scheinbar gewährt das Blaulicht auch hier ein Sonderrecht.
„Hey, könnte einer von euch mir mal den Weg zu Gebäude 14.6 zeigen?“, fordert uns Freelancer auf während er uns einen der A4-Leitpläne des Forschungszentrums gibt. Giacomo und ich schauen gleichzeitig drauf, finden den Punkt und suchen mit unseren Augen den direktesten Weg dorthin: „Jetzt gleich links!“ erfährt Freelancer, von uns beiden gleichzeitig allerdings. Hm, die Rechenkapazitäten unserer Gehirne könnte man auch effizienter nutzen, denke ich und lasse in Folge dessen den Plan aus meiner Hand gleiten und lehne mich wieder zurück. Kai ist nicht mit uns gekommen, nur Freelancer und wir Beide sitzen im Auto, deshalb haben wir niemanden, der für uns zuständig ist. Wo wir jetzt schlafen sollen? Ob sich irgendwer in der Hektik darüber Gedanken gemacht hat? Oder ob uns der scheinbar doch nicht ganz unnahbare BND-Agent dabei helfen wird, nachdem wir die Festplatten abgeliefert haben? Während ich nachdenke, fällt mir auf, dass sich auch die Einkaufstüte mit einem Teil von Giacomos Klamotten und Windeln noch im kleinen Warteraum des Zeitreisenforschungsgebäudekomplexes befindet.
„So, da sind wir!“, sagt Freelancer, während er den Schlüssel abzieht und vom Fahrersitz herunterspringt. „Ihr beide tragt bitte die Kiste, ok?“ gibt er uns als Anweisung während er Richtung Kofferraum läuft und selbigen öffnet. Dank seiner Autorität, die er als Agent des Bundesnachrichtendienstes bei sowohl mir als auch Giacomo genießt, passiert etwas Sonderbares: Ohne Widerworte zu geben, nehmen wir je einen Henkel der Kiste in die Hand und tun, was uns gesagt wurde. Verrückt, nicht?
„Und das sind ganz normale Festplatten, wie in deinem Computer?“, fragt mich Giacomo allerdings, als wir die Kiste die Eingangstreppen hinauftragen. „Ja, äh …“, antworte ich, und beuge mich kurz über die Kiste: „Fast. Die drehen sich ein bisschen schneller und haben einen anderen Anschluss, aber ansonsten, jep.“, bekommt er als Antwort zu hören.
„Wie viel Speicher haben die denn? Steht hier nirgends“, fragt Giacomo darauf hin, eigentlich war mir klar, dass es nicht bei dieser einen Frage bleiben würde. „Doch, hier. 4TB, also 4.000 Gigabyte. Kennst du eigentlich Terrabyte als Einheit? Oder gab es das damals noch nicht?“, frage ich einen Schwall von Fragen zurück, die ich mir mit etwas Nachdenken auch selbst hätte beantworten können. Während ich frage, gehen wir durch ein geöffnetes Rolltor und einen kleinen Zwischenraum und befinden uns anschließend in einem Flur mit Glasfenster. Diese geben Blick auf eine leuchtend weiße, etwa zehn Meter hohe Halle frei, an dessen Wand groß das Logo des Forschungszentrums prangt und auf deren Boden in Reih und Glied große, schwarze Kästen mit einem IBM-Logo stehen. Ein dunkles Grollen ist zu vernehmen, verursacht vermutlich durch die aufwändige Kühlanlage, denn die schwarzen Kästen in Kühlschrankgröße sind meiner Expertise nach zu urteilen Serverracks, also eine Ansammlung von Computern. Auf einem der Geräte erhaschen meine Augen einen Schriftzug im Corporate Design des Forschungszentrums: „JUQUEEN“. JUQUEEN ist der Supercomputer des Forschungszentrums, einer der stärksten, besser gesagt schnellsten Computer der Welt, womit auch geklärt wurde, wer, beziehungsweise was eben von den Forschern mit „Königin“ gemeint war. Niemand geringerer als sie wurde scheinbar damit vertraut, die Messdaten von den Festplatten zu interpretieren.
„Ach, sind sie die Truppe mit den ultrawichtigen Daten? Muss ja sehr wichtig sein, wenn ihr mit Blaulicht angerauscht kommt. Ich wüsste ja nur zu gerne, was da auf den Platten drauf ist, aber nein, ich bin ja nur der Systemadministrator!“, werden wir von einem sehr redseligen Techniker begrüßt, welcher vor einer Reihe Bildschirme hockt, jeder von ihnen gefüllt mit einem schwarzen Hintergrund und langen Schriftzeilen in verschiedenen Farben.
„Nicht so neugierig, Freundchen!“, gibt der BND, Agent zurück während er in seiner linken Hand seine Brieftasche auffaltet, so wie man es aus amerikanischen Thrillern kennt: „Bundesnachrichtendienst. Nehmen sie die Hände hoch und bleiben Sie still sitzen. Es geht um ihren Laptop.“
Gradezu panisch reißt der eben noch halb konzentriert dasitzende Systemadministrator die Hände hoch, was Freelancer allerdings mit einem Grinsen quittiert: „Nein, nur ein Scherz! Das wollte ich wirklich schon immer machen, aber immer wenn ich bisher die Gelegenheit dazu hatte, kam mir mein Kollege zuvor. Wir sind nur hier, um besagte Daten abzuliefern.“, auch Giacomo und ich können uns ein Lachen nicht verkneifen, und als auch der Techniker begreift, dass wir ihm wirklich nichts Böses wollen, stimmt auch er mit ein: „Ich wusste gar nicht, dass ihr Jungs Humor habt!“.
Wenige Sekunden später hat sich die Stimmung soweit gelockert dass der Techniker uns eine Tür aufschließt und wir mitsamt der massiven Holzkiste in einen weiteren Nebenraum gehen. „So, hier ist das NAS das dann die Daten ausliest. Gebt mal die Kiste her!“
Als der Techniker einen Blick auf die Kiste geworfen hatte und erkannte, dass es sich um mehr als ein Duzend Festplatten handelte, forderte er uns drei kurzerhand zum Mithelfen auf, entsprechend schnell waren alle Festplatten nach etwa fünf Minuten fertig in ihre Rahmen hineingeschoben. Kurze Zeit später befanden wir drei uns wieder auf dem Rückweg zu unserem Blaulicht-Bus. Freelancer sprach in sein Funkgerät hinein und Giacomo und ich hörten gespannt zu.
„Die Platten stecken, der Techniker meinte, in spätestens zehn Minuten müsste die ssh-Verbindung stehen. Den Fingerprint habt ihr? Gut, ich würde ungern noch einmal hin und zurück fahren.“ Mit Schrecken muss ich feststellen, dass ich tatsächlich alles verstehe, von dem der technisch scheinbar doch recht bewanderte Agent gerade geredet hat. Giacomo allerdings noch nicht, weshalb ich in den nächsten Minuten damit beschäftigt bin, die Bestandteile von Freelancers Satz nach und nach zu erklären. Ich bin so beschäftigt, dass ich gar nicht mitbekomme, wie wir nach ein paar Minuten wieder anhalten und erneut auf den runden Eingang von Gebäude 16.4 zugehen. Erst als ich einmal mehr das charakteristische Zischen der sich öffnenden Schiebetüren höre, erinnere ich mich an meine eigentliche Frage wieder: „Wo sollen ich und Felix jetzt über Nacht eigentlich schlafen? Kai ist ja noch bei mir zu Hause, sind sie jetzt für uns zuständig, oder wie?“
„Ich? Gott bewahre Nein! Ihr habt mir grade noch gefehlt!“, wehrt Freelancer grinsend ab: „Soweit ich weiß, gibt es für uns alle hier eine einigermaßen standesgemäße Unterkunft und angeblich wartet hier schon irgendwer auf uns der uns genau dorthin führen soll, das sagte zumindest mein Chef.“ Allerdings, das müssen wir zu geben, befindet sich hier im Vorraum niemand mehr, selbst die Beleuchtung ist größtenteils schon aus. Nachdem wir kurz und ohne jeden Sinn unschlüssig im Raum herumstehen, greift Freelancer sich an sein Ohr und spricht abermals in sein Funkgerät: „Freelancer an Heros Bonn Einundzwanzig. Ich bin wieder an 16.4, aber es ist niemand da der uns abholen könnte. Was ist hier los?“
Felix und ich können nur mutmaßen, wie die Antwort lautet, denn diese wird leider nur über den Ohrhörer ausgegeben, so stehen wir nun ohne Aufgabe im Raum herum und warten. Was macht ein Teenager heutzutage, wenn er keine Aufgabe hat? Richtig, er holt sein Smartphone raus. Kurz nach halb elf. Puh, schon recht spät. „Bist du eigentlich noch müde?“, frage ich in Folge dessen in die Richtung meines neuen kleinen Bruders, immerhin war der Tag heute recht anstrengend und vor allem aufregend.
Mit „Nein, wieso sollte ich?“, bekomme ich allerdings eine Antwort die ich mir eigentlich selbst hätte denken könnte. „Das sah aber eben im Auto ganz anders aus!“, kann ich zu meiner Verteidigung nur erwidern. Bevor wir unsere Konversation allerdings weiterführen können, werden wir unterbrochen dadurch dass Freelancer mittlerweile die kleine Tür zum Verbindungsgang geöffnet hat. „Hey, wir brauchen noch die Tasche mit unseren Windeln!“, flüstert mir Felix ins Ohr während wir dem Agenten in den leeren, fast Stillen Flur folgen. „Unsere Windeln?“, gebe ich streitlustig zurück.
„Falls du es vergessen hast, du hast eine Drynites an“, belehrt mich Giacomo genüsslich. Bevor ich diesen kleinen Frechdachs nun aber umbringen kann, werden wir aufgeregt von einer Frau mit kurzen Haaren begrüßt, der Frau, welche sich als erstes unsere Zeitreisengeschichte anhörte, noch bevor wir mit Kai in das Reinraumlabor verschwanden. Hätte ich sie jetzt nicht noch einmal gesehen, hätte ich das glatt vergessen. So viel ist heute passiert, mein Hirn braucht dringend Schlaf um sein Kurzzeitgedächtnis ordnen zu können. Aber gut, müde bin ich eigentlich auch noch nicht, immerhin sind Ferien und dementsprechend habe ich heute Morgen auch bis elf Uhr geschlafen.
„Entschuldigung, ich war noch im Reinraum und die Schleuse hat mich aufgehalten! Wie sind sie hier reingekommen? Nagut, egal, kommen sie mit“, ruft sie uns entgegen und ändert dann ihre Laufrichtung mit der erkennbaren Intention, uns zu unseren Nachtquartieren zu führen. „Sekunde, halt, wir müssen noch was holen!“, hält sie aber ausgerechnet der Kleinste von uns dreien auf. „Dann aber schnell!“, lautet die freundliche aber doch bestimmte Antwort und wenige Sekunden später ist Giacomo auch schon durch die Türe des kleinen Vorraumes verschwunden.
„Sind hier etwa alle ausgeflogen?“, bemüht sich der BND-Agent nun um etwas Smalltalk. Seine Bemühungen scheinen Erfolg zu haben, denn die Antwort erhält er prompt von der jungen Forscherin: „Haha, schön wäre es. Die Stahltüren dämmen nur, in der Halle herrscht nach wie vor derselbe rege Betrieb wie heute Mittag, manchmal denke ich, meine Kollegen brauchen gar keinen Schlaf.“
„Oh ja, das kenne ich, bei unserer Analytikern denke ich manchmal auch, die ernähren sich nur von Koffein und Leuchtstoffröhren-Licht. Aber gute Arbeit leisten sie, das muss man ihnen lassen“, fährt Freelancer fort. Die Forscherin antwortet ihm aber nun nicht mehr sondern stellt stattdessen eine Frage: „Ja, wo bleibt der Kleine denn? Ist der wieder zurückgereist, oder was?“
„Ich schau mal schnell nach“, sage ich und verschwinde ebenfalls in den kleinen Aufenthaltsraum aus welchem Giacomo nicht zurückgekommen ist. Dieser kniet auf dem Boden und schaut unter den Tisch, über seiner Hose schaut wie es mittlerweile selbstverständlich geworden ist, die wellige Oberseite seiner Windel heraus. „Ich finde sie nicht!“, informiert mich der Windelträger über den Grund seiner Abwesenheit. „Hm, vielleicht hat die irgendwer mitgenommen und die liegt jetzt wo anders. Aber egal, wir sollten jetzt wieder zum Agenten und der Frau gehen, nicht dass die noch sauer auf uns werden …“, antworte ich nachdenklich.
„Ok, von mir aus“, erklärt sich Giacomo einverstanden: „Wie Schaaaaaade, dann muss ich wohl leider noch über Nacht in der Pampi die ich jetzt anhab bleiben!“, fügt er mit viel Ironie erfreut hinzu.
„Oder wir machen die einfach ab und du gehst auf Toilette“, lautet meine Antwort.
„Das würdest du mir antun? Du Mooonster!“, spielt Giacomo den Entrüsteten. Unser witziges Gespräch wird allerdings jäh dadurch unterbrochen dass wir wieder bei den beiden Erwachsenen ankommen. Kurz darauf setzen wir unseren Weg fort, gehen durch die schweren Stahltüren in die große Halle, wo uns wie von der Forscherin prophezeit erneut eine mannigfaltige Geräuschkulisse entgegenschlägt. Zu unser aller Verwunderung gehen wir allerdings schnurstracks durch die Halle durch und auf der anderen Seite wieder ins Freie, wo wir auf einem Bahnsteig landen. An eben diesem Bahnsteig stehen mehrere blaue Eisenbahnwaggons, 25 Meter lang mit wenigen Fenstern in der Mitte und einem „TEN“-Logo an der Außenseite. Trans Europa Nacht, ehemalige Europäische Schlafwagen. „Fahren wir jetzt mit dem Zug?“, fragt Giacomo erstaunt.
„Nein, der Zug, also die Waggons da, das ist euer Nachtquartier. Das sind alte Schlafwagen, ziemlich bequem sogar, die stehen hier für Gäste unserer Abteilung. Der Clou dabei ist der ehemalige Kanzlerwagen am vorderen Ende des Zuges, der ist nämlich teilweise abhörsicher und ganz praktisch für die ganzen offiziellen Gespräche. Auch wenn wir Forscher im Forschungszentrum übernachten, schlafen wir in einem der Abteile“, erklärt sie uns, während die die Tür zum mittleren Waggon öffnet. Kurze Zeit später besteigen wir nach und nach die Treppenstufen ins Wageninnere und befinden uns kurz darauf im Flur neben den Abteilen.
„Boah, geil!“, weiß Giacomo nur zu sagen und mit einem „Jaaa!“, kann ich ihm da nur zustimmen. Wohl eine der besten Unterkünfte, die es für zwei Zugfans wie mich und Giacomo wohl gibt.
„Schön, dass es euch gefällt! Noch herrscht freie Abteilwahl, nur das erste Abteil ist belegt, von eurer Mutter übrigens. Naja, wie dem auch sei, meine Kollegen brauchen mich!“, instruiert uns die junge Frau, dreht sich auf ihren Absätzen um und geht wieder aus dem Wagen heraus: „Achja, bevor ich es vergesse: Steckdosen sind natürlich vorhanden, Wlan gibt es auch und die Toiletten sind hinter der Tür zum Hauptgebäude direkt rechts, die im Zug funktionieren leider nicht.“ Kaum hat sie ihren Satz beendet, ist sie auch schon durch die Drehfalttüren verschwunden.
„Machts gut, Jungs, ich leg mich jetzt mal hin. Immerhin muss ich morgen wieder die Welt retten“, verabschiedet sich auch Freelancer ebenfalls von uns, lässt es sich aber nicht nehmen, uns beiden kurz durch unsere Haare zu wuscheln. Ich bin mir nicht ganz sicher ob ich das mögen soll, immerhin macht man so etwas eigentlich nur bei Kindern und irgendwie fände ich es besser wenn er mich stattdessen ernst nehmen würde. Bevor ich allerdings Widerstand leisten kann, ist Freelancer auch schon in Kabine Nummer drei verschwunden und ich streiche mir meine Haare wieder in die gewünschte Position.
„Hi Mama!“, höre ich Giacomo rufen, dessen erster Gang scheinbar in die Kabine meiner Mutter führte. „Guten Abend, mein kleiner Knuddelbär!“, weiß diese nur zu erwidern. Mein Bruder lässt sich neben das Kopfende des Bettes in welches unsere Mutter sich bereits hingelegt hat, fallen, ich verbleibe in sicherer Entfernung an der Türschwelle angelehnt. Moment, habe ich Giacomo grade ernsthaft als meinen Bruder bezeichnet?
„Achja, und guten Abend, mein großer Knuddelbär!“, fügt meine Mutter noch hinzu, als sie auch mich erblickt. „Abend“, lautet daraufhin meine nüchterne Antwort.
„Und ihr wart nochmal bei uns zu Hause?“, fängt meine Mutter an, uns auszufragen. Giacomo scheint recht gesprächsbereit zu sein: „Ja! Und rate mal wie! Mit dem Hubschrauber!“
„Wirklich?“ fragt meine Mutter erstaunt und misstrauisch. „Ja, der ist vom Forschungszentrum abgehoben und hat uns zum Militärflughafen gebracht. Von dort aus sind wir in einem Einsatzwagenkonvoi zu uns nach Hause gefahren, die haben da ein riesen Ablenkungsmanöver gestartet“, fange ich an, meiner Mutter von unseren heutigen Erlebnissen zu erzählen, bis dann irgendwann Giacomo übernimmt. Als ich anschließend ohne Aufgabe immer noch im Türrahmen lehne, fange ich an, mich im kleinen Schlafwagenabteil umzuschauen. Zwei Betten hängen übereinander an der Wand, von der eines allerdings aktuell noch als Rückenlehne für das andere fungiert, beide sind also als Sofa zusammengeschoben, und das, obwohl meine Mutter das untere Bett eigentlich schon als Bett benutzt. Aber nun ja, egal, das eigentlich wichtige fällt mir erst auf, nachdem ich meinen Blick von den Hochbetten gelöst habe: Die Einkaufstüte! Sieht so aus, als würde Giacomo doch noch eine neue Nachtwindel bekommen. Oder nicht?
„Ja, das wars. Man, war das aufregend!“, beendet Giacomo unseren Vortrag. „Ich geh schon mal rüber, ok?“, informiere ich die zwei Plaudertaschen, schultere meinen Rucksack wieder und nehme die Klamottentasche in eine freie Hand. „Ich komm mit!“, entschließt sich auch Giacomo, noch bevor dieser allerdings aufstehen kann, wird er durch die Hand meiner Mutter in seinen Haaren gestoppt, zum zweiten Mal in geschätzt zehn Minuten. „Was haben nur alle mit meinen Haaren?“, weiß er dazu nur zu fragen und steht schließlich doch auf, nicht ohne sich davor allerdings noch einmal von seiner Mutter umarmen und auf seinen Windelpo klopfen zu lassen. Erneut eine Szene, bei welcher ich mir das Grinsen und Staunen nicht verkneifen kann, als wäre das für die beiden schon immer so gewesen. Merkwürdiges Zeugs.
„Is was?“ scheint auch Giaco meine Verdutztheit zu bemerken. „Ach, nix“, lautet meine Antwort während ich die Tür zu Kabine Nummer zwei öffne und meinen Rucksack auf die Ablagefläche links des Fensters lege. Währenddessen ist Giacomo damit beschäftigt, sich halb quer und halb längs auf die aus den beiden Betten gebildete Couch zu werfen, seine Schuhe mit jeweils dem anderen Fuß abzustreifen, sich seine Jacke auszuziehen und zu Gähnen. „Müde?“
„Höchstens ein bisschen! Aber lass bitte noch nicht schlafen gehen! Können wir noch einen Film schauen davor? Biiiitte! Ich zieh mir auch davor den Schlafanzug an und mach mich bettfertig!“
„Hey hey hey hey, ich bin nicht deine Mutter! Von mir aus gerne“, antworte ich Giacomo beschwichtigend während dieser bereits dabei ist, seinen neuen Bärchenschlafanzug aus der Klamottentüte herauszukramen. „Und was sollen wir schauen?“
„Was für Filme hast du denn auf deinem Laptop?“, fragt Giacomo zurück während er sein T-Shirt auszieht und gegen das langärmlige Schlafanzugoberteil tauscht.
„Auf meinem Laptop hab ich nur selbstgemachte, aber die könnten wir echt auch schauen. Aber ne, wir sind im Jahr 2014. Video on Demand ist aktuell ein ganz heißer scheiß, Videostreaming, Online-Videotheken. Also sowas wie Youtube, nur halt mit richtigen Filmen und Serien. Kostet meist einen zweistelligen Beitrag im Jahr, so flatratemäßig. Und das Beste: Die Serien sind da komplett ohne Werbeunterbrechung.“, interessant, das ist doch so eine Sache welche man für komplett selbstverständlich hält, die aber doch ein bedeutender Unterschied ist zum Jahre 2007. Während ich Giacomo von meinem Amazon-Prime-Konto vorschwärme, ziehe ich meinen Laptop aus dem Rucksack und klappe ihn auf der Ablagefläche auf.
„Und was wollen wir da schauen?“, fragt Giacomo während er den Reißverschluss seiner Jeans aufmacht, selbige herunterzieht und so seine Windel zum Vorschein kommen lässt.
„Hm, wie wärs denn mit …“, überlege ich: „iCarly! Kennst du ja, oder?“ Währenddessen greife ich an die Tastatur meines Laptops, um selbigen ins Wlan einzuloggen, ohne Internet keine Videos, das ist wohl die Kehrseite der Medaille. Hm. „Schlafwagenabenteuer“, so lautet der Name des Wlans, zumindest ist es das einzige welches hier in der Umgebung zu funken scheint. Allerdings will es ein Passwort, und ein Passwort ist mir keines bekannt.
„Au ja, iCarly wäre super! Das lief früher immer auf Nick!“, lautet Giacomos Antwort während ich damit beschäftigt bin, den Wlan-Schlüssel herauszufinden. Einfach ausprobieren wird hier wohl keine Lösung sein. Ob die Wissenschaftlerin eben einfach vergessen hat, uns den Schlüssel mitzuteilen? Ob ich mal nebenan beim BND nachfragen soll, die werden den Schlüssel wohl bestimmt auftreiben können? Nachdenklich gehe ich ein paar Schritte durch das kleine Abteil bis ich bemerke, dass das Wlanpasswort auf dem kleinen rechteckigen Flyer steht, welcher unter meinem Laptop liegt. Kurz darauf ist mein Laptop wieder mit dem Internet verbunden, Amazon im Internet Explorer gestartet und die erste Folge der ersten Staffel von iCarly, einer von Nickelodeon seit 2006 produzierten Kinder- und Jugendserie.
„Man, du siehst echt aus wie so ein Sechsjähriger in dem Schlafanzug!“, zwinkere ich Giacomo zu während ich mich neben ihn auf das Bettsofa fallen lasse. Mit seinem engen Schlafanzug, der Wölbung welche seine nasse Windel in seinem Schritt verursacht und seinen zerwuschelten Haaren sieht Giacomo wirklich sehr viel jünger aus, als er eigentlich ist. Während die Serienfolge langsam in Fahrt kommt, versuchen Giacomo und Ich, es uns irgendwie gemütlich zu machen. Nachdem wir die Heizung aufgedreht haben, Giacomo seine Füße auf das Bett hochgezogen hat und wir eine der Stoffdecken über uns gelegt haben, hört auch das Gewusel in unserem Abteil langsam auf und eine Art Ruhe kehrt ein, gestört allerdings durch die mehr oder weniger hysterischen Stimmen der Seriencharaktere.
„Man, war das ein Tag heute …“, stellt Giacomo murmelnd fest, während er seinen Kopf in Ermangelung einer Kopfstütze auf meiner Schulter ablegt.
„Ja, aber hallo! Hubschrauberflug, Klamottenkauf, Forschungszentrum, Kai, Reinraumlabor, oh Mann“, stimme ich zu während ich Giacomos Schulter streichele und hauptsächlich damit beschäftigt bin, das Seriengeschehen zu verfolgen. Mann, war das ein Tag denke ich und lehne meinen Kopf an der Holzwand an, mittlerweile werde ich doch ziemlich müde.
„S…Sag mal, angenommen ich würde Groß müssen …“, fragt Giacomo leise, während der Film noch läuft und sofort bin ich nicht mehr müde.
„Die Toiletten sind im Gebäude.“, sage ich, während ich zu ihm rüber schaue und bemerke, dass auch seine Aufmerksamkeit nicht mehr der Serie gilt, sondern unserem von ihm grade initiierten Gespräch, und wie sollte es anders sein, seiner Windel. Diese sticht sichtbar aus dem recht eng geschnittenen Schlafanzug heraus und spannt eben diesen im Schritt sichtbar ein bisschen auf. Schon ein witziges Bild. Wie ein Kleinkind, nur hochskaliert.
Glücklicherweise lässt sich mit Giacomo aber besser reden als mit einem Kleinkind: „Ja, stimmt“, gibt Er mir recht, schließt den Mund am Ende aber nicht, so als würde er noch etwas sagen wollen: „Aber die sind doch doof.“
„Toiletten?“
„Genau.“
„Lass mich raten, du …“, frage ich Giacomo.
Auf einmal wirkt Giacomo recht entschlossen, mehr noch, er wirkt beinahe so, als würde er sich seine Forderung nicht grade erst jetzt einfallen lassen: „Wozu hab ich denn ne Windel an? Ich geh nicht auf Toilette! Nie mehr!“
„Nie mehr?“, frage ich skeptisch.
„Jap.“
„Und was ist in der Schule? Da hatten wir doch überlegt …“
„Nö“, äußert sich ein ziemlich kompromissloser Giacomo
„Nö?“
„Nö“, bestätigt Giacomo, kramt sich aus seiner Decke heraus, steht auf, stellt sich Kerzengrade ins Abteil hin und legt seine linke Hand auf sein Herz: „Hiermit schwöre ich, dass ich, zumindest bis ich zwölf bin, nie wieder eine Toilette benutzen werde!“
„Echt jetzt? Oh Mann“
„Waaas?“, fragt mich Giacomo verwirrt.
„Das wäre aber jetzt echt sehr unpraktisch.“
„Auf Toilette gehen ist unpraktisch! Keine Ahnung, wieso du das machst!“
„Ich würde jetzt nicht unbedingt sagen dass eine volle Windel so sonderlich praktisch wäre.“, halte ich dagegen.
„Naja, beim Wickeln nicht, davor aber die ganze Zeit. Ich müsste dann jetzt nicht auf Toilette gehen, sondern wir könnten einfach weiterschauen!“
„Ja gut, dafür haben wir nachher einen dritten Weltkrieg in deiner Windel …“
„Hä?“, fragt Giacomo welcher meine Anspielung scheinbar nicht ganz verstanden hat.
„Das war eine Hyperbel! Also eine Übertreibung, ich meinte halt, dann ist da eine Sauerei drin. Hey, ich weiß ja, dass du das echt magst, aber meinst du nicht, du könntest warten, bis wir aus dem Forschungszentrum raus sind damit?“
„Ach, das ist doch doof!“, lautet Giacos eindeutige Reaktion während er sich wieder, diesmal mit verschränkten Armen, auf das Bett fallen lässt.
„Naja, aber ich würde ehrlich gesagt nicht sagen, dass die Alternative jetzt hier besser wäre.“, sage ich vorsichtig. Felix davon abzubringen in seine Windel zu machen ist eine Operation welche ebenso kritisch ist wie das Entschärfen einer Atombombe.
Felix sieht dies scheinbar anders: „Wäre sie wohl!“
„Naja, gut. Ja. Aber das Saubermachen nachher … Das dauert doch auch wieder so lange, vorallem ohne Dusche, du weißt wie das ist.“
„Hm“, weiß Giacomo nur zu sagen während er mit dem Touchpad den Mauszeiger auf das große, graue Pausensymbol navigiert und die Serienfolge anhält. Recht hat er, denn dieser wurde in der letzten Minute nur verschwindend wenig Aufmerksamkeit zuteil.
Ein Ass habe ich noch im Ärmel: „Und überleg mal, wenn du jetzt groß in deine Pampers machst, dann musst du dich ja nachher wickeln. Wenn du das aber nicht machst, kannst du in der noch bis morgen bleiben.“ Ein Schlagkräftiges Argument, wie ich finde, hoffentlich sieht Felix das genauso.
„Na von mir aus. Aber das ist das letzte Mal!“, lässt er mich wissen, kurz bevor er sich langsam reckt, nach vorne beugt und die Wiedergabe wieder anschaltet: „Ich geh dann auf Toilette, wenn der Film fertig ist, ok?“
„Klaro, solange du dir nicht davor in die Hoste machst!“
„Windel!“, werde ich lautstark verbessert.
„Wo du recht hast … Aber jetzt pscht! Film gucken ich will!“ Nach diesen Worten kehrt langsam wieder Stille im Abteilraum ein, ich lasse meinen Kopf wieder gegen die Holzaußenwand sinken und fange an, mir Gedanken über das von mir eben Gesagte zu machen. Ich halte Giacomo davon ab, in die Windeln zu machen. Kann ich das mit mir selbst vereinbaren?
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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