Zweite Chance (1) – Kapitel 19
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Kapitel 19 – Francesco
„So, fertig“, sage ich bemerkenswert nüchtern als ich in Badehose heraus aus der provisorischen Umkleidekabine trete: „Aber ich müsste da noch was wegwerfen …“, füge ich zögerlicher hinzu. Die Windel, die Ich in den letzten Stunden anhatte, liegt ja noch zusammengeklebt auf dem Kleidungstapel im Nebenraum und wartet darauf, weggeworfen zu werden, was ich mangels Mülleimer leider noch nicht erledigen konnte.
„Ach, das ist egal, lass das einfach da liegen, das macht nachher schon irgendwer“, bekomme ich nur als Antwort. Ob der mir antwortende bärtige Mann weiß, um was es geht? Naja, seis drum, dann lass ich die Pampi halt einfach da liegen, denke ich und nähere mich mit mehr oder weniger entschlossenen Schritten dem Tank. „Jetzt einfach da rein?“, frage ich Ismael erneut aus Unsicherheit, was dieser mir aber nur mit einem Nicken bestätigt. Mein mulmiges Gefühl verstärkt sich, als ich vor dem natogrünen, eckigen Stahltank stehe und Kabel mit Klebepads an meinen Kopf und Körper geklebt bekomme. Wie bekommt man einen Giacomo in einen Wassertank? Klappe auf, Giacomo rein, Klappe zu. Und so kommt, was kommen muss und ein paar Augenblicke später liege ich auch schon im angenehm warmen Wasser des dunklen Tanks und schwebe auf selbigem.
„Und jetzt?“, frage ich in den Tank hinein.
„Hallo Giacomo“, antwortet mir Kais Stimme und hallt dabei durch den gesamten Tank: „Du befindest dich jetzt grade in einem sogenannten „Relaxation Tank“. Alles in Ordnung?“
„So in Ordnung, wie es einem halt gehen kann in einem stockdunklen, mit Wasser gefülltem Tank. Erwähnte ich die Kabel an mir?“, antworte ich schnippisch. Aber ja, so ganz gemütlich ist meine momentane Situation nun nicht wirklich.
„Naja, gut. Also, du musst jetzt wohl noch ein paar Minuten in der Dunkelheit warten, versuche dich dabei soweit zu entspannen wie möglich, immerhin sind wir hier in einem Ausruhtank, oder wie auch immer man das auf Deutsch nennen würde. Ich melde mich dann nachher wieder, warte also einfach nur auf meine Stimme.“
Interessant. Ausruhen? Hm, leichter gesagt als getan. Müde bin ich zumindest gar nicht, aber gut, ich kann es ja mal mit ruhiger Atmung probieren. Hörbar atme ich durch den Mund ein und aus und werde mir dabei ein letztes Mal dem Unterschied zwischen meinem Körper und dem vom Felix bewusst, während ich merke, wie selbst das Atemgeräusch etwas Kindliches an sich hat.
„So. Hallo Giacomo. Wir sind jetzt so weit bereit. Falls du es noch nicht getan haben solltest, schließe jetzt bitte die Augen und entspanne dich, wir gehen jetzt auf eine Reise“, befiehlt mir die viel eindringlicher und präsenter wirkende Stimme von Kai schließlich: „Du wirst jetzt gleich an einem anderen Ort aufwachen“, informiert die Stimme mich und löst dabei ein gespanntes Herzklopfen bei mir aus. Die dunkle leere meiner geschlossenen Augen weicht tatsächlich und ersetzt sich langsam und dann auf einmal ganz plötzlich durch eine Straße. Ich wache auf.
Wo bin ich hier? Ich spüre kalten Teer unter mir, ich liege tatsächlich auf einer Straße. Links und rechts ist die Straße gesäumt von alten, hochgewachsenen Bäumen, dahinter Kornfelder. Etwas in der Ferne sind Häuser zu erkennen. Kein Zweifel, ich bin in der Straße vor meinem Zuhause. Sehr real fühlt sich das Ganze an, ein wenig kalt ist es und so verschränke ich meine Arme in der Hoffnung, dadurch etwas Hitze zu generieren. Kein Wunder das mir kalt ist, immerhin stehe ich hier auch nur im Hemd, bemerke ich, als ich an mir runter schaue. Was aber noch viel bemerkenswerter ist, meine Arme sind behaart! Nicht, dass das jetzt sonderlich ungewöhnlich wäre, aber verglichen mit dem Armen, die in den letzten Stunden an meinen Schultern dranhingen schon etwas besonderes. Auch der Rest meines Körpers, die braunen, ausgelatschten Nike-Turnschuhe und das zugeknöpfte hellblaue Hemd lassen kein Zweifel, ich bin scheinbar wieder der große Giacomo.
„Giacomo!“, ruft auf einmal eine vertraute Jungenstimme von hinten, eine Stimme, welche ich auf Anhieb zuordnen kann: „Felix!“ antworte ich euphorisch und drehe mich um. Vor mir steht er wieder, ein für sein Alter ziemlich kleiner, braunhaariger Elfjähriger mit braunen Klettverschlussschuhen und einem weißen T-Shirt mit gelben Ringen. Lange steht er allerdings nicht vor mir, denn nur Sekundenbruchteile später ist sein braunhaariger Kopf schon auf Höhe meiner Brust und die dazugehörigen Arme umarmen mich. Kurz tue ich es ihm gleich, wenn auch nicht so intensiv, immerhin möchte ich den Kleinen nicht ersticken: „Da bist du ja wieder!“
„Ja und du auch!“, gibt der Angesprochene lächelnd zurück während auch er seine Umarmung langsam wieder lockert. „Was das hier wohl grade ist?“, fragt er mich.
„Was?“
„Na das hier. Ja, das ist der Weg vor unserem Haus, aber ich meine, vor ein paar Minuten war ich doch noch in diesem Minischwimmbecken und vor allem noch in deinem Körper und jetzt bin ich wieder ich“, präzisiert er sich.
„Tja, gute Frage“, gebe ich meinem jüngeren Gegenüber ratlos als Antwort zurück.
Unterbrochen werden wir nun recht plötzlich erneut von Kais Stimme, welche diesmal nur aus meinem rechten Ohr kommt: „Das ist sozusagen euer Unterbewusstsein, gespickt mit euren Erinnerungen. Wo seid ihr? Vermutlich seid ihr an einem euch sehr gut bekannten Ort. Könnt ihr versuchen, das ganze Zeitlich einzuordnen?“
„Cool!“, antwortet Felix und fasst sich dabei an das schwarze, kleine bluetoothheadsetartige Ding an
seinem Ohr, welches ich scheinbar auch anhabe. Interessant, scheinbar unsere Kommunikationsmöglichkeit mit Kai und damit mit der Außenwelt.
„Also, wir sind bei uns im Dorf, ganz in der Nähe von unserem Zuhause. Die zeitliche Einordnung? Hm. Die Garagen da vorne stehen noch nicht und die Häuser gegenüber von unserem auch nur teilweise“, stelle ich beim Umschauen fest.
„Ok, dann geht doch mal bitte näher ran, also an euer Haus und schaut euch dort einmal um“, antwortet uns Kai nachdenklich über das Funkheadset und kurz darauf setzten Felix und ich uns auch schon in Bewegung. Freudig springt ersterer mehr durch die Gegend als das er läuft, wenigstens einer scheint sich zu freuen, das er seinen Körper wiederhat. Naja, wirklich wieder hat er ihn ja nicht glaube ich, das ganze hier ist ja nicht real, oder täusche ich mich da?
„Die Garagen wurden gebaut als ich noch in der Grundschule war, ich glaub, da war ich in der dritten oder vierten Klasse“, stellt Felix fest nachdem er mit herum hüpfen fertig ist.
„Das wäre dann vor 2006, ok“, antwortet uns Kai, während ich nur ein leises: „Stimmt“ erwidern kann. Während wir weiter die Allee entlang schreiten, bemerke ich so langsam eine andere Person welche von links auf die Kreuzung auf welche auch wir grade zulaufen, zugeht: „Da ist wer!“, bemerke ich und ernte ein aufgeregtes: „Wo?“ von Felix.
„Aus Richtung Grundschule, da beim Park? Siehst du sie?“, frage ich ihn. „Ja. Wer ist das?“, fragt klein Giacomo zurück und kneift seine Augen zu: „Sieht nicht besonders groß aus.“
„Tust du auch nicht!“, antworte ich schnippisch zurück, die Sticheleien zwischen mir und dem Kleinen habe ich ja fast schon vermisst!
„Na und? Ist doch viel cooler so!“, antwortet mir dieser trocken und erntet dafür nur meine stille Zustimmung, da muss ich ihm wohl oder übel recht geben, klein sein hat definitiv seine Vorteile. Aber seit wann wissen Kinder so etwas? Gut, Felix hatte ja auch exklusive Einblicke in die Welt eines fast-Erwachsenen, vielleicht liegt das daran.
„Ein Kind, glaube ich“, sage ich nun, als wir der Person näher kommen und ich den neongelben Schulranzen auf dessen Rücken erblicke.
„Könnt ihr es identifizieren?“, fragt uns Kai per magischem Headset: „Ihr braucht keine Angst zu haben, irgendwie Aufsehen zu erregen, ihr bewegt euch in eurer Erinnerung, das ist so wie bei Ebenezer Scrooge, ihr könnt ihn sehen, er euch aber nicht.
„Echt jetzt?“, fragt Felix erstaunt und ruft laut: „Hallo!“. Keine Reaktion, das einzige was wir hören ist ein kurzes Lachen von Kai: „Ihr könnt mir ruhig glauben, was ich hier sage!“
„Sind wir jetzt Spione oder was?“, fragt sich Felix nun. „Ich würde ja sagen!“, erhält er von mir als Antwort und lässt sich das nicht zweimal sagen sondern läuft aufgeregt in Richtung Kreuzung und versteckt sich schließlich hinter einer der großen Eichen.
„Uns kann niemand sehen!“, erinnere ich Giacomo noch einmal während ich langsam und bestimmt auf der Mitte der Straße entlang schreite.
„Das ist aber viel geiler so!“, raunt mir mein kleiner Bruder zu. Hm, irgendwie hat er da Recht.
Kurz darauf finde ich mich hinter dem Baum auf der anderen Straßenseite wieder: „Kai, können wir mit den Headsets eigentlich auch untereinander kommunizieren? Also ich mit Felix?“
„Die Dinger können alles, was ihr euch für sie ausdenken könnt, also ja, definitiv“, antwortet er mir nach kurzem Zögern. Praktisch, sowas brauche ich auch unbedingt.
„G1 an G2, hörst du mich?“
„Huch, ja.“
„Siehst du schon was?“
„Negativ, Zielobjekt ist noch nicht da“, antwortet mir die Kinderstimme in mein Ohr. Ich drehe mich zur anderen Seite des Baumes um in der Hoffnung, dort einen genaueren Blick zu erhaschen. Ich sehe den Schulranzen, einen blauen Scout-Grundschulranzen mit Applikationen in Neongelb, im Formel-1-Design. So einen hatte ich auch mal. Getragen wird er von einem kleinen Jungen, noch kleiner als Felix, welcher ansonsten eine grüne Jacke und eine blaue Jeans anhat. braune Haare, blaue Schuhe. Kenne ich den nicht?
„G1 an G2, was siehst du jetzt?“
„Zielobjekt wird vom Baum verdeckt, bitte warten“, bekomme ich als hastige Antwort zurück. Kurz herrscht Stille, der Junge entfernt sich wieder von mir während er langsam über die Kreuzung schlurft.
„Ohaaaaa!“, brüllt Felix auf einmal am anderen Ende der Leitung: „Wir sind die Zielperson!“
„Was, hä?“, frage ich nur verwirrt während ich hinter dem Baum hervorkomme.
„Die Zielperson ist Ich, beziehungsweise du, also früher. Als Grundschüler, keine Ahnung, so acht Jahre alt oder so“, klärt mich Felix aufgeregt auf während ich zu seinem Baum laufe um mir das unglaubliche mit eigenen Augen ansehen zu können: „Ja! Man oh Man!“
Ist das jetzt wirklich mein Ernst? Jetzt stehe ich hier hinter einem Baum neben einer jüngeren Ausgabe von mir selbst und was machen wir? Beobachten eine weitere jüngere Ausgabe von mir selbst. Bin ich echt so selbstbezogen?
„Ja, das war zu erwarten“, klärt uns Kai durch unseren Ohrknopf auf: „Immerhin handelt es sich hierbei um eine Erinnerung von euch beiden, da müsst ihr selbst ja zwangsläufig drin vorkommen. Könnt ihr ihm bitte folgen?“
„G2 hat verstanden, nehmen Verfolgung auf“, antwortet Felix vergnügt und wagt sich vorsichtig aus seinem vollkommen überflüssigen Versteck. Ich folge ihm und wir beide folgen uns, also dem noch kleineren Giacomo. Wäre der nicht G3? Ok, nennen wir ihn G3. Aber dann ist bitte auch mal Schluss mit den ganzen Giacomos, ok?
Immer näher kommen wir unserem Zuhause. Auf dem Parkplatz stehen, wie es sich für einen Parkplatz gehört, Autos. In Wirklichkeit ist der Parkplatz vor unserem Mietshaus scheinbar ein Habitat für Audi A4 Avants, immerhin gleich drei parken normalerweise dort, ergänzt noch durch einen A3 und einen völlig aus jedem Muster fallenden Pickup von Chevrolet. In dieser Erinnerung allerdings verhält es sich anders, zwar ist unser Parkplatz wie fast immer leer, auf den übrigen Parkplätzen finden sich aber ein noch recht frisch aussehender Peugeot 206, ein Audi 80 sowie ein kleiner Nissan. Ziemlich lang her scheint diese Erinnerung zu sein, zumindest für mich, weniger für Felix. Auch die Straße vor unserem Haus ist noch mehr ein von Kies gesäumter Asphaltfeldweg als die moderne, zu einem Neubaugebiet passende Spielstraße die heute vor unserem Haus verläuft.
Für Felix allerdings eher gewohnt als die große, ebene Asphaltfläche die er gestern vor unserem Haus vorgefunden hat. Mir wird bewusst, dass diese Erinnerung näher an Felix liegt, als meine heutige Lebenswirklichkeit, erstaunlich. Ob das Ganze normal für ihn vorkommt? Wie gut er sich wohl in den ganz kleinen Giacomo herein versetzen könnte? Zumindest mir fällt das wohl ziemlich schwer, zu viel unterscheidet sein Leben von meinem. Auch Felix bemerkt meine trüben Gedanken: „Is was?“
„Naja, schon irgendwie merkwürdig das Ganze hier“, antworte ich ihm schnell und glücklicherweise vergisst Felix mein mulmiges Gefühl auch schnell wieder als es darum geht, dem nano-Giacomo in unser Haus zu folgen, den immerhin ist der Treppenhauseingang durch eine Türe gesichert. Kurz bevor selbige nämlich wieder in ihr Schloss fliegt, schafft es Felix nämlich durch einen Hechtsprung, einen seiner beiden kleinen Füße zwischen Tür und Wand zu stellen.
„Der Giacomo ist ins Haus reingegangen, sollen wir ihm folgen, Kai?“, frage ich. „Ja, bitte“, antwortet dieser gelassen. Ich muss sagen, die ruhige Stimme von Kai ist wirklich der ideale Begleiter für eine Reise in die eigene Erinnerung. Wir folgen unserem kleinen Counterpart ins Treppenhaus und stehen anschließend unschlüssig im Flur unserer Wohnung herum während die Wohnungstüre knallen zufliegt und sich G3 in sein Kinderzimmer verzieht. Auf erneute Anweisung von Kai folgen wir ihm auch dorthinein.
„Oaaaaaaaah, mein Kinderzimmer!“ spricht Felix das aus, was ich denke, nur mit dem Unterschied, dass das Zimmer in welchem wir grade stehen bis auf Kleinigkeiten wirklich dasselbe ist wie seines, sich aber nicht einmal mehr die Mauern mit meinem aktuellen Jugendzimmer teilt. Wir stellen uns in die Ecke unters Hochbett um möglichst viel des Zimmers überblicken zu können während sich der Erinnerungsgiacomo freudig und scheinbar ohne Sorgen auf den Autoteppich stürzt und eine beige Plastikautokiste hervorkramt, die beinahe Größer ist als er selbst.
„Das ist mein Zimmer!“, sagt Felix nun nachdenklich und streicht am Holz des Hochbettes entlang: „Fast alles so wie vorvorgestern, nur die Stereoanlage fehlt. Ok, und die Heftordner auf der Fensterbank, aber die waren eh doof“, dann wird er noch etwas leiser: „Schau dir den mal an, der wirkt so fröhlich!“
Da muss ich ihm, wie schon gesagt, zustimmen. Verglichen mit mir und auch verglichen mit Felix wirkt dieser noch kleineren Giacomo so unbeschwert wie er dort spielt. Ich wünschte, ich könnte je wieder so unbeschwert sein wie er, aber zu viele Ereignisse aus meiner Vergangenheit halten mich davon ab. Auch wenn zwischen 2007 und 2014 kein Weltkrieg oder dergleichen passiert ist sind doch im Privaten einige Ereignisse aufgetreten, die mich doch verändert haben, alleine all die Leute, die gestorben sind. Verdammt, es wäre einfacher, die, die noch leben aufzuzählen! Bei diesem Gedanken kommen mir überraschenderweise ein paar Tränen, glücklicherweise steht Felix aber grade vor mir und sieht sie nicht, immerhin will ich ihn ja nicht auch noch mit meiner Stimmung herunterziehen.
Auch er hat in den letzten Jahren seines Lebens schon einiges erleben müssen und wenn man ihn so vergleicht mit dem kleinen Jungen auf dem Autoteppich da, merkt man den Unterschied schon. Irgendwie macht es mich traurig, so vor Augen geführt zu bekommen, das doch auch dem kleinen Felix innerlich etwas fehlt und das auch er nicht mehr die ihm wünschenswerte, kindliche, seelische Unversehrtheit genießen kann. In den letzten Jahren hat er es ziemlich schwer gehabt, schon immer hatte er den Eindruck, das seine Familie irgendwie nicht so toll ist wie die anderen. Offensichtliche Details wie den niedrigen Lebensstandard, die alten Autos, die Vergleichsweise kleinen Geschenke haben ihm schon früh den Unterschied zu seiner Familie und denen seiner Freunde vor Augen geführt. Was allerdings für ihn immer viel schlimmer war, war die Unsicherheit, die Unsicherheit der Eltern. Wieso denke ich eigentlich grade in der dritten Person von mir selbst? Aber irgendwie ist das leichter, bleiben wir dabei.
Er ist ja in einem kleinen Dorf aufgewachsen, mit katholischer Kirche, Dorfgemeinschaft, Dorfgrunschule, Schützenverein und all sowas, als Kind von zugezogenen Eltern welche ihre Wurzeln ursprünglich in Italien und zur anderen Hälfte auf der halben Welt verstreut hatten. Schon früh hat er gespürt, dass sich seine Eltern im Vergleich zu den anderen überhaupt nicht auskannten, keinen Einfluss hatten und ihn auch nicht wirklich beschützen konnten. Eigentlich schon immer war er ein lohnenswertes Ziel für Mobbingattacken gewesen, auch als es den Anglizismus „Mobbing“ noch gar nicht gab und das Ganze noch ganz einfach „Ärgern“ genannt wurde. Andere Kinder hatten große Geschwister oder Eltern die es für die anderen, die Frühreifen, unmöglich machte, sie anzugreifen, doch Felix hatte das nicht. Und irgendwie lief auch sonst ziemlich viel schief, er hatte den Eindruck, dass seine Eltern irgendwie gar nichts schaffen und war besorgt, ob sie nicht vielleicht sogar seine Einschulung verpassen würden. Soweit kam es glücklicherweise dann doch nicht und die ersten Jahre der Schule waren eigentlich sehr schön, immerhin konnte der dauerinteressierte, aufgeweckte Geist des kleinen Jungens nun endlich zeigen, was er so alles draufhat. Das schützende Dach seiner Familie wurde allerdings zusehends kleiner, sein Vater wurde immer kranker, bald kam sogar ein ambulanter Pflegedienst regelmäßig zu Hause vorbei und seine Mutter ertrank in der Flut der übrigbleibenden Aufgaben.
Irgendwann, zwei Tage nach Neujahr war es dann so weit, er war noch bei seiner Oma als ihm seine Mutter Abends die Nachricht überbrachte, sein Vater sei tot. Mit dem absolut bemerkenswerten Ungeschick, die Nachricht in den Worten „Es geht ihm jetzt viel besser als vorher“ einzuleiten, was bei ihm erst einmal die Hoffnung, seinem Vater ginge es wieder gut und seine Familie würde nun endlich normal werden, auslöste. Wenige Momente später spürte er dann das Gefühl als hätte sich eine Falltür geöffnet und er würde Kilometerweit in schwarze Leere fallen, der Boden wurde ihm unter den Füßen weggezogen. Hätte er in diesem Moment nicht auf einem Sessel gesessen wüsste er wohl ganz genau, wie sich Leute fühlen, die bei Schocknachrichten einfach umkippen.
Eine ganze Person, dann auch noch eine so wichtige, einfach weg? Sein Vater war eigentlich immer der gelassene gewesen, der Kumpelhafte, wohingegen seine Mutter oft auf ihren Erziehungsauftrag bedacht war und aufgrund des ganzen Stresses, der auf ihr lastete auch oft dazu neigte, zu schimpfen. Wenn er nachts mal wieder nicht einschlafen konnte und dann irgendwann am späten Abend an der Wohnzimmertüre auftauchte war es beispielsweise meist seit Vater, der sich erbarmte und sich zu ihm ins Bett legte um seinem Sohn ein sicheres Einschlafen zu ermöglichen während seine Mutter auf dem Standpunkt „Der Junge muss das lernen!“, verblieb.
Diese Person war plötzlich einfach weg und alles wurde noch komplizierter. Seine Mutter verkaufte das Auto da sie es sich nicht zutraute, selbst zu fahren, im Dorf schauten ihn plötzlich alle anders an und zeitgleich kam auch noch der Wechsel von der kleinen Dorfschule mit 15 Kindern in einer Klasse auf das größte Gymnasium im ganzen Regierungsbezirk.
Die nächsten Jahre wurden nicht einfach für ihn, ging er doch mit dem Ziel: „Das Gymnasium ist ein Neuanfang für mich, hier kann ich einer von den coolen werden!“ auf diese Schule, wo sich dieses Ziel so fürchterlich ins Gegenteil umkehrte. Als wir in der zehnten Klasse in Englisch als Schullektüre „About that boy“ gelesen haben, stach ein Satz für mich besonders aus den Zeilen heraus, „I think I’m just not made for schools, at least not for higher classes!“ („Ich denke, ich bin einfach nicht für höhere Klassen gemacht“), womit der Siebtklässler kommentierte, wieso er immer der Außenseiter auf allen weiterführenden Schulen, auf denen landete, wurde. Die nächsten Jahre waren dann wohl so etwas wie die Hölle für ihn. Die Hölle, in die er als Neunjähriger kam und die dann viele Jahre später ich als harter Teenager verlassen sollte. Irgendwann war meine Kindheit endlich zu Ende, ich wurde ruhiger, konnte Aufgaben übernehmen die bisher im Haushalt niemand übernommen hatte, die ganze Situation vereinfachte sich, die Welt war nicht mehr so böse und ich nicht mehr auf eine schützende Familie angewiesen. Zugegeben, die letzten Jahre waren auch nicht grade unschwer, aber immerhin kann ich mittlerweile von mir erzählen, einen Amoklauf überlebt zu haben. Und hey, das macht die statistische Wahrscheinlichkeit bei einem Amoklauf zu sterben ja wohl extrem viel kleiner, oder? Ich bin mittlerweile erstarkt, aber doch irgendwie auch gezeichnet aus dieser Lebensphase herausgewachsen, Felix hingegen wurde dort gnädig und plötzlich herausgerissen. Ob ich es verhindern kann, das er so wird wie ich? Halt warte, ist es schlecht, wie ich zu sein? Im Nachhinein wünsche ich mir eine fröhliche Kindheit, eine behütete, ohne große Sorgen, die Kindheit die G3 grade zumindest teilweise zu haben scheint.
Es hat sich doch so viel geändert in letzter Zeit, wäre ich nicht in der Lage, Felix eine schöne Kindheit zu ermöglichen? Ohne die ganzen Sorgen und nicht als totaler Außenseiter, sondern als fröhliches Spielkind? Eine zweite Chance für den Kleinen, eine zweite Chance für eine glückliche Kindheit?
„Was ist denn?“, fragt mich Giacomo auf einmal erschrocken.
„Hm?“, frage ich verwirrt. Fuck, ich heule ja. Oh. Jetzt schnell, Ausrede suchen! Wie sagt meine Mutter immer, ich hab nur was im Auge? Ne, diese Ausrede ist wohl denkbar schlecht.
„Sorry, das sind nur Erinnerungen“, sage ich leise und erhalte dafür erneut eine feste Umarmung von Felix. Wenn er mir dabei nur nicht jedes Mal die Luft abschneiden würde! Wäre nicht eigentlich er derjenige, der eine Umarmung verdient hätte?
„So, wir sind fertig“, antwortet Kai plötzlich über den Knopf in unseren Ohren.
„Hä? Wir haben doch gar nichts gemacht!“, gebe ich verstört zurück.
„Doch, euer Bewusstsein hat sich von wieder gereinigt laut unseren Instrumenten. Kann gut sein, dass ihr das nicht gemerkt habt oder es euch nicht auffällt, das kann zum Beispiel alleine schon durch intensives Nachdenken passieren. Wie dem auch sei, wir beginnen jetzt gleich damit, euch wieder in die Wirklichkeit zu holen, das wird aber, damit es geordnet passiert, noch ein paar Minuten dauern“
„Yeah, Erfolg!“, ruft Felix euphorisch und gibt mir einen Highfive und auch ich bin schon ein bisschen froh, hier gleich weg zu sein und dann gleich wieder in meinem Körper aufzuwachen und vor allem froh, dass auch Felix gleich wieder in seinem Körper aufwachen können wird. Endlich wieder normal, also so normal wie es mit einem kleinen Zeitreisenden in der Familie nun mal so ist.
„Und jetzt?“, frage ich nachdenklich, immer noch in den Raum starrend. Bevor Felix nun ratlos mit den Schultern zucken kann, höre ich, wie draußen ein Auto auf den Parkplatz fährt. Ein blauer VW-Polo-Kombi, schon älter und leicht dreckig. So einen, wie mein Vater fuhr, verdammt!
„Kai!“, rufe ich aufgeregt in das Headset: „Wie lange dauert das jetzt noch? Geht das auch schneller?“
„Noch etwa sieben Minuten. Schneller? Nein, ich fürchte nicht, alles Schnellere wäre zusätzlich gefährlich. Wieso, ist denn etwas?“
Ich drehe mich besorgt zu Felix herum, er hat scheinbar noch nichts bemerkt, ich hingegen zucke beim Zuknallen der Autotür schreckhaft zusammen. Wie es wohl ist, dem eigenen Vater gegenüber zu stehen, den man so lange nicht mehr gesehen hat, ohne mit ihm reden zu können?
Seltsamerweise eine eher schaurige Vorstellung für mich, erst recht mit dem Hintergedanken, dass alles grade erlebte nur dem Unterbewusstsein von mir und Felix entspringt.
„Giacomo, ich bin wieder daaaaa-haaa!“, hallt es auf einmal durch den Flur und schlagartig ändert sich auch die Mimik auf meinem und Felix’ Gesicht. Obwohl wir uns beide Bewusst sind, das mit „Giacomo“ nicht wir gemeint sind hört sich dieser Satz mit dieser Stimme doch so vertraut und zugleich so merkwürdig an. Instinktiv stelle ich mich leicht vor Felix, so als gelte es, ihn zu beschützten.
„Kai, wie lange? Mein Vater ist grade nach Hause gekommen und das ist echt merkwürdig“, antworte ich Kai mit stotternder Stimme die sich noch dazu beim Sprechen mehrmals überschlägt.
„Viereinhalb Minuten. Der Horizont müsste bald anfangen, sich aufzulösen. Haltet durch, geht aber nicht aus dem Raum raus. Und denkt bitte dran, ihr könnt das Geschehen nicht beeinflussen und mit den Personen nicht interagieren“, bekommen wir als Antwort, zusätzlich beunruhigend ist jetzt aber die Tatsache, dass auch Kai mittlerweile aufgeregt zu sein scheint.
„Papa!“, ruft der kleine Giacomo auf dem Autoteppich währenddessen erfreut zurück und ich drehe mich besorgt zu Felix um. Wann habe ich dieses Wort zu Letzt in den Mund genommen? Das ist ein halbes Leben her. Genauso ungewohnt scheint dieses Wort auch für Felix‘ Ohren zu klingen, auch er flüstert leise „Papa“, so als wolle er schauen, ob er dieses Wort denn überhaupt noch aussprechen könnte. Ratlos lege ich einen Arm um seine Schulter und streichle ihn kurz: „Du musst keine Angst haben, wie Kai gesagt hat.“ Überzeugend ist dieser Satz aber weder für mich noch für ihn.
Während wir beide immer noch zusammengekauert in der Ecke stehen, geht langsam die mit über und über mit Aufklebern verzierte Zimmertür auf und die Person, die mir und Felix solche Sorgen bereitet, betritt das Zimmer. Größer als ich, mit proportional gesehen genauso breiten Schultern wie ich, etwas dunkleren Haaren und denselben Augen.
„Na, und wie war die Schule?“, fragt er den kleinen Giacomo nachdem dieser ihm in die Arme gesprungen ist. „Och, ganz gut, ist witzig jetzt in der zweiten Klasse!“, antwortet der Angesprochene ihm. Gut, hätten wir auch den Zeitpunkt recht genau geklärt, immerhin war ich nur ein Vierteljahr in der zweiten Klasse. Besagter Giacomo ist also sieben Jahre alt, wir schreiben das Jahr 2003. Schröder ist noch Kanzler, Facebook gibt es noch nicht. Ich versuche, mich mit meinen Gedanken in Nichtigkeiten zu verlieren um von er Szene nicht zu sehr berührt zu werden, bis mir jedoch einfällt, dass neben mir noch Felix steht. „Ich bin echt stolz auf dich!“, antwortet mein Vater währenddessen dem kleinen nicht vaterlosen Giacomo.
„Krass, oder?“, frage ich Felix.
„Ja“, antwortet er nur.
Bevor ich es schaffe, Felix mit einem Gespräch abzulenken, starren mich die Augen meines Vaters an. Erst mich, dann Felix, dann wieder mich.
„Kai? Er sieht uns!“
„Das kann nicht sein. Das ist vollkommen unmöglich, er schaut nur zufällig in deine Richtung“, antwortet diesmal Ismael mit bestimmter Stimme: „Noch vier Minuten!“, fügt er hinzu.
„Na dann geh dir mal schön deine kleinen Pfötchen waschen, ich hab Pizza mitgebracht!“, sagt mein Vater zu dem kleinen Zweitklässler worauf dieser kurz darauf Richtung Bad läuft. Mein Vater bleibt allerdings im Zimmer, wieder schaut er uns an.
„Er sieht uns.“, informiere ich das Kontrollzentrum in der Realität erneut.
„Nein Giacomo, das kann nicht sein“, lautet allerdings die Antwort. Den zweiten Teil der Antwort bekomme ich gar nicht mehr mit, denn Ismael wird übertönt von der Stimme meines Vaters: „Wie geht es euch?“
Meint er uns? Ich greife nach Felix Hand und halte sie fest, so als würde ich ihm sagen wollen, das ich auch noch da bin um ihn zu beschützen. Vor was auch immer. Zumindest ich fühle mich grade ziemlich unbehaglich.
„W…wir?“, fragt Felix nun.
„Seht ihr hier sonst noch wen?“, fragt der Italiener und geht auf uns zu. Felix weicht einen Schritt zurück
„Nicht näherkommen bitte!“, lautet seine ängstliche Antwort. Inzwischen habe ich beide Arme um seinen Körper gelegt und stehe hinter ihm.
„Aber ich bin dein Vater!“, gibt selbiger verwundert zurück.
„Ja“, wimmert Felix und auch mir ist nicht anders zumute. Felix streckt eine Hand nach seinem Vater aus und selbiger kommt ihm näher.
„Na mein kleiner? Du bist aber ganz schön groß geworden“, sagt dieser.
„Verdammt was macht ihr da?“, brüllt Ismael in die Kopfhörer: „Egal was ihr macht, macht das nicht!“
Selbiges scheint Felix aber nicht zu hören, denn seine Hand hört nicht auf und greift stattdessen nach der Hand meines Vaters. Einen Sekundenbruchteil scheint alles stillzustehen, dann allerdings fängt mein Vater an zu husten.
Er scheint keine Luft zu bekommen, kurz darauf tauchen Blutflecken auf seiner Jeans auf. Schnell ziehe ich Felix zu mir und halte ihm Augen und Ohren zu. Der Kopf meines Vaters knallt laut auf das Parkett, Felix und auch ich können es uns nicht nehmen, laut zu schreien. Scheiße!
„Wir haben ihn“, ist das nächste, was ich einen Augenblick später höre. Ich sehe die Kabel die von den Elektroden an meinem Körper wegführen, spüre das Salzwasser an meinem Körper. Ich zittere, aber ich bin wieder in der Realität, ich bin wieder ich. Mein nächster Blick geht nach links zum anderen Tank, dort, wo ich Felix vermute.
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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