Zweite Chance (1) – Kapitel 12
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Kapitel 12 – Evakuierung
Nachdem mich Giacomo aus dem Raum der merkwürdigen Psychologin abgeholt hat, trommelt er meine Mutter und schlussendlich auch noch Thomas zusammen und überzeugt uns alle durch wiederholtes Äußern seines Wunsches, nun doch endlich mal zu Abend zu essen: „Ich hab Hunger! Wollen wir nicht zu Abendessen? Bitte? Wollen wir? Hm?“ Allerdings muss ich zugeben, dass ich mittlerweile ebenfalls recht hungrig bin.
Ein paar Minuten später befinden wir uns deswegen zu viert auf einem der unter den hohen Bäumen auf dem Gelände verlaufenden Betonwegen, trotz Giacomos Einwänden zu Fuß und nicht mit dem Auto, auf dem Weg zum Restaurant in der Mitte des Forschungszentrums. Meine Mutter und Thomas gehen recht schnellen Schrittes voran, gefolgt von Giacomo, welcher mal langsam geht und mit seinem Kopf nachdenklich in Richtung Boden schaut, mal in den Wald abbiegt und Stöcke sucht und dann wieder schnell läuft um meine Mutter und Thomas einzuholen.
„Wie lange bleiben wir jetzt eigentlich hier?“ fragt er mich nach ein paar hundert Metern.
„Hm, also bis morgen auf jeden Fall, ich glaube mal, auch länger. Aber genau? Keine Ahnung. Ich hab eben, achja! Das weißt du ja noch gar nicht!“, antworte ich, bis mir auffällt, dass Giacomo ja noch nicht weiß, dass er jetzt wirklich Felix heißt, und scheinbar Schweizer ist.
„Hm, was?“ werde ich darauf hin interessiert gefragt. Giacomos Neugier ist nicht grade schwer zu wecken, die weckt sich im Normalfall eigentlich schon fast von selbst.
„Ja, ich und meine Mutter haben heute mit zwei Agenten gesprochen, also quasi so richtige Geheimagenten, wie im Film. Die haben dir eine Tarnidentität besorgt, wie im Film, du kommst angeblich aus der Schweiz …“, beginne ich aufgeregt von meinem kurzen, einschüchternden Gespräch mit den beiden Herren und den Informationen die ich von meiner Mutter bekommen habe, zu erzählen. Das Detail was mir der dominante Agent erzählt hat, Giacomo solle in einer Forschungseinrichtung bleiben, lasse ich dabei allerdings weg.
So weit werde ich es nicht kommen lassen. Bevor ich allerdings richtig in Fahrt komme und Giacomo von den angeblichen, bisherigen elf Jahren seines Lebens erzählen kann, werde ich von selbigem bereits unterbrochen. Auf seinem Mund liegt ein dickes Grinsen, er schaut mich herausfordernd an.
„Was heißt hier angeblich, ich komme aus der Schweiz!“ Sagt er fast so, als würde er mir die Zunge dabei herausstrecken, was er allerdings nicht tut.
„Nö? Du kommst aus NRW, Kleiner! Da verfüge ich über gesicherte Informationen!“ antworte ich allerdings, während ich Giacomo auf dem Kopf tätschele um zu zeigen, dass ich seine Aussage nicht ernst nehme. Das scheint ihn allerdings erst recht anzuspornen.
„Doch, klar! Ich komme aus Kreuzlingen, Kanton Thurgau, ganz in der Nähe von Konstanz, am Bodensee. Fast schon direkt in Deutschland, deshalb wohnen auch ziemlich viele Deutsche in der Stadt, zum Beispiel meine Mutter, Erika, nunja, sie wohnte. Ist ganz schön da, ne kleine Stadt eigentlich, der Bodensee, kennst du den, der ist da direkt dran“, informiert Giacomo mich über sein angebliches bisheriges Leben.
„Ach so, die haben also auch schon mit dir geredet?“
„Wovon redest du?“
„Du willst mich wohl verarschen?“
Giacomo piekt mir mit seinen Fingern in meinen Bauch, nickt, sagt „Ja!“ und rennt nach vorne weg. Das Unvermeidliche passiert, eine Verfolgungsjagd entwickelt sich. Zum Fangen spielen ist man nie zu alt! Entgegen meiner Erwartungen habe ich Giacomo nicht schon nach ein paar Sekunden erwischt, trotz meiner altersbedingt längeren Beine. Im Gegenteil, in einer Kurve lege ich mich dank meiner mittlerweile recht profillosen Schuhe hin, wodurch Giacomo weiteren Vorsprung gewinnt.
Glücklicherweise läuft er aber instinktiv in die richtige Richtung, und so stehen Giacomo und Ich schon fast am See, als ich ihm endlich nahe komme.
„Haaaaa!“ ist aus meinem Mund bestimmt noch zehn Meter weiter zu hören, als ich Giacomo von hinten packe, hochhebe und anfange ihn durchzukitzeln. „Höööör auuuuf!“, bettelt Giacomo sogleich.
„Ja, gut.“ Sage ich, höre auf, fange dann aber ruckartig wieder an: „Nein, warte, halt! Wieso sollte ich?“, entscheide mich aber abermals plötzlich um, und setzte Giaco nun endgültig wieder auf seine eigenen kleinen Füße: „Aber gut, ok. Von mir aus.“
Nachdem diese kurze Eskapade beendet ist, laufen wir beide zur Abwechslung einmal wie zivilisierte Mitteleuropäer die letzten Meter zur Kantine, allerdings nicht ohne das einer von uns ein Gespräch anfangen würde: „Man, ist das hier groß!“, bringt Giacomo hervor nachdem er sich von der Kitzelattacke und dem Sprint erholt hat.
„Ja, das ist wie so eine kleine Stadt, fehlt eigentlich nur noch ein Souvenirshop, dann wäre das hier eine echte Touristenattraktion! Aber ne, Spaß bei Seite, das ist schon imposant, was es hier alles gibt, die ganzen verschiedenen Forschungseinrichtungen zum Beispiel, den Reinraum, eine eigene Bahnstation, es gibt sogar eine eigene Buslinie im Gelände hier, vielleicht sehen wir die gleich mal!“, beginne ich, über das mir von einem Praktikum vor ein paar Jahren noch gut bekannte Forschungszentrum zu schwärmen.
Auch Giacomo ist sichtlich begeistert: „Eine eigene Buslinie? Hm, das ist wohl echt super! Aber wieso gehen wir dann noch zu Fuß?“
„Fangen spielen im Bus geht schlecht, oder?“, gebe ich als scherzhafte, lapidare Antwort zurück, während Giacomo und ich nebeneinander durch eine der großen Flügeltüren die Kantine betreten. Ohne große Umschweife führe ich Giacomo nach rechts zum reichhaltigen Buffet. So reichhaltig wie es ist, müsste es für uns beide aber gar nicht sein, die Tofu-Burger, die Chinesischen Nudeln, das gesamte Gemüse sowie die meisten der anderen tausend Speisen lassen wir links liegen, und nehmen uns beide einen Teller mit Pommes und einem saftigen, industriell gezüchteten Schnitzel. Natürlich nicht, ohne die Ketchup- und Mayonaisespender mit dem „Heinz“-Aufdruck ausgiebig zu benutzen.
Bevor wir diesen fettigen Gaumenschmaus allerdings essen können, sind wir aber leider gezwungen, auf unsere Mutter zu warten, umsonst ist das Essen hier leider nicht. Aber auch die beiden Vertreter der nicht-digitalen Generation treffen nicht lange Zeit nach uns ein, füllen ihr Tablett jeweils mit komischem Grünzeug und bezahlen anschließend für uns alle mit der Forschungszentrums-Chipkarte. Kurz darauf sitzen wir an einem Vierertisch mit Blick auf den kleinen künstlichen See und essen.
„Und du kommst aus der Schweiz?“, bemüht sich Thomas sichtlich, ein Gespräch anzufangen da von unserer Seite ein gefräßiges Schweigen herrscht und erhält von Giacomo sogleich eine nicht weniger gefräßige, aber schüchterne Antwort: „Ja“, welche von meiner Mutter mal wieder mit einem: „Also eigentlich spricht man ja nicht mit vollem Mund!“ quittiert wird. Vermutlich ist es der Gegenwart von Thomas geschuldet, dass Felixgiacomo nun weder die Zunge heraus streckt, noch eine andere freche Bemerkung von sich gibt. Mittlerweile hat er hörbar die von seinen Zähnen zu Kartoffelbrei verarbeiteten Pommes heruntergeschluckt und scheint mit sich zu hadern, ob er Thomas noch mehr antwortet, oder nicht.
Er scheint kurz zu mir und seiner Mutter zu schauen, und öffnet dann seinen Mund: „Ist eigentlich fast wie in Deutschland, da wo ich herkomme. Kein Wunder, ist ja auch fast in Deutschland. Am Bodensee, in der Nähe von Konstanz, da wohn ich“, sprudelt es auf einmal aus ihm heraus. Lügen fällt Giacomo nicht schwer, da unterscheidet er sich wenig von mir, aber trotzdem wird seine Unsicherheit deutlich, welche aber eher an Thomas, also der Gegenwart eines Fremden liegt.
Diese Gegenwart hält allerdings auch nicht mehr sehr lange an, denn als Giacomo sein Essen grade beendet hat, wir anderen drei also folglich grade einmal die Hälfte unserer Mahlzeit zu uns genommen haben, betreten Kai und zwei Anzugträger die bis auf uns und ein paar andere Forscher mittlerweile fast leere Kantine. Schnurstracks gehen sie auf unseren Tisch zu und nehmen meine Mutter kurz zur Seite, was das Interesse von sowohl mir, Felix als auch Thomas weckt: „Was ist denn so wichtig, dass die den ganzen Weg hierher kommen und uns während dem Essen stören?“, fragt der Freund meiner Mutter diskret nach dem Grund für unseren Aufenthalt.
Ich überlege, mir schnell eine Lüge einfallen zu lassen als Antwort, komme von diesem Gedanken aber ebenso schnell wieder ab, da mir bewusst wird, das es gut möglich ist, dass meine Mutter den Aufenthalt im Forschungszentrum heute mit einer ganz anderen Lüge erklärt hat. Und da die beste Lüge immer noch die Wahrheit ist, entschließe ich mich nach einer sekundenbruchteilkleinen Denkpause, einfach mit der Wahrheit zu antworten: „Ja, weißt du, Felix ist eigentlich ein Zeitreisender …“, sage ich, schaue, während ich das sage prüfend zu dem kleinen Zeitreisenden herüber und hoffe, dass er versteht, dass ich meine Aussage Ironisch meine. Tut er.
„Ach! So! Deshalb sieht der so exakt aus wie du? Er ist du! Hallo Giacomo!“, lautet die etwas lautere, lachende Antwort von Thomas, welcher sich zum Ende seines Satzes in Felix Richtung lehnt. Ich hoffe, dass Felix mitspielt. Tut er.
„Was, ich bin Giacomo?“, fragt Giacomo gespielt entrüstet, und piekst mich an, als wäre ich ein Versuchsobjekt: „Der da? Wirklich? Bäääh!“
„Ja, also, ähm!“, bringe ich sarkastisch-entrüstet von mir, und piekse Giacomo wieder einmal in die Seite, woraufhin er zusammenzuckt und kichert. Auch Thomas lacht über Felixs Konter. Ob ich in seinem Alter auch so frech war? Bestimmt nicht!
„Das ist aber nicht möglich. Jedenfalls nicht, ohne dass hier im Universum etwas groß nicht stimmt. Wisst ihr, wenn Du Giacomo wärst, dann dürfte Giacomo, also er“, führt Thomas aus und zeigt dabei auf mich: „dann dürfte Giacomo nicht mehr da sein. Denn ihr seid ja nur einmal vorhanden, folglich müsstest du dann ihn ersetzen durch deine Zeitreise, man kann ja schlecht einfach etwas duplizieren durch eine Zeitreise, dann würde doch …“ Thomas wird in seinen wissenschaftlichen Ausführungen jäh durch meine Mutter unterbrochen, welche nun ihn ebenfalls zur Seite nimmt. Wenn das hier so weiter geht, sitze ich bald alleine hier!
„Das war Witzig! Und cool! Wir haben ihn mit der Wahrheit belogen!“, stellt Giacomo nun flüsternd Fest, als wir beide wieder alleine am Tisch sitzen.
„Ja, das klappt wirklich immer, die Wahrheit muss nur skandalös genug sein. Appropos skandalös, man sieht schon wieder deine Pampers hinten rausschauen“, lasse ich Giacomo mal wieder aus allen Wolken fallen was die Bewahrung seines Geheimnisses angeht. Nunja, eines seiner Geheimnisse, die Zeitreise ist wohl auch eines.
Giacomo fasst sich an den Rücken und erfühlt das obere Ende der Pampers: „Stimmt.“ Er schaut zu mir rüber: „Deine auch.“
„Was?“ frage ich, erinnere mich wieder an die Drynites welche ich mir vorhin auf der Toilette angezogen habe: „Echt? Scheiße!“
„Nein! Du hast doch gar keine an …“, antwortet Giacomo lachend, versteht dann aber, was ich gesagt habe, und fragt in einem investigativem Ton: „Oder etwa doch? Du auch? Echt?“
„Ja. Hab mir eben, als du dir auf der Toilette eine neue Pampers angezogen hast eine von deinen Drynites angezogen. Wie ich sagte, die passen mir auch noch, wenn auch nicht mehr ganz so gut.“
„Echt? Cool! Dann bin ich ja gar nicht der einzige!“ bringt Giacomo erfreut als Antwort zurück.
„Ja, Windelbro! Yo, in da hooood!“, antworte ich Giacomo mit gespielten New-Yorker-Rapperslang, wozu ich selbstverständlich meine Hände passend bewege, was in Giacomos Gesicht nur ein verwirrtes Grinsen hervorruft. Ich räuspere kurz, und sage dann etwas ernster, aber noch halb lachend: „Aber mal im Ernst, man sieht deine Pampi immer noch!“
„Naaaaa und?“ antwortet Giacomo daraufhin verwunderlich gelassen, wird dann aber unterbrochen durch Kai, welcher sich gegenüber von uns mit beiden Armen auf den Tisch lehnt.
„Ich hab grade schon mit euren Eltern gesprochen, wir werden heute und morgen euer Haus untersuchen. Da ihr währenddessen dort natürlich nicht wohnen könnt, werdet ihr die nächsten Tage wohl hier bleiben. Wir haben schon einen Schlafplatz für euch organisiert und alles, ich hoffe, ihr verzeiht mir, dass wir euch jetzt ein paar Tage länger hier lassen, fast schon einsperren, aber meine Kollegen drängen total darauf, weitere Untersuchungen durchführen zu dürfen. Ich denke, das wird auch für euch ganz …“, bevor Kai zu Ende geredet hat, wird er durch das Klingeln seines Smartphones unterbrochen: „Scheiße, wer ist das denn wieder?“
Nachdem Kai das sehr kurze Telefonat bei welchem er nahezu nur „Ja“, „Ok“ und „Echt?“ gesagt hatte, beendet hat, dreht er sich hektisch zu uns: „Ok, Planänderung. Ihr kommt doch wieder nach Hause, allerdings nur kurz. Meine Kollegen wollen da was an euch Untersuchen, halt in Verbindung zwischen euch beiden und dem Ort an dem Felix nach seiner Zeitreise angekommen ist, deshalb brauchen sie euch da.“
Wenige Sekunden später öffnet sich die Flügeltüre erneut: „Mittkommen!“, ruft von dort aus der in schnellem Schritt reinlaufende, ältere Mann, der mir vorhin eröffnet hatte, das er Giacomo vielleicht in einem Forschungszentrum behalten werde. Augenblicklich setzen sich die beiden Anzugträger und der Dreitagebart-Mensch in Gang, gefolgt von Kai, Felix und mir. Der jüngere Agent dreht sich auch wieder rum und geht mit der restlichen Gruppe wieder aus der Kantine heraus. Meine Mutter bleibt drinnen und auch der dominante Agent folgt uns nicht nach draußen, was ich bei letzterem durchaus begrüße.
Als wir die Kantine verlassen, sehen wir auf dem Vorplatz zwei weiße SUVs des Werksschutzes, von denen wir heute Mittag schon einem begegnet sind. Bei beiden laufen die Motoren, die Blaulichter rotieren ebenfalls. „Einsteigen, wir haben nicht viel Zeit!“, ruft der jüngere Agent, der mich vor ein paar Stunden im Vorraum des Zeitreisenforschungsgebäudes abgefangen hatte eilig und steigt daraufhin in einen der beiden Wagen ein. Der Rest der Gruppe tut es ihm gleich und verteilt sich dabei auf beide Autos.
Ich und Giacomo sitzen alleine auf der Rückbank des zweiten SUVs und werden leicht in unsere Sitze gedrückt, als die Dieselmotoren der beiden Wagen hörbar aufdrehen und dicht hintereinander durch das Forschungszentrumsgelände düsen. Zu meiner Verwunderung fahren wir allerdings am Haupteingang vorbei. Vorsichtig lehne ich mich nach vorne, halte mich wegen des schnellen Fahrstils dabei an der Lehne des Beifahreres fest und frage den jungen Agenten, der sich an eben dieser Lehne anlehnt: „Müssten wir jetzt nicht da abbiegen?“
„Neinnein, wir fahren nicht Straße. Aber das seht ihr gleich“, lautet dessen Wortkarge Antwort, scheinbar ist er grade damit Beschäftigt sich die Details einer Liste auf seinem Tablet anzusehen. Ich lasse mich wieder in den Sitz fallen, und schaue zu Giacomo welcher sich gespannt im Wagen umschaut und welchem die hektische Fahrweise sichtbar Freude bereitet: „Man, das ist so cool! Wir fahren mit Blaulicht, fehlt eigentlich nur noch die Sirene!“, stellt er fest und schwärmt von der gesamten Situation:
„Ja, aber wirklich! Voll wie in so nem Actionthriller!“ antworte ich, worauf mir Giacomo mit einem langezogen „Jaaaaa!“ zustimmt. Kurz darauf biegen wir noch einmal kurz um eine Ecke, wobei Giacomos Körper gegen meinen geschleudert wird und halten dann abrupt an, vor dem anderen SUV. Wir befinden uns immer noch auf dem Gelände des Forschungszentrums. Aus beiden Wagen steigen alle Insassen aus und laufen nach vorne, zu einem ziemlich großen, blauen Hubschrauber mit der Aufschrift „Bundespolizei“. „Geil!“ ruft auch Felix, springt auf, reißt die Tür auf, fällt beim Aussteigen fast hin und auch ich folge ihm nicht weniger euphorisch. Die Rotoren des Hubschraubers drehen sich noch nicht und so fällt es uns nicht schwer, auf den Hubschrauber zuzulaufen woraufhin wir als einer der letzten die hohe Stufe in den Helikopterinnenraum beschreiten und uns hinsetzen. Wie uns befohlen, schnallen wir uns wie alle anderen an, während sich der vierblättrige Rotor über uns langsam hörbar in Bewegung setzt. Felix und ich schauen schon jetzt gespannt aus dem kleinen Fenster obwohl wir noch nicht einmal in der Luft sind. Innen drin ist der Helikopter recht bequem ausgestattet, es ist gar nicht so laut wie man es aus Filmen kennt, wo sich die Personen im Helikopter nur über Funkgeräte in ihren Helmen verständigen können, im Gegenteil man kann sogar mit einander flüstern: „Dein Shirt ist schon wieder hochgerutscht!“, informiere ich Felix darüber, dass man seine Pampers wieder einmal deutlich sehen kann.
„Ist doch voll egal jetzt! Wir fliegen im Helikopter!“ lautet allerdings Giacomos Antwort, worauf ich Giacomos T-Shirt einfach selbst nach unten ziehe. Da Giacomo allerdings einen eigenen Kopf hat und dieser entgegen meinen Erwartungen nicht auf meinen Kopf hört, zieht er sein Shirt direkt wieder nach oben.
„Duuuu kleiner Dickschädel!“ weiß ich daraufhin nur zu antworten und stupse ihn leicht in Richtung der Außenwand, woraufhin Giacomo versucht mich zu kitzeln wobei er zu meinem Glück allerdings jäh durch das Abheben des Helikopters unterbrochen wird. Wie eben schon im Jeep werden wir in die Sitze gepresst, allerdings nicht in die Lehnen sondern in die Sitzpolster unter uns und spüren dabei, wie der Helikopter immer schneller Höhe gewinnt. Giacomo und Ich pressen unsere Köpfe dicht aneinander gedrängt ans kleine Fenster und schauen auf das Forschungszentrum herab. Alles ist noch recht gut zu erkennen, wir befinden uns aktuell höchstens hundert Meter über dem Boden.
„Hey, schau mal, da ist das Restaurant!“ entdeckt Felix, stellt dann aber fest, dass er mir nicht zeigen kann, wo sein „Da“ ist: „Siehst du‘s?“
„Äh … nö, doch! Ah, da! Ja!“, ist aus meinem von Erstaunen weit geöffneten Mund zu vernehmen: „Schau mal, da unten! Ich glaub, das ist das Gebäude in dem wir heute die ganze Zeit waren! Warte! Da, schau mal, an der schwarzen Limousine, das sind doch Thomas und Mama!“
„Was? Wo?“ fragt Felix und kreist mit seinen Augen über dem immer kleiner werdenden Areal des Forschungszentrums, findet den von mir beschriebenen Fleck aber nicht mehr, da der Hubschrauber ein paar Sekunden nach meiner Sichtung abdreht und in recht schnellem Tempo nach vorne fliegt. Trotzdem blicken wir beide weiterhin unablässig auf die Szenerie, die mir bisher nur von Google Earth bekannt ist. Meine Augen verfolgen den Verlauf des Flusses und einer Regionaleisenbahnlinie daneben und stoßen irgendwann auf die Kleinstadt welche gleichzeitig die Kreisstadt der unter uns vorbeisausenden Umgebung darstellt.
„Fliegt ihr zum ersten Mal in einem Hubschrauber?“ fragt der Mann aus dem SUV uns belustigt. Giacomo und ich schrecken gleichzeitig vom Fenster zurück wegen der unerwarteten Frage, stoßen mit unseren Köpfen zusammen und stöhnen dann gleichzeitig: „Au!“ Scheint witzig zu sein, denn der Agent lacht.
„Ja, ich weiß ja nicht, aber wenn man nicht grade Agent der Bundespolizei ist oder Multimillionär, dann fliegt man als normaler Mensch recht selten mit dem Hubschrauber, wissen sie?“, antworte ich dem Agenten während Giacomo seinen Schädel befühlt.
„Bundesnachrichtendienst! Ich bin doch keiner von der Bundespolizei, seh ich so aus? Ich bin ein richtiger Agent!“ bemüht sich der richtige Agent halbempört um Klarstellung. Mir wird mulmig, dann war der böse, alte Agent vorhin wohl auch vom BND, was heißt, das hier mindestens drei BND-Agenten rumwuseln, wenn meine Mutter von zwei netten BND-Agenten besucht wurde. Vermutlich noch mehr und irgendwie wirkt das bedrohlich. Wenn der alte BND-Agent Giacomo in einem Forschungszentrum behalten will, oder wie er sagte, seine Vorgesetzten, dann hat er dafür vermutlich auch alle nötigen Befugnisse und Macht um genau Dieses zu tun.
„Alles in Ordnung?“ fragt nun auch der Agent in seinem Anzug. Bevor ich eine Antwort geben kann ruft einer der beiden Piloten im Cockpit mir dazwischen: „Achtung, wir landen gleich!“
Kurz darauf ist zu spüren, wie der Hubschrauber langsam wieder absinkt woraufhin ich und Giacomo uns wieder dem Fenster zuwenden. Meine Augen suchen nach meinem Dorf und dem Mietshaus in welchem ich wohne, finden aber keins von beidem.
„Wo landen wir hier eigentlich?“, frage ich verwundert in die Runde, denn allzu bekannt kommt mir die Szenerie vor dem Fenster nicht vor. Wir werden uns doch nicht etwa verflogen haben?
Kurz nachdem meine Frage beantwortet wurde, landen wir auch schon bereits auf dem Militärflughafen der Luftwaffe unweit von meinem Wohnort, einer der beiden Militärflughäfen in der Gegend, die die Ruhe im Garten mit ihren Überschallflugzeugen im Landeanflug besonders gut stören können.
Ein sehr reges Treiben herrscht auf dem Vorfeld, auf der linken Seite des Hubschraubers erstreckt sich ein großes Meer an Einsatzfahrzeugen, ein paar silber-blaue Polizeimercedesse, mehrere Sprinter und Lastwagen mit THW-Aufdruck im selben blau wie der Helikopter, ein paar Zivilwagen ohne und mit Blaulicht. Ein Teil der Forscher, die mit uns an Bord des Helikopters waren, steigen als erstes aus, und laufen herüber zu den Lastwagen, auch Kai gehört zu dieser Gruppe. Ein paar aufgeregt wirkende Männer kommen auf den Hubschrauber zugelaufen, ein Teil von ihnen in Militäruniform, und empfangen den jungen Agenten aus unserem Hubschrauber.
„Die Evakuierung ist bald durch, sollen wir losfahren?“ fragt einer und auch die anderen prasseln mit ausgedruckten Blättern und Worten auf den Agenten ein, als wäre er ein Filmstar: „Mitkommen.“ Das war an uns gerichtet, ungläubig aber hektisch schnallen wir uns ab und springen auf den Betonboden des Luftwaffenstützpunktes. Im Gänsemarsch folgen wir dem jungen Agenten, nicht ohne uns dabei gründlich umzuschauen. Ich ziehe Giacomo wieder einmal sein T-Shirt über die Windel, er ist zu erstaunt von der sich vor uns bildenden Szenerie um es zu bemerken. Hinter uns auf dem Rollfeld ist es ziemlich still grade, umso lauter ist es allerdings vor uns, die leistungsstarken Dieselmotoren der blauen Einsatzwagen dröhnen tief, werden aber noch überschallt von einem lauten Stimmengewirr. Nur langsam dringt die Situation zu mir in meinem Kopf durch. Evakuierung, Technisches Hilfswerk, Militärflughafen.
„Was geht hier ab?“ platzt es ganz undiplomatisch aus mir heraus.
„Tarnung“, bekommen wir hektisch als Antwort, während der Agent schnellen Schrittes weitergeht und Details über den Transport von einigen „Cases“ mit einer Frau in einem blauen Anzug klärt. „Erklär ich euch gleich“, schafft er noch zu sagen, Giacomo und ich schauen uns verdutzt an, sind anschließend aber wieder damit beschäftigt, uns die um uns herumstehenden Einsatzwagen und Leute anzuschauen. „Entschuldigung? Entschuldigung!“ ruft jemand von hinten und will mit einem großen Hubwagen an uns vorbei. Ob er weiß, wer wir sind und was hier vor sich geht? Letzteres wissen wir wohl eben so wenig.
Vor uns schlängelt sich unser BND-Kontaktmann an einem MAN-Lastkraftwagen vorbei und lehnt anschließend seinen Oberkörper durch das Beifahrerfenster in einen weißen VW-Bus mit blauen Streifen. „Steigt schon mal hier ein“, bemüht er sich, uns diesen Befehl möglichst freundlich zu geben, verschwindet dann aber mit wehendem Jackett wieder in der Menschentraube und läuft auf einen Lkw mit weißem Kastenaufbau zu. Still setzten Giacomo und ich uns auf die mittlere Bank im Van. Warte, still? Ich muss doch was sagen, sonst kann ich mir gar nicht cool vorkommen! Aber was?
Kurze Zeit später springt der Agent wieder auf den Beifahrersitz und zwei weitere Herren in Anzughosen und Hemden setzen sich auf die Rückbank des Wagens. Sie haben sich noch nicht ganz festgeschnallt, als der Wagen sich auch schon hinter einem Jeep einordnet und immer schneller werdend das Militärgelände verlässt. Vom mittleren Sitz aus kann ich erkennen, wie der BND-Agent aus seiner linken Tasche ein Digitalfunkgerät herauszieht, ein paar Tasten drückt und selbiges wieder zurücksteckt. „Freelancer an Heros Bonn Einundzwanzig, bitte kommen. Ihr informiert die Feuerwehr vor Ort, dass ihr das Kommando übernehmt, ist das klar? Stellt euch dann in der Seitenstraße auf, wenn ihr da seid und lasst euch einen der Faststreifenwagen hinstellen. Over“, bekommen meine Ohren zu hören. Ach, könnte ich das hier doch nur aufnehmen, das wäre wohl ein sehr cooler Thriller, so spannend, dass sich die Spannung je nach Autor eigentlich sogar gut in einem Buch rüberbringen lassen würde. Mit Felix würde sogar eine Windelgeschichte draus werden. Eine Goldgrube!
Mit etwas Geholper, Blaulicht und Sirene saust unser Konvoi grade über die roten Ampeln einer Bundesstraßenkreuzung, als ich, ohne meinen Blick von dem Fenster zu nehmen, in die Runde frage: „Was ist hier jetzt eigentlich los? Zur Tarnung fahren wir in einem Konvoi mit Blaulicht durch die Straßen und fliegen in einem Hubschrauber?“
„Sag mal, Bernd, wie viel Uhr ist es?“ fragt der Agent mit Rufnamen Freelancer in die hinterste Reihe ohne das ich daraus eine Antwort auf meine Frage schließen kann. „Kurz nach sieben.“
„Wie kurz?“ fragt Freelancer zurück. Bernd hält sich seine silberne Metallarmbanduhr vor seinen Kopf, blinzelt leicht: „Eine Minute und fünfzehn Sekunden CEST.“
„Super. Kleine, sagt mal, welche Frequenz hat euer Lokalradiosender?“ fragt er scheinbar mich und Giacomo. Ich überlege, ob ich auf „Kleiner“ reagieren soll. Ich bin nicht klein! Oder doch? Bevor ich mich allerdings entschließen kann, antwortet bereits Giacomo: „Äääääääh, 92 komma irgendwas ist das, glaube ich.“ Worauf ich mich entschließe, seine Aussage mit „Sieben.“, zu präzisieren, womit die Nachkommastelle gemeint ist. Ich bin nicht klein!
Der Agent schaltet das Radio in der Mittelkonsole des Einsatzwagens ein, worauf hin die aktuellen Lokalnachrichten das Wageninnere durchschallen: „… war Roland Andersen live von der Ausbildungsbörse“, beendet die Radiomoderatorin einen Report, gefolgt von einem Jingle, anschließend fährt sie nach einer kurzen Pause fort: „Ein Schock für alle Iggelheimer: Vor knapp zwei Stunden berichteten aufmerksame Anwohner von einem penetranten Gasgeruch in ihren Häusern. Was zunächst zu einem Routinefall für Feuerwehr und die Stadtwerke klang, entpuppte sich nach einem Anruf des Leitungskontrollzentrums als ein tiefergreifendes Leck im Gasversorgungsnetz des gesamten Ortes. Wegen einem Ausfall von Gasdruckmesssensoren blieb das Leck scheinbar zunächst stundenlang unentdeckt, wodurch mehrere Millionen Liter Gas aus einem Winterspeicher entfließen konnten, ohne das es irgendjemand bemerkte. Wie durch ein Wunder wurde bisher niemand durch eine Explosion verletzt und mittlerweile sind alle Anwohner in der Grundschule und der Turnhalle des ortsansässigen Sportvereins untergebracht. Die Polizei hat das betroffene Gebiet weiträumig abgesperrt. Vor Ort hören sie nun von unserer Exklusivreporterin Mira Hansen.“ „Guten Tag, Sabine …“ Freelancer schaltet das Radio wieder aus während unser Konvoi an einer Straßenkreuzung scharf links abbiegt.
„Ach so. Dieses Gasleck existiert gar nicht und ist ein Vorwand unter welchem das Gebiet um mein Haus herum geräumt wurde? Und die THW-Wagen sind unsere Tarnung, um auf dem Weg in das abgesperrte Gebiet nicht aufzufallen?“
„Exakt. Ich wollte ja eigentlich etwas viel kleineres wie sonst auch, aber die Forscher brauchten ja unbedingt große Lkws zum Transportieren von ihrem Zeug. Für solche Fälle greifen wir dann auf das Technische Hilfswerk als Bundesorganisation in Bonn zurück, ist sehr viel einfacher als mit einer kommunalen Feuerwehr irgendwelche Verschlussachenrichtlinien zu klären. Und jetzt ist ein massives Gasleck unsere Tarnmission, so massiv, dass die Berufsfeuerwehr vor Ort Hilfe beim THW angefordert hat, nur eben, dass die Anforderung direkt zu uns nach Bad Aibling ging und die THW-Leitzentralle nie erreichte. Und so wurden wir sogar gebeten, hier vorbei zu kommen.“
„Krass!“, entfährt es Giacomo, welcher Freelancers Ausführungen scheinbar zumindest teilweise folgen konnte. Auch ich muss zugeben, eine Ausrede für unsere Präsenz, die ich selbst nicht hätte besser inszenieren können. Das Abbremsen unseres Vordermanns weckt uns drei aus unserem Gespräch, wir biegen bereits aus der Hauptstraße in meinem Dorf ab und sausen mit mehr als fünfzig Stundenkilometern weiter auf unsere Wohnung zu, so schnell bin ich hier wirklich noch nie langgefahren. Nach und nach schaltet unser gesamter Einsatzzug seine Sirenen ab, bis man wieder nur noch die Motoren und das Abrollgeräusch der Reifen hört. Kurze Zeit später halten wir bereits Quer auf dem Parkplatz vor dem unter anderem von mir bewohnten Mietshaus und steigen der Reihe nach aus. Man, war das ein cooler, aufregender Höllenritt. Das erste Mal, das ich in einem Hubschrauber und Einsatzwagen mitgefahren bin, allerdings gab es in den letzten zwei Tagen ziemlich viele erste Male von irgendwas. Ob sich Felix in die Hose gemacht hätte, wenn er während der Fahrt keine Windel angehabt hätte? Meine Drynites jedenfalls, ist noch trocken, müssen tue ich mittlerweile allerdings schon.
Mit einem kurzen, leisen „Krrrklack“ wird unsere Mietshaustür aufgehebelt, ohne dass ich die Gelegenheit bekomme, die Herren darüber zu informieren, dass ich einen Schlüssel habe. Bevor auch noch unsere Wohnungstür aufgebrochen wird, schaffe ich es allerdings, zu intervenieren. Ich gehe wie gewohnt wie jeden Tag nach der Schule in die Wohnung herein, nur dass mir ein Pulk von Leuten folgt und sich über den Flur und angrenzende Räume verteilt. Ehe ich mich versehe, sind durch den Flur dicke Kabel verlegt und ein schier endloser Technikhaufen aufgebaut. Recht still stehe ich in einer Ecke des Flures während an mir große schwarze Rollkisten in verschiedensten Formaten vorbeirollen, neben mir drängelt sich ein Mann im weißen Faserschutzanzug, Spiegelreflexkamera und Ringblitz vorbei und fotografiert in meinem Zimmer herum. „Ey, Privatsphäre, du doof!“, überlege ich zu sagen, entscheide mich dann aber dafür, das doch lieber zu lassen.
Kurz darauf werde ich von einem mir unbekannten Schutzoverallmenschen gebeten, in mein Zimmer zu gehen und mich dort ohne etwas zu tun, hinzustellen, sie müssten die Messgeräte kalibrieren. Während ich mich im Laufschritt auf mein Zimmer zubewege, gibt mir Freelancer noch ein Funkgerät mit. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie auf der Hälfte des Flurs eine Plexiglastrennwand aufgestellt wird welche von mehreren Forschern mit Gewebeklebeband abgeklebt wird an den Seiten. Als ich in meinem Zimmer eintreffe, steht dort bereits Felix im Raum herum.
„Weihst du grade die Pampers ein?“, frage ich Giacomo welcher seinen Kopf leicht gesenkt und seine Beine leicht gespreizt hat. Hm, ich müsste auch mal.
„Einweihen? Achwas, eingeweiht ist die doch schon läääängst! Aber jep, hab grad in die Windel gepullert. Ich musste schon die ganze Zeit, aber im Auto war viel zu viel Gepolter …“, bekomme ich als Antwort nach dem Giacomo fertig zu sein scheint.
„So, wir können euch jetzt hören!“, tönt es aus dem Funkgerät.
Hoffentlich ist das „jetzt“ wörtlich gemeint, die Aussagen von Felix waren eben wohl eher weniger für die Öffentlichkeit bestimmt. Hm.
„Hallo, sagt mal was!“, kommt nun aus dem kleinen Lautsprecher des Funkgerätes.
„Lorem Ipsum dolor si amet“, rufe ich in mein Zimmer hinein.
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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