Die neue Mitschülerin (45)
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Kapitel 45: Eine unerwartete Begegnung
Wie erwartet erreichten Anna und Chris das Haus, in dem Patricia wohnte, bevor diese und Pia wieder dort auftauchten. Patricias Mutter öffnete die Tür und bat die beiden herein. Auf die Frage, wie das Treffen mit Annas Mutter gelaufen sei, erhielt sie allerdings keine Antwort. Anna brachte nur ein „Später“ hervor, Chris entschuldigte sich etwas wortreicher, dass Anna das Treffen erstmal verarbeiten müsse. Patricias Mutter nickte verständnisvoll und hielt die beiden nicht auf, als Anna in Richtung Patricias Zimmer vorging. Dort schaute sie sich zunächst unsicher um, ehe sie sich aufs Sofa setzte, auf dem sie vor dem Umzug die ein oder andere Stunde schon gesessen hatte. Kaum hatte Chris sich neben Anna gesetzt, umarmte sie ihn und drückte sich an sich. „Danke, dass du mir hilfst, das durchzustehen“, hauchte sie ihm ins Ohr.
„Das ist doch selbstverständlich. Und außerdem, außer mitzukommen, mache ich ja jetzt auch nicht so viel.“, warf Chris ein.
„Jetzt hör aber auf!“, widersprach Anna, „Das ist schon eine enorme Hilfe. Emotional vor allem. Und außerdem, dein Einwand, dass meine Mutter doch verantwortungsvoll gehandelt hat, ist ja berechtigt. Das hilft mir, andere Perspektiven zu verstehen.“
„Ehm…naja, also…gerne.“, antwortete Chris, der an Annas Körperhaltung erkannte, dass sie gerade nicht weiter reden wollte, sondern den körperlichen Kontakt genießen wollte. So warteten sie noch etwa eine Viertelstunde, ehe es an der Zimmertür klopfte.
„Ja?“, rief Anna durch das Zimmer und die verschlossene Tür. Diese öffnete sich und Patricia betrat den Raum, mit zwei Shoppingtüten in der Hand, dicht gefolgt von Pia, nicht weniger voll bepackt.
„Seltsam, an sein eigenes Zimmer zu klopfen…“, begrüßte Patricia zwei ihrer drei Gäste.
„Sorry.“, gab Anna nur zurück. Schon hatte sich Patricia zu Anna und Chris aufs Sofa gesetzt, die sich mittlerweile voneinander gelöst hatten.
„Wie ist es denn gelaufen? Magst du erzählen?“, fragte Patricia, blickte dabei Anna in die Augen und legte ihre Hand auf Annas Bein.
„Ehrlich gesagt nicht so wirklich. Kurzfassung: Sie hat mich weggegeben, als ich etwa sechs Monate alt war. War der Meinung, sich nicht um mich kümmern zu können. Also, dass sie es nicht schafft und einem Baby nicht gerecht wird.“, antwortete Anna.
„Aber das ist doch gut?“, fragte Patricia und mutmaßte weiter: „Also, ich meine, dass sie sich dessen bewusst war. Bestimmt hat sie das nur zu deinem Besten getan.“
„Naja, weiß nicht. Muss das ganze noch verarbeiten.“, antwortete Anna.
„Schon klar, glaube ich sofort“, erwiderte Patricia, „was wollen wir denn heute noch machen? Sooo alt ist der Tag ja auch noch nicht.“
Ein kurzer Moment des Schweigens und kollektiven Überlegens wurde von Pia unterbrochen: „Gibt’s hier einen Weihnachtsmarkt? Dann könnten wir dorthin.“
„Können wir machen. Ist bestimmt besser als hier einfach herumzusitzen und alles achtfach zu durchdenken“, war Anna die erste, die dem Vorschlag zustimmte, gefolgt von einem Nicken der anderen beiden.
„Dann sollten wir aber vorher noch etwas essen, zumindest eine Kleinigkeit.“, entschied Patricia für die anderen mit. Sie ging voran und nahm ihre Freunde mit in die Küche, wo sie auf ihre Mutter traf und feststellte, dass es eine Chance gab, dass sie sich doch nicht um die Zubereitung von Essbarem kümmern musste.
„Was gibt’s?“, fragte Patricias Mutter und wandte den Blick von dem Topf, in dem sie gerade Suppe zubereitete, zu den vier Teenagern.
„Wir wollten gleich auf den Weihnachtsmarkt und vorher noch was essen.“, antwortete Patricia, „Kochst du genug, dass wir davon was abhaben können?“
„Ich denke, das sollte reichen. Dachte eigentlich, dass wir dann morgen noch davon essen können, aber dann koche ich morgen eben frisch. Oder du hilfst mir dabei.“, bejahte ihre Mutter die Frage und wandte sich an die anderen drei: „Es gibt Kürbissuppe. Dauert noch etwa eine halbe Stunde, schätze ich.“
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Die Teenager entschieden sich, nach dem Essen zu Fuß in die Stadt zu gehen. Gerade, als sie sich im Flur die Schuhe anzogen, hielt Anna plötzlich inne. Wie versteinert stand sie da und fixierte einen Punkt, der für die anderen nichts ausmachbares Interessantes bot.
„Was ist? Alles in Ordnung, Anna?“, fragte Patricia, die diese Situation als erste bemerkte.
„Hm?“, machte Anna, „Was? Ehm…ja, alles in Ordnung…ich dachte nur…“ – Sie stockte. Die anderen drei schauten sie mit erwartungsvollen Augen an.
„Ja?“, machte Patricia.
„Ich…ich…“, zögerte Anna und stotterte dabei.
„Ja?“, machte Patricia erneut.
„Ich…also…ich…würde glaube ich gerne gewickelt gehen…also wenn ihr damit einverstanden seid und nichts dagegen habt“, sagte Anna schüchtern und blickte leicht beschämt zu Boden. Patricia und Chris mussten lachen und beruhigten Anna sofort. Patricia richtete Annas Kopf so, dass sie nicht mehr zu Boden blickte und ermutigte sie: „Ich habe natürlich nichts dagegen. Wenn du das möchtest, dann mach das doch. Hat ja auch sicher seine praktischen Vorteile.“
Lediglich Pia war etwas skeptisch: „Hast du keine Angst, dass man das sieht? Also, nicht falsch verstehen, ich möchte dir das um Gottes Willen nicht verbieten. Aber…weißt du, was ich meine?“
„Wahrscheinlich ja“, schaltete sich allerdings Chris ein, sodass Pia sich zu ihm umdrehte, „aber dafür gibt es ja zum Beispiel einen solchen Wintermantel. Darunter erkennst du ganz sicher nicht, ob jemand eine Windel trägt.“
Das brachte Pia zum Überlegen. Nachdem Anna keine Wiederworte hörte, ging sie zögernd und rückwärts, ohne den Blick von den anderen abzuwenden, bis zur Treppe, ehe sie gegen die unterste Stufe stolperte. Sie drehte sich um, schlich langsam nach oben. Alle drei, die unten warteten, konnten hören, dass sie mit jeder Stufe immer schneller wurde. Wenige Minuten später kam Anna wieder die Treppe herunter. Sie wirkte wie ausgewechselt, tänzelte fast die letzten Stufen entlang. Unten angekommen legte sie eine Pirouette hin und fragte Pia schnippisch: „Und? Sieht man was?“
„Hm…“, versuchte Pia, ernst zu bleiben, musste aber dank Annas Auftritt lachen. Nach einigen Augenblicken fing sie sich wieder und musterte Anna genauer. „Also…schwer zu sagen…ich würde sagen, ja, aber ich kenne ja auch deine Figur und weiß, was ich sehen soll. Das beeinflusst Leute.“, wich sie schließlich der ursprünglichen Frage aus.
„Dann lass mich mal meinen Mantel anziehen, dann sind alle Zweifel beseitigt.“, machte Anna deutlich, dass nun aber wirklich der Aufbruch Richtung Innenstadt und Weihnachtsmarkt anstand. Also verließen die vier, alle dick angezogen, inklusive Schal und Mütze, das Haus. Kaum waren sie außer Sichtweite, holte Pia ihre Zigaretten hervor und bat den anderen beiden Mädchen auch eine an; bei Chris genügte ein kurzer Blick, um zu erkennen, dass hier ein Angebot überflüssig war. Nach dem zweiten Zug wollte Pia ihre Neugier nicht länger zurückhalten und fragte an Anna gewandt: „Warum eigentlich wolltest du nicht ohne Windel auf den Weihnachtsmarkt gehen?“
Vor Schreck über diese Frage verschluckte Anna sich und musste husten. „Pia, nicht Holzhammer. Warn mich doch bitte vor.“, keuchte sie, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte und normal atmen konnte.
„Tschuldigung“, entgegnete Pia, „du musst nicht antworten, wenn du nicht willst.“
„Das ist nicht das Problem. Die Frage kam nur so überraschend“, erklärte Anna, woraufhin Pia etwas erleichtert seufzte. „Also“, fuhr Anna fort, „es ist irgendwie so…ich habe in den letzten Wochen gemerkt, dass es mir irgendwie hilft, abzuschalten. Also eine Windel zu tragen. Es ist so, dass du dann ja praktisch eine Sorge weniger hast, nämlich wann du auf Toilette musst. Ich kann mich zum Beispiel noch mehr in meine Bücher vertiefen oder mich besser auf die Hausaufgaben konzentrieren.“
„Okay…ich glaube, das kann ich sogar nachvollziehen. Wäre manchmal echt praktisch, das zu können. Wobei…fünf Minuten auf den Balkon zu gehen, hilft da auch. Ist ja auch eine kurze Pause.“, antwortete Pia.
„Da ist meine Variante aber definitiv gesünder“, konterte Anna.
„Aber trotzdem immer bei mir schnorren, ist klar“, holte Pia zum Gegenschlag aus.
„Ey. Die hier hast du mir angeboten, schon vergessen?“, entkräftete Anna Pias Argument und hielt ihr die Zigarette in ihren Händen vor die Augen.
„Ja, ok. Hast gewonnen“, gab Pia nach, „aber was ich noch nicht ganz verstanden habe: Warum jetzt? Also worauf musst du dich jetzt konzentrieren?“
„Auf meine Gedanken“, antwortete Anna, als wäre es die offensichtlich einzig schlüssige Antwort auf Pias Frage, „also auch wenn das komisch klingt, da ich mich ja mit euch unterhalte, aber auch jetzt hilft es mir, mich auf das Wesentliche zu fokussieren.“
Daraufhin war es einen Moment ruhig. Pia versuchte, diese Informationen einzuordnen. Bevor sie eine weitere Rückfrage auch nur gedanklich vorformulieren konnte, verkündete Patricia die Ankunft auf dem Weihnachtsmarkt, die die anderen drei ohnehin mitbekommen hatten. Nach kurzer Diskussion, wo es denn hingehen solle, ob direkt zum Glühweinstand oder erst noch etwas „Richtiges“ essen, so Pia mit dem Hinweis auf die Kürbissuppe, einigten sich die vier auf letzteres, nur um dann eine neue Diskussion zu starten, was man denn „Richtiges“ essen solle. Der Konsens fiel schließlich auf Langos, das kriege man schließlich nicht jeden Tag an jeder zweiten Straßenecke. Etwa zwanzig Minuten später hatten die Teenager sich zu einer Glühweinbude durchgekämpft, Patricia und Anna kamen schließlich mit je zwei Bechern zu einem freien Tisch, den Chris und Pia für die Gruppe in Beschlag nahmen. Über Belangloses und Schulisches wurde sich im Laufe des Abends größtenteils ausgetauscht, den eigentlichen Grund, weshalb Anna, Chris und Pia überhaupt gerade in Neuss waren, sprach niemand an. Ohne abzusprechen wollte niemand Anna das Thema aufzwingen und diese wechselte von selbst nicht auf es. Nach der dritten Runde kündigte Patricia an, in Kürze eine Toilette aufsuchen zu wollen und schaute in die Runde. Chris und Pia tranken ihre Tassen leer und folgten. Als Pia Anna erwartungsvoll anschaute, erinnerte diese ihre Freundin: „Ich muss doch nicht. Außerdem kann ich den Tisch freihalten.“
„Ach, stimmt ja. Dann bis gleich.“, verabschiedete sich Pia für den Moment.
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„Verzeihung bitte“, hörte Anna eine Männerstimme sagen, während sie auf ihre Freunde wartete und sich die Zeit mit ihrem Handy vertrieb, gerade allerdings die Augen schloss und sich konzentrierte, genau das zu erledigen, weshalb ihre Freunde sie für den Moment allein ließen, „wahrscheinlich verwechsle ich dich – aber du bist nicht zufällig Anna, oder?“
Anna blickte auf und sah das Gesicht eines jungen Mannes. Braune Haare, braune Augen, Dreitagebart. Einundzwanzig, vielleicht zweiundzwanzig. Er kam ihr seltsam bekannt vor, konnte aber nicht einordnen, woher. In ihrer alten Jahrgangsstufe war er ziemlich sicher nicht und wieso ein älterer Schüler ihren Namen kennen sollte, wusste sie nicht. Also antwortete sie ehrlich, sie wollte herausfinden, wer ihr da in weiblicher Begleitung gegenüberstand. „Ehm…doch?“, fragte sie mit betonter Unsicherheit in der Stimme.
„Verzeihung“, sagte der Fremde erneut, „wahrscheinlich hast du keine Ahnung wer ich bin…“
„Nicht wirklich“, unterbrach Anna ihn.
„Ich bin Oliver. Jan hat mir mal Fotos von ihm und dir gezeigt.“, erklärte der Fremde.
Anna brauchte einen Moment, ehe sie realisierte, wer da vor ihr stand: „Hm? Oh…ja, jetzt weiß ich auch, woher mir dein Gesicht bekannt vor kommt. Das ist ja unerwartet. Und schön, dich endlich mal kennenzulernen!“
„Das kann ich nur zurückgeben“, entgegnete Oliver, „unglaublich, dass das noch nicht passiert ist. Ach, das ist übrigens Lena. Eine Schulfreundin, die zur Ausbildung nach Neuss gezogen ist.“ Bei diesen Worten deutete er auf die Begleitung, die bisher kein Wort gesagt hatte.
„Ehm…hi. Ich bin wie gesagt Anna.“, stellte Anna sich erneut vor.
„Die Schwester von deinem Freund, oder hab ich da was falsch im Kopf?“, fragte Lena an Oliver gerichtet.
„Hast du nicht. Wobei…“ – er brach ab und sah Anna unsicher an. Als hätten sie sich schon lange gekannt, genügte Olivers Blick, um zu verstehen.
„Ja, das ist möglicherweise etwas schwierig.“, fügte Anna hinzu.
„Bist du…deswegen hier? Also in Neuss?“, fragte Oliver. Anna nickte.
„Allein?“, bohrte Oliver weiter nach.
„Ne, meine Freunde, die mich begleiten, sind gerade auf Mission Toilettenwagen suchen.“, erklärte Anna.
„Ah, verstehe, dann hältst du hier die Stellung?“, schlussfolgerte Oliver. Anna nickte erneut.
„Ich verstehe nicht“, mischte sich Lena ein, „was ist warum etwas schwierig? Also wenn ich fragen darf…“
„Schon ok. Ich hab letzte Woche herausgefunden, dass ich adoptiert wurde…“, begann Anna wie selbstverständlich, musste allerdings schlucken, als ihr das zweitletzte Wort über die Lippen kam. Es fühlte sich immer noch nicht ganz richtig an, das ganze auszusprechen. Verstärkt wurde das von einem seltsamen Gefühl, versehentlich ein Geheimnis ausgeplaudert zu haben. Hilfesuchend blickte sie in der Gegend herum. Oliver erkannte das und ergänzte: „Also, von dem, was Jan mir erzählt hat, ist Anna quasi Hals über Kopf nach Neuss gefahren, um ihre leibliche Mutter kennenzulernen. Und weil Jan nicht adoptiert ist, ist das halt im Moment etwas unklar, also von der Begrifflichkeit her. Aber davon abgesehen bleibt Jan auf jeden Fall dein Bruder.“
Anna musste etwas schmunzeln. „Das weiß ich“, antwortete sie, „ich weiß, dass ich mich auf ihn verlassen kann und dass sich für ihn nichts ändert. Also außer an den Begrifflichkeiten, wie du schon sagst.“
„Wie geht’s dir denn im Moment?“, fragte Lena. Da sie sich nicht kannten, fand Anna die Frage etwas merkwürdig.
„Geht wohl, würde ich sagen“, antwortete sie, „sind halt viele Eindrücke und viele Gedanken, die ich verarbeiten muss.“
„Wenn ich dir helfen kann, mache ich das gerne. Ich bin auch adoptiert, musst du wissen.“, sorgte Lena dafür, dass Anna etwas weniger verwirrt war.
Autor: Theseus (eingesandt via E-Mail)
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Wiedermal toll geschrieben!!!!
Ich warte gespannt auf den nächsten Teil dieser wunderschönen Geschichte!
Mach bloß weiter so!
Gruß Hornet
Ich hoffe das Anne die angebotene Hilfe von Lena annehmen kann! Und das Sie dadurch etwas für sich klähren kann.