Die neue Mitschülerin (37)
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Kapitel 37: Im Zeugenstand
Der Tag der Verhandlung gegen den Handtaschenräuber war gekommen. Patricia war bereits am Vorabend angereist und hatte bei Anna übernachtet. Die Anspannung war, obwohl die beiden Mädchen und Chris nur als Zeugen aussagen sollten, vor allem bei Patricia sehr hoch. Immerhin stand bei ihr noch die Anzeige des Angeklagten im Raum. Um nicht den vollen Schulbus nehmen zu müssen, fuhren die drei eine halbe Stunde später nach Brogenberg. Pia, deren ersten beiden Stunden ausfielen, begleitete die drei, die noch im Café am Gericht frühstücken wollten. Anstatt die Verhandlung anzusehen, würde sie dann zur dritten Stunde in die Schule gehen.
„Was soll denn schon schief gehen?“, fragte Pia, als die vier ihre Brötchen gegessen und Kaffee sowie Kakao getrunken hatten, „Ihr habt doch nichts getan. Und eure Aussagen, die ohnehin wahr sind, nochmal abgesprochen. Ihr braucht euch bestimmt keine Sorgen machen.“
„Du hast ja leicht Reden. Dir wird gleich kein Verteidiger versuchen, jedes Wort im Mund umzudrehen.“, antwortete Patricia leicht gereizt.
„Hm…mag sein…aber wie gesagt. Ich glaube, ihr habt das getan, was ihr konntet. Und das wird gut gehen.“, versuchte Pia nochmals, die Situation aufzulockern.
„Leichter gesagt als getan…darf ich dir vielleicht eine Kippe schnorren?“, fragte Patricia.
„Klar.“, antwortete Pia, die ihre Schachtel hervor- und zwei Zigaretten herausholte. Eine reichte sie Patricia, ehe sie auch Anna eine anbot.
„Zur Beruhigung vielleicht gut…“, erwiderte sie und schaute zu Chris herüber.
„Was? Um Erlaubnis brauchst du mich nicht fragen…“, sagte Chris, unsicher, wie er Annas Blick zu interpretieren hatte.
„Können sie ja teilen. Du wolltest das doch auch mal versuchen. Und soooo lange dauert es ja auch nicht mehr, bis du 18 wirst. Und dann ist es maximal nur noch halb so cool.“, neckte sie ihren Freund. Die drei Mädchen konnten sich ein Lachen nicht verkneifen, als Chris beim ersten Zug husten musste, allerdings mussten zumindest Patricia und Anna zugeben, dass es ihnen ähnlich gegangen war. Kaum hatte sie die Zigaretten im Aschenbecher ausgedrückt, musste sich Pia verabschieden, um pünktlich in der Schule sein zu können. Sie wünschte nochmals viel Glück und die anderen drei gingen gemeinsam zum Gericht.
Herr Johannwill begrüßte die drei, als er sie vor dem Gerichtsgebäude antraf. Er hatte bereits mit Annas Vater Bekanntschaft gemacht, der der einzige der sechs Elternteile war, der für den heutigen Vormittag sich freinehmen konnte. Sobald Patricias und Chris‘ Eltern davon gehört hatten, waren diese insofern beruhigt, dass ihre Kinder nicht ganz alleine vor Gericht gelassen werden würden. Vor dem Sitzungssaal trafen sie auf Frau Bach, deren Handtasche sie vor dem Räuber gerettet hatten. Die Dame lächelte und freute sich, Anna, Chris und Patricia zu sehen. Patricia sagte nochmal, es sei selbstverständlich gewesen, ihr zu helfen. Wenig später wurde Herr Tanner, der Angeklagte, von einem uniformierten Polizisten in den Saal begleitet, ein hektisch wirkender Mann in Robe hinterher. Es dauerte eine ganze Weile, ehe Frau Bach als erste Zeugin hereingerufen wurde und nochmal eine diesmal nicht ganz so lange Weile, bis „Die Zeugin Patricia Wankmann bitte.“ durch die Lautsprecher im Flur zu hören war.
„Also dann, wir sehen uns gleich drinnen.“, sagte Patricia, stand auf und ging voraus. Herr Johannwill wandte sich noch einmal an Anna und Chris: „Denkt daran, bleibt einfach bei der Wahrheit. Dann wird alles gut enden.“ – Sie nickten und der Anwalt folgte Patricia in den Saal.
„Guten Tag Frau Wankmann, kommen Sie…ähm…wer sind Sie denn?“, fragte Richter Baumann, als er den Mann hinter Patricia erblickte.
„Christoph Johanwill. Ich bin der Anwalt der Familie Wankmann und stehe der Zeugin heute bei, weil ihre Eltern dies berufsbedingt leider nicht können.“, antwortete Patricias Rechtsbeistand.
„Ah. Nun gut, setzen Sie sich bitte hinten auf die Zeugenbank. Und Sie, Frau Wankmann, setzen sich bitte hier auf den Stuhl in der Mitte.“, fuhr der Vorsitzende fort.
Als Patricia sich gesetzt hatte, kontrollierte er die Personalien: „Also, Patricia Wankmann, 17 Jahre alt, geboren und wohnhaft in Neuss, Schülerin. Ist das soweit korrekt?“
„Ja.“, antwortete Patricia knapp.
„Sie wissen, worum es geht?“
„Ja.“
„Dann muss ich Sie belehren, dass Sie als Zeugin die Wahrheit sagen müssen. Allerdings muss ich Sie auch belehren, dass Sie auf Fragen, mit denen Sie sich selbst belasten könnten, nicht antworten müssen. Gegen Sie läuft ja auch ein Verfahren wegen Körperverletzung, das mit der heute hier verhandelten Angelegenheit zu tun hat.“
„Weiß ich. Ähm…können Sie mich bitte duzen?“
„Gerne. Also Patricia, dann erzähl bitte, was am Nachmittag des fünften Juli passiert ist.“, forderte der Richter sie auf.
„Also, ich bin mit meiner besten Freundin, Anna, und ihrem Freund Chris im Stadtpark in Kleifelden unterwegs gewesen. Wir wollten ins Eiscafé am Markt und wollten den Park durch einen kleinen Schleichweg verlassen…“, begann Patricia.
„Entschuldige bitte, dass ich dich unterbreche.“, warf der Richter ein, „Könntest du vielleicht an der Karte dort an der Tafel zeigen, wo genau das war?“
„Ehm…ich kann es versuchen…ich kenne mich in Kleifelden auch nicht so gut aus…“, gab Patricia in einer für sie ungewohnten, fast schüchternen Art zurück.
„Kein Problem, die Frau Staatsanwältin wird dir sicherlich helfen.“, sagte Herr Baumann und blickte nach links. Die etwa vierzigjährige Frau mit den kurzen, blonden Haaren war bereits aufgestanden und zur Tafel gegangen.
„Also, hier ist das Café am Markt. Und hier ist der Stadtpark.“, sagte sie und zeigte die beiden Orte auf der Karte.
„Ah, ok.“, erwiderte Patricia, „ich muss mich kurz orientieren. Also, wir waren hier ungefähr und sind dann hier diese kleine Gasse am Rand des Parks rein.“
„Alles klar, dann setz dich bitte und erzähl weiter.“, forderte der Richter das Mädchen auf.
„Naja, wir sind gerade in die Gasse eingebogen und haben dann ihn da…“ – bei diesen Worten zeigte Patricia auf den Angeklagten – „…gesehen, wie er Frau Bach die Handtasche weggerissen hatte und fliehen wollte…
„Stimmt doch gar nicht!“, warf Herr Tanner mit lauter Stimme von der Anklagebank ein.
„Sie waren schon dran, Herr Tanner. Jetzt ist die Zeugin dran, ja?“, sagte der Richter mit strengem Ton in Richtung des Angeklagten.
„Schon ok.“, antwortete dieser kurz und verschränkte die Arme.
„Also, weiter bitte.“, blickte Herr Baumann wieder zu Patricia.
„Ich wollte ihn natürlich aufhalten. Ich dachte, wir sind zu dritt, das schaffen wir schon. Und außerdem mache ich Judo…naja, ich…“, fing Patricia an, drehte sich um und suchte den Blick ihres Anwalts.
„Bleib dabei, was wir besprochen haben. Ich denke immer noch, dass du alles erzählen solltest.“, ermutigte dieser seinen Schützling.
„Ok, danke.“, setzte Patricia erneut an, „Also, ich habe ihn dann mit meiner Handtasche ins Gesicht geschlagen. War in dem Moment das erstbeste, was mir einfiel, um ihn irgendwie aufhalten zu können.“ – Bei diesen Worten blickte sie leicht schuldbewusst nach unten.
„Sehen Sie. Die sollte hier sitzen und nicht ich!“, mischte sich der Angeklagte wieder ein.
„Herr Tanner, die einzigen, die die Zeugin unterbrechen dürfen sind ihr Verteidiger, die Staatsanwältin und ich, haben wir uns verstanden?“, knurrte der Richter regelrecht zum Räuber. Dieser nickte nur, dafür ergriff sein Verteidiger das Wort.
„Sie geben also die Körperverletzung zu.“, stellte dieser fest und blickte in Patricias Richtung. Diese sah hilfesuchen zu ihrem Anwalt, der für sie das Wort ergriff: „Nein, das hat sie nicht, Herr Kollege. Meine Mandantin hat lediglich zugegeben, mit ihrer Handtasche ihren Mandanten ins Gesicht geschlagen zu haben. Das heißt aber nicht, dass der Tatbestand der Körperverletzung erfüllt ist. Vielmehr ist diese vermeintliche Körperverletzung durch das Jedermannsrecht abgedeckt. Meine Mandantin hat von ihrem Recht Gebrauch gemacht, einen auf frischer Tat ertappten Täter festzunehmen und dabei nur die dafür notwendigen Maßnahmen getroffen.“
„Unsinn. Selbst wenn es mein Mandant war, der Frau Bach die Handtasche entrissen hat, so hätte man ihn auch auf andere Weise an der Flucht hindern können.“, warf der Verteidiger ein.
„Aber ich hab Ihnen doch gesagt. Der Mann da war das!“, mischte sich nun Frau Bach ein und zeigte dabei auf den Angeklagten.
„Das stimmt nicht. Die ist doch offensichtlich verwirrt, die alte Frau!“, brüllte der Angeklagte sichtlich gereizt.
„Herr Tanner, ein letztes Mal! Halten Sie sich zurück!“, ermahnte der Richter und beruhigte die Situation.
„Patricia, zurück zu dir. Nach dem Schlag mit der Handtasche, was ist dann passiert?“, fragte er schließlich die Zeugin weiter.
„Ich habe die Verwunderung genutzt und den Angeklagten zu Boden gerungen und ihn festgehalten, bis die Polizei kam. Chris hatte die gerufen.“, berichtete Patricia.
„Du redest vom Zeugen Christian Wagenhoff?“, vergewisserte sich der Richter.
„Genau.“, bestätigte Patricia.
„Wie hat sich der Angeklagte verhalten, als du ihn festgehalten hast?“, fragte Herr Baumann weiter.
„Er hat sich gewehrt und wollte sich befreien. Ist ihm aber nicht gelungen.“, erzählte Patricia ein bisschen stolz.
„Die hat mir die Hand verstaucht!“, rief der Angeklagte dazwischen.
„Herr Tanner, jetzt reicht’s. Hiermit verhänge ich ein Ordnungsgeld gegen Sie. Ich habe Ihnen oft genug gesagt, dass Sie nicht dazwischen reden sollen!“, wurde der Richter laut, der Angeklagte entsprechend klein und leise.
„Das ärztliche Gutachten nach der Festnahme hat keine Verstauchung festgestellt, Herr Tanner.“, machte die Staatsanwältin ihn aufmerksam.
„Was ist passiert, als die Polizei dann ankam?“, fragte der Richter.
„Dass die da waren, hab ich gar nicht sofort mitgekriegt. Einer hat mich dann an der Schulter angetippt und gesagt, die übernehmen jetzt. Ich bin dann vom Angeklagten runter und die haben ihm Handschellen angelegt.“, erklärte Patricia abschließend.
„Noch weitere Fragen?“, wollte der Richter vom Verteidiger und von der Staatsanwältin wissen.
„Nein.“, antworteten beide im Chor, worauf der Vorsitzende sich bei Patricia bedankte und sie anwies, auf der Zeugenbank Platz zu nehmen.
„Sämtliche Anklagepunkte haben sich bewahrheitet.“, begann die Staatsanwältin etwa eineinhalb Stunden später ihr Plädoyer, „Der Angeklagte hat versucht, Frau Bach auszurauben. Raub ist es, weil Frau Bach gestürzt ist und so zumindest der Gefahr ausgesetzt war, sich erhebliche Verletzungen zuzuziehen. Die Aussagen der Zeugen Wankmann, Schneefeld und Wagenhoff bestätigen den versuchten Raub an Frau Bach. Und es gibt absolut keinen Grund, an der Glaubwürdigkeit zu zweifeln. Zudem haben die Zeuginnen Neuendorf, Heinemann und Strasser allesamt unabhängig voneinander den Angeklagten als Täter wiedererkannt, der ihnen zu anderen Zeitpunkten ihre Handtasche geraubt hatte. Deshalb ist der Angeklagte wegen mehrfachen Raubes und versuchten Raubes schuldig zu sprechen. Ich denke da an eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Und was die Zeugin Wankmann angeht: Ich beantrage, das Verfahren gegen sie einzustellen. Eine Verhältnismäßigkeit im Sinne des Jedermannsrechts sehe ich als gegeben, von daher hat sie sich nicht strafbar gemacht.“
„Vielen Dank Frau Staatsanwältin“, sagte der Vorsitzende, „Herr Verteidiger, Ihr Plädoyer bitte.“
„Hohes Gericht, Frau Staatsanwältin, ein Tatnachweis gegen meinen Mandanten kann nicht geführt werden. Die Zeugin Wankmann hat zugegeben, meinen Mandanten ins Gesicht geschlagen zu haben. Eine klare Körperverletzung! Und die ist auch nicht verhältnismäßig, da mein Mandant überhaupt keinen Grund hatte, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Das Verfahren gegen Frau Wankmann darf also nicht eingestellt werden. Und was die anderen Zeuginnen und vermeintlichen Opfer angeht, so haben diese doch in der Zeitung das Bild meines Mandanten gesehen, teilweise lagen die Diebstähle aber auch schon Jahre zurück. Wie soll man sich da noch so genau an ein Gesicht erinnern? Außerdem ist der geistige Zustand der Zeuginnen fragwürdig, sind doch alle über 80 Jahre alt. Mein Mandant ist also aus Mangel an Beweisen freizusprechen.“, führte der Verteidiger aus.
Diese Ausführungen blieben wirkungslos, der Richter folgte dem Antrag der Staatsanwältin, reduzierte die geforderte Haftstrafe aber auf drei Jahre.
„Drei Jahre“, setzte er zur Urteilsbegründung an, „drei Jahre und damit weniger als von der Staatsanwältin gefordert, weil es doch – in Anführungszeichen – nur um Handtaschen mit vergleichbar geringem Wert ging. Dennoch sind Sie unserer Auffassung wegen mehrfachen Raubes schuldig zu sprechen, Herr Tanner. Die Zeuginnen sind allesamt glaubwürdig und ihre Aussagen widerspruchsfrei. Und nur, weil mehrere Zeuginnen in einem hohen Alter sind, heißt das noch lange nicht, dass sie geistig nicht mehr fit sind, Herr Verteidiger. Was das Verfahren gegen dich angeht, Patricia, so müsste die Verteidigung einer Einstellung zustimmen.“
Der Verteidiger zuckte nur mit den Schultern, warf die Arme in die Luft und signalisierte seine Zustimmung.
„Dann ist das Verfahren hiermit eingestellt. Trotzdem möchte ich dir auf den Weg geben, beim nächsten Mal, was hoffentlich nicht passieren wird, vielleicht nicht mit der Handtasche ins Gesicht zu schlagen. Der Angeklagte ist ohne große Verletzung davongekommen, aber hätte er sich beispielsweise die Nase gebrochen, könnte das für dich auch ganz anders weitergehen. Nichtsdestotrotz, Anna, Christian und vor allem Patricia: Ihr habt großen Mut bewiesen und einer wehrlosen Person geholfen. Um Menschen wie den Angeklagten in ihren Machenschaften auszubremsen, braucht es mehr Menschen wie euch. Auch wenn das für euch heute sicherlich sehr aufregend und auch nicht stressfrei war, hoffe ich, dass ich euch nicht entmutigen lasst und wann immer Zivilcourage nötig ist, ihr diese auch an den Tag legt.“, beendete der Richter die Verhandlung.
Autor: Theseus (eingesandt via E-Mail)
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Ist wieder sehr spannend gewesen zu lesen. Danke! Bin auf en nächsten Teil schon sehr gespannt.
Als Jurist und Strafverteidiger eine kleine Anmerkung: Das Verfahren gegen Patricia hätte nur die Staatsanwaltschaft als Herrin des Vorverfahrens einstellen können (Anklage war ja noch nicht erhoben). Einer Zustimmung der Verteidigung des Räubers bedarf es hierzu nicht. Das Gericht konnte somit in keinem Fall das Verfahren gegen Patricia in der Hauptverhandlung gegen den Räuber einstellen.
Der Zeugenbeistand sitzt grundsätzlich neben dem Zeugen und nicht im Publikum.
Raub ist ein Verbrechen mit einer Straferwartung von wenigstens einem Jahr Freiheitsstrafe. Das wäre nicht vor dem Strafrichter, sondern vor dem Amtsgericht – Schöffengericht angeklagt worden (Straferwartung mehr als 2 aber unter 4 Jahre).
Ist aber „meckern“ auf hohen Niveau. Ansonsten gute Geschichte. Weiter so!