When 2 become 1 (6)
Windelgeschichten.org präsentiert. When 2 become 1 (6)
Als ich mit Nic zum Professor in den großen Van stieg, der in der Tiefgarage auf uns wartete, hätte ich Nic eigentlich in den vorbereiteten Kindersitz setzen müssen. Daran war aber nicht zu denken. Er hatte sich mit beiden Händen in mein Hemd verkrallt. Musste eben so gehen. Kein Problem. Immerhin atmete er nach wie vor ruhig und gleichmäßig. Er schien inzwischen eher zu schlafen, als das Bewusstsein verloren zu haben. Der Übergang war wahrscheinlich fließend. Verglichen mit der Situation in der VIP-Lounge am Flughafen verlief die Ankunft in der Klinik komplett unspektakulär. Weit weg vom Rummel des klassischen Klinik-Alltags suchte sich unser Van seinen Weg in einem Labyrinth aus unterirdischen Versorgungswegen, Tiefgaragen und Betonröhren. Unser Ziel: Eine unscheinbare Garage, in der eigentlich nur die Klinikleitung und die Chefärzte parkten. Heute auch ausnahmsweise wir. Von dort ging es durch die scheißkalte Garage auf dem schnellsten weg zu einem Aufzug, der uns langsam in Richtung Tageslicht brachte. Insgesamt zwei Mal mussten wir noch umsteigen, bis wir schließlich in dem Stockwerk angekommen waren, wo unter anderem die Patienten meiner Stiftung behandelt wurden. Dort hatte Steven eines der Zimmer für Nic und mich herrichten lassen. Die Behandlungsräume waren fast komplett identisch aufgebaut und zeichneten sich vor allem dadurch aus, dass sie wie etwas zu groß geratene Kinder- oder Jugendzimmer aussahen. Je nach Alter der Patienten. Statt weißer Krankhausbetten, grüner Vorhänge und sterilen Sanitär-Kabinen dominieren warme Erdtöne die Wände. Unsere Patienten lagen in sehr großen Pflegebetten aus Holz, die je nach Zustand des Patienten aussehen konnten wie ein normales Kinderbett, oder eben auch wie ein Bett auf einer Intensivstation. Hinzu kamen bequeme Sofas und Sessel, Schränke und Regale mit Spielzeug. Alles, was an Klinik bzw. Medizin erinnerte, war in Paneelen hinter den Wänden verstaut und wurde nur sichtbar, wenn die Sachen zum Einsatz kamen. Dezent in einer Seitennische neben den Betten untergebracht war der Pflegebereich der Zimmer. Primär ein großer höhenverstellbarer Tisch, auf dem die Patienten umgezogen, gewaschen, untersucht oder eben auch gewickelt werden konnten. Dank eines integrierten Hublifters ließen sich dort sogar Kinder und Jugendliche versorgen, die auf den Rollstuhl angewiesen waren. In die Tische integriert war eine flache Duschwanne, in der die kleineren Kinder auch gewaschen werden konnten. Drei der Zimmer verfügten zudem über einen Snoezelen-Raum, in dem Patienten mit unterschiedlichen Licht- und Klangprogrammen stimuliert werden, bzw. zur Ruhe kommen konnten. Zentrales Element war eine riesiges, in den Boden eingelassenes Wasserbett, das sich ins Behandlungsprogramm integrieren ließ. Je nach Anforderung konnte das Teil leichten Wellengang simulieren. Oder die Patienten mit ins Bett integrierten Lautsprechern mit Tönen und Schallwellen stimulieren. Der Professor hatte für Nic eines dieser Zimmer mit Snoezelen-Raum vorgesehen. Seit Nic aus dem Koma erwacht war ging der Professor davon aus, dass weder Nics Gehirn, noch sein Körper (abgesehen von seiner Lunge) wirklich schwerwiegende Schäden davongetragen hatten. Er sah in Nics Verhalten vor allem Stress- und Trauma-Symptome. Und ich teilte diese Ansicht, auch wenn wir zum jetzigen Zeitpunkt noch Lichtjahre davon entfernt waren, die ganzen einzelnen Faktoren aufzuarbeiten. In den nächsten 24 Stunden ging es vor allem darum, Nic fit für die Übergabe zu machen. Und das würde schwer genug werden.
“Ich habe dafür gesorgt, dass du den Rest des Tages mit dem Jungen allein sein wirst!”, erklärte mir der Professor, als wir das Zimmer erreicht hatten, in ich mit Nic mindestens eine Woche verbringen würde. Abgesehen von medizinisch notwendigen Tätigkeiten hatte sich das Ärzteteam darauf verständigt, dass Nic sich in der ersten Woche ausschließlich auf mich konzentrieren sollte. Keine Besuche, außer während der Übergabe mit Frau Endermann. Er musste Stück für Stück begreifen, dass ich zu einer Konstante in seinem Leben werden würde. Ein Fixpunkt, auf den er sich verlassen konnte.Unsere Mahlzeiten wurden in einem Thermo-Wagen vor der Tür bereitgestellt. Gespräche mit meinem Team sollten wenn, dann nur per Telefon oder zu den Zeiten stattfinden, wenn Nic schlief. Ich hatte währenddessen Platz auf einem der Sofas genommen, Nic lag in die Decke vom Flughafen gehüllt auf mir und hatte sich nach wie vor in meinen Klamotten verkrallt. “Ich lasse euch jetzt erstmal alleine!”, brachte der Professor seine Ausführungen zu Ende. “Sobald du der Meinung bist, Nic lässt es zu, von dir umgezogen und frisch gemacht zu werden, muss ich ihm wie besprochen einen Zugang in den Arm legen, über den er in den nächsten Stunden diverse aufbauende Infusionen bekommen wird. Nicht optimal, aber anders werden wir so schnell nicht genug Flüssigkeit und Nährstoff in ihn hineinbekommen!” Das hatte ich verstanden, auch wenn ich mir ganz gut ausmalen konnte, wie schwer es werden würde, die Infusionsnadel in ihn hinein zu bekommen. Das war alles viel zu wichtig, um es auf die leichte Schulter zu nehmen. Dennoch nahm ich mir fest vor, einen Schritt nach dem anderen zu gehen. Nur so konnte es gehen. Das wusste ich, denn ich war gut vorbereitet. Ich hatte lange und intensiv mit den anderen Psychologen gesprochen, die hier in der Klinik arbeiteten. Hatte mich von den Pflegekräften in allem schulen lassen, was für die Pflege wichtig war: Umziehen, waschen, baden, füttern, wickeln. Jetzt, so kurz vor dem Praxis-Einsatz, fühlte sich mein Kopf erschreckend leer an. Fast taub. Gefühlt konnte ich mich an keinen einzigen Handgriff mehr erinnern, den sie mir eingetrichtert hatten. Sei’s drum. Es würde schon irgendwie gehen. Zwei Wimpernschläge später schloss der Professor die Zimmertür. Ich war mit Nic alleine. Nach fast 14 Monaten war mein Bruder wirklich in Sicherheit.
Ich ließ mir Zeit. Fast eine Stunde saß ich mit Nic auf dem Sofa. Streichelte seinen Rücken und konzentrierte mich ansonsten darauf, keine seiner Reaktionen zu verpassen. Kein Zucken der Augenlider, kein Magengrummeln, kein Zittern in den Fingern. Keinen Atemzug. Dabei sprach ich fortlaufend mit ihm. Sehr leise. Ich erzählte ihm von mir. Von meinem Leben. Erzählte ihm von unserer Mutter. Erzählte ihm, wie glücklich ich war, dass er endlich bei mir war. Und ich spürte, dass er reagierte. Mal war es ein Muskel, der sich aus der Verkrampfung löste. Mal ein Atemzug, der tiefer oder flacher ausfiel, als gedacht. Er hörte mir also tatsächlich zu. Obwohl er irgendwo zwischen Bewusstlosigkeit und Realität schwebte. Für mein Dafürhalten hätten wir bis in alle Ewigkeit einfach nur so dasitzen können. Das ließ aber Nics Gesundheitszustand nicht zu. Er brauchte dringend Flüssigkeit und Nährstoffe. Außerdem musste er dringend aus diesen Klamotten und der Windel raus, deren Geruch langsam aber sicher nicht mehr zu ertragen war. Ich spürte, wie sich Nics Körper verkrampfte, als ich mich mit ihm auf den Weg zu dem Pflegetisch machte, wo das Team von Professor Eissler alles vorbereitet hatte: Die Unterlage aus Kautschuk war mit weichen Tüchern ausgelegt, die Wärmelampe über dem Tisch hatte alle Gegenstände, mit denen Nic in Berührung kommen würde, vorgewärmt. Reinigungstücher, Cremes und Tinkturen standen bereit, in einem weißen Stoffkörbchen lagen frische Klamotten.
Mit jedem Schritt in Richtung Tisch hatte ich den Eindruck, dass Nic wacher wurde. Und angespannter. Man solle ihn fixieren, hatte die Endermann empfohlen. Allein beim Gedanken daran drehte sich mir der Magen um. Kein Wunder, dass Nic selbst halb ohnmächtig so heftig alleine auf die Ankündigung reagierte, jetzt gleich gewickelt zu werden. Wir kamen aber jetzt einfach nicht mehr drumherum. Als er mich auch beim dritten Versuch nicht losließ, änderte ich die Taktik: Ich sprach gezielt an, was gleich nicht passieren würde, also keine Fixierung, keine Medikamente, kein Zwang. “Du gibst das Tempo vor, mein Großer”, flüsterte ihm ins Ohr. “Eine Handbewegung reicht und ich höre sofort auf! Wollen wir das versuchen?” Schweigen. Zähes und gefühlt endloses Schweigen. Dann ein erschöpfter Blick zur weichen Unterlage. Und endlich, ein kaum sichtbares Nicken. Ein winziges Stück Vertrauen. “Jetzt versau’ es bloß nicht, Josh!”, versuchte ich mich selbst zu disziplinieren.
Ich schälte ihn vorsichtig aus der Decke und war wie schon beim ersten Kontakt vorhin erschüttert, wie zerbrechlich er wirkte. Ihn auf den Wickeltisch zu setzen, war keine echte Option. In seinem Zustand würde er sich nur wenige Sekunden aufrecht halten können. Also platzierte ich ihn vorsichtig auf der Wickelunterlage und realisierte zufrieden, dass Nic sehr positiv auf die Wärme reagierte, die ihn plötzlich umgab. Ein erster, kleiner Lichtblick. Ein Blick auf die dünne, fleckige Jogginghose die er trug machte aber klar, dass das alles nur kein Spaziergang werden würde. Ich streifte mir ein paar Einweghandschuhe über. Wenn ich mich nicht verrechnet hatte, steckte Nic seit fast 21 Stunden in dieser Windel. Die hatte entsprechend längst ihre Arbeit eingestellt. Dunkle feuchte Streifen auf der Hose zeigten, wo die Windelbündchen lagen und wo sich der Inhalt der Windel seinen Weg nach draußen gesucht hatte. Ich drehte Nic langsam auf die Seite und fand am Rücken, was ich befürchtet hatte: eine fiese Mischung aus Feuchtigkeit und Kot. Spätestens jetzt war es gut, dass Franziska Endermann nicht hier war. Ich hätte für nichts mehr garantieren können. Sie würde für das bezahlen, was sie Nic angetan hatte. Doppelt und dreifach.
“Alles okay?”, fragte ich leise. Ein stummes Flackern mit den Augen. Nic war also bereit. “Gut, ich muss nämlich ein bisschen improvisieren!”, fuhr ich fort und zeigte ihm eine Verbandsschere. “Die Sachen die du trägst, sind eh nicht mehr zu retten. Ich schneide sie einfach auf. Das geht schneller!” Ein kurzer fragender Blick meinerseits. Diesmal bekam ich sogar ein Nicken zurück. Er war tatsächlich zäher, als ich es mir vorstellen konnte. Die ausgelatschten Schuhe waren die leichteste Übung. Sie waren nicht nur abgelaufen, sondern fast zwei Nummern zu groß. Mülleimer auf, weg damit. Ähnlich erging es den verwaschenen rosa-weiß-gestreiften Kniestrümpfen, die sie ihm angezogen hatten. Gemessen am Zustand seiner Fußnägel und dem Geruch seiner Füße hatte Nic sehr, sehr lange nicht mehr gebadet. Jetzt half nur noch die Schere. Zwei lange Schnitte, dann war die Hose ohne Halt. Vier Schnitte, und der Pullover war auf. Beide nahmen ebenfalls den Weg in den Mülleimer. Dann noch das ausgeleierte Unterhemd. Weg damit. Mit jeder Schicht Klamotten wurden auch Nics Narben sichtbar. Beim Kampf gegen seine inneren Verletzungen war es um Sekunden gegangen. Minimalinvasive Operationsmethoden interessierten an dieser Stelle niemand. Erste positive Überraschung: Trotz offensichtlich mangelnder Pflege war alles gut verheilt. Immerhin. Letzte große Herausforderung: Die dicke Baumwollunterhose, unter der noch eine Gummihose zum Vorschein kam. Ohne die wäre die lange Zeit in der Windel auch gar nicht möglich gewesen. Wieder zwei Schnitte und weg damit. Blieb noch die Windel. Ein billiges Noname-Produkt mit blauer Knisterfolie, das eigentlich ausschließlich zur Nachtversorgung von pflegebedürftigen Kindern gedacht war. Niemand der so etwas trug, konnte unentdeckt unter Menschen. Jeder Millimeter des saugfähigen Windelvlies war am Ende seiner Belastbarkeit. Aus allen Bündchen drang Kot. Es war schlimm. In jeder erdenklichen Art und Weise. Als ich das stinkende Windelding endlich unter Nic hervorgezogen bekam, atmeten wir beide auf. Mit weichen Vliestüchern aus dem kleinen, mit warmem Wasser und etwas Reinigungslotion gefüllten Waschbecken säuberte ich Nics Windelbereich, so gut es ging. Dann wickelte ich ihn in ein Einmal-Handtuch, nahm ihn hoch und entsorgte die oberste Tücher-Schicht der Wickeltunterlage. Nach insgesamt drei Wiederholungen lag Nic einigermaßen “sauber” vor mir. Und das ganze Ausmaß eines 20-Stunden-Tages in einer Windel wurde sichtbar. Sein gesamter Windelbereich war rot entzündet. Überall dort, wo die Windelbündchen gerieben hatten, waren wunde Stellen zu sehen. Aber damit kam ich klar. Der Professor hatte allerlei Spezialcremes vorbereitet, mit denen ich Nics geschundene Haut behandelte. Erst nachdem die Cremes überall gut eingezogen waren, griff ich zu einer frischen Windel. Eine Spezialprodukt, das bei Menschen mit empfindlicher Haut bzw. vorgeschädigter Haut zum Einsatz kam. Ein bisschen größer als die klassischen Windeln, die wir eigentlich für Nic vorgesehen hatten. Vor allem deutlich dicker. Aber dafür extrem weich, ohne Superabsorber und chemischen Bindemittel, die im Zweifel die Haut noch mehr belasteten. Insgesamt eine eher unförmige Konstruktion und auch kein Saugwunder, aber 20 Stunden musste das Ding auch nicht halten. Darauf kam es jetzt auch nicht an. Wichtig war, dass die Haut sich erholen konnte. Nic schien sehr gut damit klar zu kommen. Wahrscheinlich war es aber vor allem die schmerzstillende Wirkung der Salben, die ihn von Minute zu Minute entspannter wirken ließen. Bevor ich ihm das erste Mal überhaupt seine neuen Klamotten anzog, klingelte ich nach dem Professor. Es wurde Zeit für den Zugang – der letzten großen Herausforderung für heute.
Autor: Der Beobachter (eingesandt via E-Mail)
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wow die teile sind alle wunderschön geschrieben und so spannen und man fühl mit dem arme nic mit