When 2 become 1 (9)
Windelgeschichten.org präsentiert: When 2 become 1 (9)
Mit dem Wickeltisch vor Augen ließ Nics Dynamik etwas nach, ohne dass ich dabei das Gefühl hatte, ihn wieder zu verlieren. Vielleicht ging ja noch etwas mehr. Ich ließ es auf einen Versuch ankommen: “Nic, meinst du, du kannst mir helfen?” Damit hatte mein jüngerer Bruder jetzt ganz offensichtlich nicht gerechnet. Große Augen im kleinen Gesicht. “Kannst du vielleicht versuchen, dir schonmal die Hose auszuziehen, während ich alle vorbereite? Meinst du, du schaffst du das? Zusammen geht’s viel schneller und wir haben mehr Zeit, fürs Playmobil-Regal!” Eine liebevolle Erpressung blieb eine Erpressung und war ein schäbiges Stück Erziehung. Schäbig, aber effektiv. Als Psychologe war ich ein Versager. Aber als großer Bruder ganz offensichtlich nicht so schlecht. Denn zu meiner großen Überraschung konnte ich in Nics Augen nur für einen winzigen Sekundenbruchteil genau die Angst, das Misstrauen und die Unsicherheit sehen, die ihn noch am Flughafen dominiert hatte. Ich hatte, so sah es zumindest aus, den richtigen Ton getroffen. Nic stellte sich links neben den Wickeltisch und begann mit dem Versuch, sich die Leggings auszuziehen. Sie war nicht besonders eng und leistete an seinem mageren Körper keinen großen Widerstand. Und doch war ich mir nicht sicher, ob mein Experiment so eine gute Idee gewesen war. Jedes gesunde dreijährige Kind hätte über die Aufgabe nur müde gelächelt. Aber für Patienten mit einem noch jungen Schädel-Hirn-Trauma galten ganz andere Regeln. Meist ließ sie eine Kombination aus mangelnder Koordination, eingeschränkter Hirnleistung und fehlendem Gleichgewichtsgefühl an den einfachsten Aufgaben scheitern. Nics Gehirn war, nach allem was wir wussten, wieder sehr gut in Schuss. Aber er hatte noch große Defizite in Sachen Koordination und Gleichgewichtsgefühl. Er war insgesamt noch viel zu zittrig und unsicher auf den Beinen. Hinzu kamen die negativen Auswirkungen der vielen Knochenbrüche, die es ihm zusätzlich erschwerten, komplexe Bewegungsabläufe hinzubekommen. Alleine, um zwischen Body und Bündchen der Leggings mit den Fingern einzufädeln, um dann die Hose nach unten zu ziehen, dauerte eine halbe Ewigkeit. Der Windelpo war im Weg und versperrte den schnellen Weg zum Ziel. Aber er kämpfte. Nach insgesamt vier Abläufen war die Leggings auf Kniehöhe. Jetzt kam der schwerste Teil: ein Bein nach dem anderen aus der Leggings zu bekommen. Ich wusste, das war noch zu viel für ihn. Ganz offensichtlich wusste das aber auch Nic und hatte sich einen Plan ausgedacht. Er setzte sich einfach hin. Auf den Boden neben seinem Wickeltisch. Noch zwei Handgriffe, dann war die Sache erledigt. Auch wenn er noch keinen strahlenden Gesichtsausdruck hinbekam, sagten seine Augen alles. Es war Freude. Und Stolz. Ein kleiner Lichtblick in einer Seele, die viel zu lange hatte im Dunkeln verbringen müssen. Noch war er aber nicht fertig. Er begann jetzt, die Leggings zusammen zu falten. Sehr langsam, aber auch gewissenhaft. Ich hatte längst die Wickelunterlage mit einer saugfähigen Unterlage ausgelegt, Wasser ins kleine Waschbecken gelassen und eine frische Windel herausgesucht. Trotzdem war klar, dass ich ihn jetzt nicht hetzen durfte. Lass dem kleinen Mann seine Zeit. Und wie es der Zufall so wollte, waren wir dann tatsächlich “gleichzeitig” mit unseren Vorbereitungen fertig. Nic stand nur im Body, seinem Pullover und seinen ABS-Kniestrümpfen neben dem Wickeltisch und streckte mir stolz die gefaltete Leggings zusammen. 100 Punkte fürs Trauma-Kind! “Wahnsinn, das hat ja perfekt geklappt!”, sparte ich nicht mit Anerkennung und nahm ihm seine Hose ab, die ich sehr feierlich neben der Wickelunterlage platzierte.
Ein paar Augenblick später lag Nic dann auf dem Tisch und sah ganz sicher nicht aus wie jemand, der große Freude an einem Windelwechsel hatte. Aber er wirkte vergleichsweise entspannt, was mir die Sache maximal erleichterte. Ich öffnete die vier Klebestreifen an beiden Seiten und war unmittelbar darauf schon sehr erstaunt, wie gut die Salben und Tinkturen des Professors in der vergleichsweise kurzen Zeit funktioniert hatten. Die Haut war immer noch leicht gerötet, das würde aber sicher bis zum nächsten Windelwechsel vorbei sein. Ganz erstaunlich, immerhin hatte das vor etwas mehr als zwei Stunden wirklich dramatisch ausgehen. Es war aber auch offensichtlich, dass der Boxenstopp genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen war. Die Hautschutz-Windel war kein Saugwunder und taugte bei Nics Inkontinenz maximal für zwei Stunden. Wenn es gut lief. Also: Runter mit dem Ding. Anschließend wusch ich Nic gründlich mit weichen Tüchern und achtete peinlich genau darauf, ja keinen Millimeter des Windelbereichs auszulassen. Nur so würden wir seine Haut in kürzester Zeit in den Griff bekommen. Nachdem alles trocken war, trug ich erneut eine dicke Schicht “Zaubercreme” auf und ließ den hellweiß schimmernden Überzug in aller Ruhe einwirken.
Aus pflegerischer Sicht war es nicht wirklich ein Problem, ein Kind zu wickeln, das eigentlich seit ein paar Wochen in die zweite Klasse gehen sollte. Ohne Windel, natürlich. Schwieriger war es damit umzugehen, wen ich da versorgte: meinen kleinen Bruder. Das Problem war die Diskrepanz zwischen Erinnerung und Realität: Als ich Nic vier Wochen vor der Explosion das letzte mal via Skype gesehen hatte, kam er gerade von einer Tour mit seinem neuen Fahrrad zurück. Die strohblonden Haare quollen unter einem mit unzähligen Stickern vollgeklebten Skater-Helm hervor, die blaue Latzhose fast starr vor Dreck und Matsch. Ein Dorfkind mit allen Freiheiten, die man so hat, wenn man weit weg aufwächst, von Großstadt-Verkehr und durchgetaktetem Kinder-Tagesprogramm. Ein Wirbelwind, der seine Nase grundsätzlich in alles steckte, was um ihn herum so passierte und in der Schule bereits mehrfach mit seinen Lehrer aneinander gerasselt war. Weil etwas nicht so lief, wie er sich das vorgestellt hatte. Oder weil irgend jemand aus seiner Sicht ungerecht behandelt worden war. Körperlich war er kein Riese, damit aber in bester Gesellschaft, weder seine Mutter noch sein Vater konnten mit herausragendem Riesenwuchs dienen. Was ihm an Höhe fehlte, machte er mit Mut, Intelligenz und Charme wett. Was da jetzt vor mir auf dem Wickeltisch lag, hatte mit diesem Nic, den ich in meinem Kopf hatte, außer den tiefdunklen Augen nichts mehr gemeinsam. Die schweren Verletzungen hatte dazu geführt, dass sich Nics Körper eine Wachstums-Auszeit genommen hatte. Statt sich zu entwickeln ging es vor allem darum, Wunden zu heilen. Zu überleben. Zusammen mit dem Gewichtsverlust wirkte Nic deshalb noch kleiner, als er eh schon war. Und noch verlorener in einer Welt, die ihm übel mitgespielt hatte. Den Rest waren klassische Schutzmechanismen die aktiviert wurden, wenn die Psyche eines Menschen, besonders die von Kindern, überlastet wird: Sprachverlust, Aggressionen, Retardierung. Verglichen mit den körperlichen Schäden, die Nic überstanden hatte, waren das Kleinigkeiten. Das Problem: psychologische Kleinigkeiten waren in ihrem Heilungs-, bzw. Auflösungsverlauf nicht prognostizierbar. Ich rechnete damit, dass es locker ein Jahr dauern würde, Nic wieder einigermaßen zurück ins Leben zu bringen. Unser gemeinsames Ziel war es, Nic in 12 Monaten wieder in die Schule zu schicken zu können. In die zweite Klasse, für die er dann eigentlich zwei Jahre zu alt war. Aber was waren schon zwei Jahre.
Es kostete mich einiges an Überwindung, mich von dem was ich sah, nicht allzu tief in ein Tal der Tränen ziehen zu lassen. Nic hatte es bis hierhin geschafft. Ganz alleine. Jetzt hatte er Menschen um sich herum, die für ihn da waren. Sie um ihn sorgten. Für ihn kämpften. Ein kurzer Schüttler, dann war ich auch gedanklich wieder bei Nic, zurück in der Realität. Gerade rechtzeitig genug um noch mitzubekommen, dass Nic keinesfalls teilnahmslos dagelegen hatte, sondern mich im Gegenteil sehr intensiv gemustert hatte. Intensiv und mit einer deutlich spürbaren Ungeduld. Er wollte von diesem Tisch runter und endlich rüber zum Playmobil-Schrank. Eine Gefühlsregung, die mich in allen meinen Prognosen bestätigte: Es gab Löcher in seinem “Panzer” aus Teilnahmslosigkeit, Abschottung und Sprachlosigkeit. Und eines dieser Löcher hatte ich gefunden: spielen. Er wollte spielen! Dem wollte ich natürlich nicht länger als unbedingt nötig im Weg stehen. Ich griff ihm mit dem linken Arm unter die Kniekehlen, hob seine Beine mitsamt Hüfte ein Stück nach oben und platzierte eine frische Windel unter ihm. Wieder eine der dicken hautfreundlichen Dinger. Spätestens morgen früh würde ich aber zunächst auf die SENI Kids Junior Extra umsteigen. Zumindest in der Theorie konnten die Pausen zwischen den Windelwechseln dann deutlich länger werden. Ich verschloss die vier Klebestreifen sehr sorgfältig, knipste dann die Druckknöpfe von Nics Body zusammen und fädelte seine Beine in die Leggings, die er sich so mühevoll selbst ausgezogen hatte. Sich selbst wieder anzuziehen war eine Übung, die noch ein bisschen warten konnte. Er hatte für den allerersten Tag schon mehr als genug Fortschritte gemacht. Außerdem war es mit seiner aktuell noch eingeschränkt leistungsfähigen Motorik fast ausgeschlossen, dass er die relativ enge Leggings über seinen fluffigen Windelpo bekommen würde. Auch da würde die SENI vieles einfacher machen. Anschließend half ich ihm vom Tisch und zeigte ihm, wie er den etwas fummeligen Verschluss des Playmobil-Schranks aufbekam. Die etwas wackelige Konstruktion war keine Nachlässigkeit des Inneneinrichters, sondern ein Trick der Physiotherapeuten, die jede Gelegenheit nutzten, um Patienten mit überstandenem Schädel-Hirn-Trauma wieder fit zu bekommen. Und dazu gehörte eben auch das Training der Feinmotorik. Genau aus diesem Grund war ich auch so gespannt darauf zu sehen, wie Nic mit den kleinen Playmobil-Teilen klar kommen würde.
Vorher musste er sich aber noch für eine der Kisten entscheiden. So war die Regel hier: Es durfte immer nur eine Kiste aus dem Schrank genommen werden. Das stand groß auf jeder der transparenten Kisten. Direkt neben einem großen Foto, das den Inhalt zeigte. Nic zeigte sehr zielstrebig auf die Kiste mit der großen Ritterburg, die ganz oben rechts im Schrank stand. Er würde noch viele Jahre brauchen, bis er da rankommen konnte. Er brauchte also meine Hilfe. Sprechen wollte er noch nicht. Aber seine Augen waren Aufforderung genug. Ich griff die Kiste mit beiden Händen und platzierte sie auf der großen grünen Kunststoffmatte, die als Spielteppich diente. “Noch was?”, fragte ich Nic beiläufig. Er schüttelte den Kopf und gab sich die größte Mühe mir zu verstehen zu geben, dass ihm diese eine Kiste völlig ausreichte. Er hatte seine Mimik im Griff. Nicht aber seine Augen. Die hatten, einen winzigen Augenblick nach meiner Frage eine weitere Kiste fixiert, die ein Stück tiefer im Schrank stand. Die mit dem großen Drachen, der perfekt zur Ritterburg passte. Nic wollte ganz sicher auch damit spielen. Aber er durfte nicht. Weil so die Regeln waren. Immer nur EINE Kiste. Ich hatte ihm das nur nie gesagt. Ganz bewusst nicht. Er hatte also den Hinweis auf den Kisten gelesen. Und das obwohl er dazu, laut Frau Endermann, gar nicht in der Lage war. Wieder ein Punkt für mich. Nic war geistig fit. Aber er war ein bis ins Mark verletztes Kind, das sich einen sehr stabilen, emotionalen Panzer zugelegt hatte. Einen Panzer, der Stück für Stück Risse bekommen würde. Noch waren wir aber ganz am Anfang.
Also konzentrierte ich mich in der nächsten halben Stunde darauf, mit Nic zu spielen. Wobei ich dabei nicht wirklich Teil seines Spiels war. Er spielte, ich saß bei ihm. Reichte ihm hin und wieder eine Spielfigur von der ich annahm, dass er sie gerade suchte. Hielt mich aber ansonsten komplett raus. Es war sein Spiel. Seine Welt. Ich war vorerst nur ein geduldeter Gast. Damit aber schon viel mehr, als ich es nach einem halben Tag für möglich gehalten hatte. Ich nutzte die Zeit, um intensiv zu beobachten, wie Nic agierte. Beobachtete jede seiner Bewegungen und registrierte jede noch so kleine Unsicherheit, wenn ihm seine eingeschränkte Motorik im Weg stand. Er war in Sachen Feinmotorik bereits wieder erstaunlich geschickt. Was ihm wirklich noch Schwierigkeiten bereitete, waren sehr präzise Bewegungen der Arme. Außerdem registrierte ich, dass er noch nicht wirklich lange aufrecht sitzen konnte. Er wechselte permanent seine Position, um seinen Rücken, bzw. seine Hüfte zu entlasten. Um ihm eine Option zu zeigen, wie er es sich leichter machen konnte, legte ich mich neben die bereits zur Hälfte fertige Burg auf den Bauch und stützte mich auf den Ellenbogen auf. Zunächst geschah nichts. Ich war mir aber sicher, dass Nic sehr genau wahrgenommen hatte, was ich da tat. Keine fünf Minuten später hatte ich die Gewissheit: Nic begann, sich ebenfalls neben seine Burg zu legen. Diese stabile Position gab ihm Sicherheit und erleichterten die nötigen Handgriffe. Na bitte, wer sagt’s denn. Nic schaffte es fast 90 Minuten, komplett in seiner Ritter-Welt zu versinken. Kämpfte gegen schwarze Ritter, baute die von den Angreifern zerstörte Burg wieder auf und befreite die Prinzessin aus den Fängen gefährlicher Raubritter. Zumindest glaubte ich das, aus seinen Spielsituationen herausgelesen zu haben. Geräusche oder Stimme waren noch komplett ausgeschaltet. Der Panzer war extrem dick, soviel stand fest. Er war sogar dick genug, um Nic offensichtlich vor allem abzuschirmen, mit dem Nic, nicht, bzw. noch nicht umgehen konnte, oder wollte. Zum Beispiel seine Ausscheidungen.
Ziemlich genau eine Stunde, nachdem er die Playmobil-Ritterburg aufgebaut hatte, machte Nic in seine Windel. Bevor ich riechen konnte, was gerade vor sich ging, konnte ich es hören. Ich hörte, wie Nics Darminhalt in der Windel landete, hörte das Zischen, als der Urin auf die weiche Zellstoffoberfläche traf. Und Nic? Zeigte nicht den Hauch einer Reaktion. Nichts. Kein kurzes Schütteln. Kein Schnaufen. Kein verstohlener Blick. Keine Tränen. Schlicht nichts. Er spielte einfach weiter und blendete dabei völlig aus, dass seine Windel in der Folge dick aufgequollen und schwer zwischen seinen Beinen hing. Das hatte ich so noch bei keinem unserer Trauma-Patienten beobachtet. Und ich war gespannt, welche Erklärung der Professor dafür hatte. Meiner Ansicht nach war es fast ausgeschlossen, dass ein Achtjähriger in die Hose machte, ohne auch nur den Hauch einer körperlichen Reaktion zu zeigen. Dahinter konnten nicht nur psychische Faktoren stecken.
Autor: Der Beobachter (eingesandt via E-Mail)
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Salü Beobachter
Besten Dank für die beiden weiteren Teile dieser Geschichte.
in den teilen 8 und 9 sind zwar ein paar grammatikfehler. aber dennoch les- und verstehbar. freue mich auf die nächsten teile^^
Würde mich auch wieder riesig freuen wenn weitere Teile kommen <3
Jedes Mal toll da weiter zu lesen..
Weiter so 🙂 Ist echt die beste Geschichten Serie die ich gelesen habe …
Moin danke für diese Geschichte sie ist sehr einfühlsam geschrieben da macht das lesen doppelt spass gerne weiter
Danke für diese schöne und einfallsreiche Geschichte.
Besonders muss ich dein medizinisches, pädagogisches, und psychoanalytisches Fachwissen hervorheben und was mich zu der Frage veranlasst: Ob der Beobachter im pädagogischen oder therapeutischen Sektor arbeitet? Würde mich freuen, wenn du mir die Frage beantworten könntest. Ich selber arbeite in diesem Bereich, aber mit Erwachsenen. Schreib weiter so…
Tenateddy