When 2 become 1 (10)
Windelgeschichten.org präsentiert: When 2 become 1 (10)
Zunächst ging es im Anschluss aber vor allem darum, ihn nicht zu lange in der vollen Windel zu lassen. Die Dinger liefen einfach viel zu schnell aus und außerdem waren Kot und Urin Gift für Nics angegriffene Haut. Ich gab ihm noch maximal ein Stunde. Eine Stunde, dann würde ich ihn ganz langsam aus seiner Welt zurückholen! Mein Timing war dabei gar nicht schlecht, weil es ungefähr zu Nics Aufmerksamkeitsspanne passte. Knapp 45 Minuten, nachdem er “auf dem Klo” war, tauchte er ganz von selbst aus seiner Spiel-Welt auf. Zu meiner Überraschung schien ihn nicht zu irritieren, wo er “ankam”. Ein kurzer Blick zu mir, ein schneller Schwenk durchs Zimmer. Er war wieder hier. Und er konnte sich ganz offensichtlich auch noch sehr genau an alles erinnern. Auch wenn er nach wie vor noch etwas verloren in dem großen Zimmer wirkte, war es für ihn augenscheinlich keine komplett fremde Umgebung mehr. Denn, und das überraschte mich dann doch, nachdem er die meisten Teile der Playmobil-Burg zurück in die Box geräumt hatte, stand Nic auf und machte sich auf den Weg zu einem kleinen Tischchen, auf dem unsere Getränke standen. Er hatte also Durst. Gut, von mir aus gerne. Allerdings kam er erstmal nicht so weit. Denn ungefähr auf halber Strecke schien Nic zu bemerken, dass sich etwas mit seiner Windel verändert hatte. Das eigentlich nur noch von seinem Body und der Leggings an Ort und Stelle fixierte Teil hing schwer zwischen seinen Beinen und störte ihn offensichtlich beim Laufen. “Du brauchst wieder eine frische Windel!”, kommentierte ich die Situation leise aus dem Hintergrund. “Willst du erst was Trinken und dann zu mir rüber zum Wickeltisch kommen?” Ich konnte sehen, dass ihn meine Frage irritierte. Gefragt worden, war er wahrscheinlich in den letzten Monaten sehr wenig. Sein Leben hatte aus Befehlen, Vorwürfen und Erniedrigungen bestanden. Und ich setzte jetzt einen bewussten Kontrapunkt, in dem ich einfach aufstand, um die Ecke zum Wickeltisch ging und mich dort daran machte, alles vorzubereiten.
Viel Zeit nahmen die Vorbereitungen nicht in Anspruch, das Waschbecken füllte sich auf Knopfdruck mit der richtigen Menge warmem Wasser, über einen kleinen Spender gab ich zwei Spritzer Reinigungslotion ins Wasser und zog anschließend eine Einweg-Wickelunterlage unter das Polster des Tisches. Der Rest, also frische Kleidung, Einweg-Handschuhe, Windeln, Cremes und Feuchttücher waren eh griffbereit um den Wickelbereich herum angeordnet. Viel wichtiger war, dass Nic sich daran gewöhnen sollte, Stück für Stück wieder selbst Entscheidungen zu treffen. Unf auf diesem Weg war selbst so eine vergleichsweise winzige und unbedeutende Entscheidung, ob er erst etwas trinken und dann gewickelt werden wollte, ein wichtiger Schritt. Ich wagte es kaum zu atmen und versuchte angestrengt zu hören, was Nic tat. Eine gefühlte Ewigkeit, tat sich nichts. Ich konnte ihn nicht einmal atmen hören. Ganz offensichtlich überforderte ihn die Situation noch etwas. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, welche Kämpfe, Ängste, Fragen und Vermutungen sich gerade in dem kleinen Kerl abspielten. Stark sein, Josh! Jetzt nur nicht schwach werden. Denn natürlich wäre ich gerne zu ihm marschiert, hätte ihn auf den Arm genommen, zum Wickeltisch getragen und ihn anschließend nie wieder losgelassen. Aber mein Bruder war acht Jahre alt, zur Hölle. Ich würde ihn mit meinem Leben verteidigen. Aber ich würde ihm auch einen Weg zurück in sein Leben zeigen. Und dazu gehört es eben auch, in solchen Situationen die Nerven zu behalten. Ich atmete vorsichtig aus und konnte plötzlich hören, wir kleine Füße in Anti-Rutschsocken über blankgewienerten Linoleum-Boden tapsten. Ich konnte die Anti-Rutsch-Dinger an der Unterseite der Socken hören, die beim Gehen ganz charakteristische Geräusche machten. Und Geräusche entfernten sich von mir. Okay, also der Tisch mit den Getränken.
Dann, das leise Zisch einer Wasserflasche, anschließend das Gluckern von Mineralwasser, das in ein Glas gegossen wird. Zum Schluss Trinkgeräusche. Dann, kurze Stille, bevor die Anti-Rutsch-Tapser sich langsam in meine Richtung begaben. Ich lehnte mich bewusst lässig und bemühte mich sehr sorgfältig so zu tun, als würde ich den Beipackzettel einer von Professor Eisslers Spezialcremes zu studieren. Nic ließ allerdings auf sich warten. Ich war mir sicher, dass er direkt an der Ecke stand, sich aber aus irgend einem Grund nicht traute, zu mir zu kommen. Um die Sache ein bisschen alltäglicher zu gestalten, raschelte ich ein wenig mit der Wickelunterlage und klapperte mit ein paar Tiegeln und Tuben in einer der Plastikboxen. Das schien zu funktionieren. Erst erschienen ein paar Finger, dann die Hände an der Ecke. Gefolgt von zwei weit aufgerissenen, dunklen Augen die unsicher, ängstlich und misstrauisch um die Ecke schauten. Ich konnte seine Angst förmlich riechen. Die Angst, etwas falsch gemacht zu haben. Die Angst, dafür bestraft zu werden. Ich sah keinen Grund, darauf einzugehen.
“Ah, Nic! Perfektes Timing, ich bin gerade mit den Vorbereitungen fertig!”, versuchte ich die Situation für ihn zu entschärfen. “Hast du was getrunken?” Ein schnelles, scheues Nicken. “Gut, dann können wir ja loslegen, oder?” Wieder dieses Nicken. Immerhin hatte sich Nic in der Zwischenzeit bis zu mir vorgetraut. “Darf ich dir helfen?”, bot ich ihm mit Blick auf die Höhe des Wickeltischs an. Noch ein Nicken. Ich hob ihn also hoch und legte ihn vorsichtig auf den weich gepolsterten Wickelbereich, der leise knisterte, als ich Nic darauf ablegte. Theoretisch hätte er sich auch diesmal wieder die Hose selbst ausziehen können, allerdings hätte er dann schnell selbst gemerkt, dass seine übervolle Windeln an den Bündchen zwischen den Beinen ausgelaufen war und dort die hellblaue Leggings dunkel gefärbt hatte. Deshalb nahm ich ihm die Sache ab. Nach der Leggings war schnell klar, dass auch Nics Body in die Wäsche musste. Also, einmal das volle Programm. Als ich fertig war, lag Nic nur noch mit der aufgequollenen Windeln und den grünen Strümpfen auf dem Wickeltisch. Die kamen jetzt an die Reihe, bevor ich seine Windel öffnete und die schlimmsten Spuren mit weichen Feuchttüchern entfernte. Dann zog ich das Teil unter ihm vor, rollte es zu einem schweren Paket zusammen und traf mit einem Wurf in den Mülleimer. Strike! Der Rest war bekannt: Ich säuberte Nic sehr gründlich mit weichen Tüchern, tupfte seinen Windelbereich sorgfältig trocken und griff zu einer der Seni-Windeln, die wir für Nic bestellt hatten. Die Senis hatten den Vorteil, extremer Saugfähigkeit bei gleichzeitig erträglicher Dicke. Außerdem wurde sie nur mit jeweils einem Klettband pro Seite verschlossen. Unterm Strich sahen die Senis weniger aus, wie eine unbequeme Inkontinenzeinlage, sondern mehr wie eine kuschelweiche Hightech-Babywindel. Und entsprechend anders fühlten sie sich offensichtlich auch an. Nic machte große Augen, als ich die weiße Windel mit dem kleinen bunten Aufdruck mit nur einem Klebestreifen pro Seite verschloss, Er mochte offensichtlich, was er da spürte, bzw. teilweise sah. Die Windel konnte dennoch nicht die gesamte Nacht über an Ort und Stelle bleiben, auch wenn das die Saugkraft durchaus zugelassen hätte. Aber noch war Nics Haut längst nicht wieder so weit, damit gut klar zu kommen. Deshalb war die Frage nach dem richtigen Schlafanzug auch gar nicht so einfach zu beantworten. Ein normaler Zweiteiler war in der Nacht beim Windelwechsel immer im Weg, ich wollte Nic aber auch nicht mit einer Leggings oder Strumpfhose schlafen lassen. Das war in der Nacht einfach zu eng und unbequem. Ich entschied mich deshalb für einen der modernen Schlafoveralls, die hier in der Klinik verwendet wurden. Die Dinger waren türkis und waren auf der Kinderabteilung zusätzlich mit bunten Zeichentrickfiguren bedruckt. Auf Nics Stapel obenauf lag ein Modell mit lauter kleinen Fußballern, die über den gesamten Overall verteilt waren. Wir erwischten einen Overall ohne Füße, das konnte aber morgen schon wieder ganz anders sein. Deshalb suchte ich für Nic noch dünne Strümpfe aus der Schublade, in der auch Leggings und Strumpfhosen einsortiert waren. In der Schublade daneben waren Jeans und gefütterte Hosen, auf der gegenüberliegenden Seite T-Shirts und Pullover. Die letzte Schublade unten links enthielt Unterhemden und Unterhosen. Wir waren uns aber sicher gewesen, dass Nic die erstmal eine Weile nicht brauchen würde und hatten die Sachen deshalb etwas Abseits eingeräumt. Bis jetzt hatten wir mit fast allen Vermutungen richtig gelegen. Lediglich bei Nics Allgemeinzustand waren wir deutlich zu pessimistisch gewesen. Er hatte bereits am ersten Tag gezeigt, dass er in der Lage war, sehr schnell gewaltige Fortschritte zu machen. Noch so ein Fakt, der meine Wut auf Franziska Endermann steigerte. Sie hatte es offensichtlich ernsthaft versucht, Nic zu helfen. Und dafür würde ich sie zur Rechenschaft ziehen. Egal ob vor Gericht oder sonstwie.
Ich hatte in der Zwischenzeit Nics Arme ins Oberteil der Overalls gefädelt und den Rest unter im platziert. Jetzt konnte ich nacheinander mit zwei weichen Reißverschlüsse die jetzt noch aufgeklappten Bein des Overalls verschließen. Fertig. Nicht unbedingt die Klamotte, mit der man einen Achtjährigen ins Ferienlager schicken würde, aber für den Moment genau das Richtige. “Sobald es dir besser geht, gehen wir beide einkaufen, okay?”, sagte ich ruhig zu Nic, bei dem inzwischen von Minute zu Minute deutlicher wurde, wie müde er war. Klar. Der Jetlag haut normalerweise auch Leute um, die ohne Nics Erfahrungen der letzten Monate herumliefen. “Stephen kennt ein paar sehr coole Klamottenläden, in denen er mit seinen Kindern einkaufen geht. Und genau da fahren wir hin! Erst müssen wir aber noch Frau Endermann loswerden und dich ein bisschen aufpäppeln!” Auch wenn Nic wie gewohnt versuchte, keinerlei Gefühlsregung zuzulassen, reichte alleine die Erwähnung des Namens seiner “Betreuerin”, um seinen Körper in Alarmzustand zu versetzen. Ich konnte sehen und spüren, wie sich Nics gesamte Körper anspannte. “Ich weiß, dass du Angst hast. Aber das ist jetzt vorbei. Ich werde dich keine Sekunde alleine lassen. Weder heute. Noch morgen. Nicht, so lange du das nicht willst!” Ich hatte Nic in der Zwischenzeit vom Wickeltisch gehoben und ihn auf den Arm genommen. Und wie schon direkt nach unserer Ankunft, hatte er sich sofort an mir festgekrallt, wie ein Ertrinkender an einem Stück Treibgut. Ich streichelte ihm sehr vorsichtig über den Rücken und konnte spüren, wie nach und nach die Anspannung seinen Körper verließ. Seine Atmung wurde ruhiger, war aber noch lange nicht auf einem Niveau, das einen ruhigen Schlaf versprach. Dennoch war es allerhöchste Zeit, dass der Junge ins Bett kam. Der Tag morgen würde lang und anstrengend werden. Vor allem emotional. Und ich ahnte, dass es vor allem die Nächte waren, vor denen Nic Angst hatte. Er war einfach zu lange alleine gewesen.
Zum Glück hatte ich eine Geheimwaffe, in die ich große Hoffnung legte. Noch lag diese “Joker” aber in der Schublade neben Nics Bett und wartete auf seinen Einsatz.
Mit Nic auf den Arm ging ich fast in Zeitlupe langsam zu dem großen Bett, in dem er hoffentlich die erste ruhige Nacht seit vielen Monaten verbringen konnte. Während ich durchs Zimmer ging, summte ich “Der Mond ist aufgegangen”. Ich wusste, dass unsere Mutter dieses Lied jeden Abend gesungen hatte. Das war schon bei mir so gewesen und war bei Nic nicht anders. Den Part mit dem Gesang ersparte ich ihm allerdings. Die Melodie musste reichen. Zumindest bewirkte das Lied, dass Nic bald nur noch relativ entspannt auf meinem Arm saß, den Kopf auf meine Schulter gelegt. Sein Herzschlag war jetzt sehr gleichmäßig, die Atmung sehr ruhig. Das änderte sich, als ich ihn vorsichtig ins Bett legte. Statt sich in die Decke zu kuscheln, machte sich Nic steif wie ein Brett und versuchte, sich keinen Millimeter zu bewegen. Er wirkte sehr verloren in dem großen Bett. Ich hatte mit so etwas gerechnet. Zeit für die Geheimwaffe. Zeit für Dieters Einsatz.
Nic beobachtete jede meiner Bewegungen, als ich die Nachttischschublade öffnete. Ich konnte Misstrauen erkennen. Und Angst. Aber auch Neugierde. Jede dieser Gefühlsregung war nachvollziehbar. In den Einrichtungen, in denen er untergebracht war, hatten sie die auffälligen Kinder um diese Uhrzeit mit Medikamenten vollgestopft, um in der Nacht Ruhe zu haben. Und woher sollte er auch wissen, dass das hier nicht wieder so laufen würde? Ich hatte in der Tat die Hoffnung, dass Dieter ihm helfen würde, zur Ruhe zu kommen. Der kleine Stoff-Marienkäfer hatte mächtig gelitten, als Nics Elternhaus in die Luft geflogen war. Ich hatte ihn eingesteckt und dann eine ganze Zeit in meiner Jackentasche vergessen. Als ich ihn fand, weil die Jacke in die Reinigung musste, war das Tauziehen um das Aufenthalts- und Sorgerecht für Nic bereits im vollen Gange. Unsere Mutter hatte mir immer wieder erzählt, wie wichtig das kleine Stofftier für Nic war. Einschlafen ohne Dieter? Ausgeschlossen. In der Obhut des Jugendamtes hatte er lernen müssen, ohne Dieter in den Schlaf zu finden. Es muss furchtbar für Nic gewesen sein. Es stand für mich deshalb außer Frage, dass Nic in seiner ersten Nacht bei mir Dieter zurückbekommen würde. Ich hatte Dieter deshalb zu einem begabten Schneider geschickt, der ihn wieder hergerichtet hatte, ohne ihn in den Neuzustand zurück zu versetzen. Warum auch? Ähnlich wie Nic würde auch Dieter mit seinen Verletzungen klarkommen müssen. Entscheidend war auch gar nicht, wie Dieter aussah, sondern das Dieter keine inneren Verletzungen (mehr) hatte. Denn Dieter war so viel mehr, als nur ein Kuscheltier. Er war Geheimnisträger. Ein Geheimnis, das nur Nic, unsere Mutter, sein Vater und ich kannten: Unter Dieters rechtem Flügel verbarg sich ein kleines Geheimfach, in dem ich einen ziemlich verschmorten roten Schnuller fand. Nic schlief mit Schnuller. Eigentlich schon immer. Und statt ihm das mit Nachdruck abzuerziehen, hatte unsere Mutter akzeptiert, dass er nicht ohne das Ding schlafen konnte. Das war so ihre Art. Sie vertraute immer und zu jedem Zeitpunkt darauf, dass ihre Kinder die richtigen Entscheidungen zur richtigen Zeit treffen würde. Aber sie war auch ein sehr strukturierter Mensch mit klaren Vorstellungen: Geschnullert wurde nur im Bett und nur zur Schlafenszeit. Und Nic hatte sich peinlich genau dran gehalten.
Als Nic erkannte, was ich da hinter meinem Rücken versteckt hielt, war seine Reaktion sehr eindeutig. Er bekam große Augen, die eine unendliche Sehnsucht erkennen ließen. Ich sah, wie er fast schon panisch versuchte, seine Tränen zu unterdrücken. Sah aber auch, dass er sich nicht traute, mir Dieter aus der Hand zu reißen. Ich brachte es nicht übers Herz, ihn leiden zu sehen und legte ihm das kleine Stofftier kommentarlos in die Arme. Sofort verschwand der Marienkäfer in seinen Händen, die direkt im Anschluss begannen, nach dem versteckten Schnuller zu suchen. Natürlich wurden sie fündig, denn natürlich hatte ich den zerstörten Sauger ersetzt. Der sah genau so aus, wie der, der im Feuer geschmolzen war. Ich war sicher kein Fan davon, dass ein Achtjähriger noch mit Schnuller schlief. Allerdings war das ein Preis den ich gerne bereit war zu bezahlen, wenn wir damit Nics Trauma in den Griff bekamen. Noch zögerte er allerdings, sich den Schnuller in den Mund zu stecken. Er hatte viel zu lange ohne seinen Schnuller klar kommen müssen und hatte in dieser Zeit gelernt, möglichst keine Gefühle und Schwächen zu zeigen. Aber hier war es anders. Und das musster er wissen: “Nic, mich stört der Schnuller nicht! Du kannst ihn ab jetzt benutzen, wann immer du magst. Aber: nur im Bett und nur zur Schlafenszeit! Der Blick, den mir Nic daraufhin zuwarf, brach mir fast das Herz. Nic war dankbar. Und unendlich erleichtert, als er sich den Schnuller zwischen die Lippen schob, sich langsam wegdrehte und selig begann, an zu nuckeln. Fast schlagartig wurde seine Atmung ruhig. Den Rest besorgte der Jetlag. Keine 45 Sekunden hatte es gedauert, bis Dieter gemeinsam mit Nic in den Schlaf gefunden hatte. Für den ersten Tag war ich sehr zufrieden. Oder konkreter: ich war fast euphorisch, auch wenn ich mir sicher war, dass Nic nicht durchschlafen würde. Aber das war jetzt auch noch nicht wichtig. Nic hatte erneut ein winzig kleines Stück seines Lebens zurückbekommen. Und nur darauf kam es an!
Ich saß fast eine Stunde neben meinem schlafenden Bruder bis ich sicher war, dass ich die bereits im Flughafen anberaumte Besprechung mit Stephen und dem Detektiv abhalten konnte. Hier im Zimmer. Ich musste unbedingt sofort bei Nic sein, sollte er in der Nacht wach werden. Verlassen zu sein, verlassen zu werden, das war genau diese Art von Enttäuschung, die er im letzten Jahr viel zu häufig erlebt hatte! Und so trafen wir uns in einer improvisierten Sitzecke gegenüber des Wickelbereichs, Stephen, der Privatermittler Mr. Miller und ich. “Alles gut zu Hause?”, wollte ich zunächste von Stephen wissen, dem die letzten Stunden bei seiner Familie sichtlich gut getan hatten. “Die Großen sind ziemlich unausgelastet!”, meinte er lachend. “Ferien sind echt anstrengend! Aber alle haben sich nach Nic erkundigt und sind ganz heiß darauf, ihn endlich kennenzulernen!”. Das war gut. Sehr gut sogar. Stephens Kinderschar wusste viel über Nic, aber natürlich nicht alles. Sie würden, so war der Plan, Nic künftig helfen, sich in seiner neuen Heimat zurecht zu finden. Die Voraussetzungen waren günstig. Alle sechs sprachen etwas Deutsch, da Stephens Eltern aus Deutschland nach Kanada ausgewandert waren. Und sie kannten sich mit “Neuzugängen” aus, die etwas mehr Fürsorge brauchten, als normal. Die Drillinge hatten als Frühchen keinen ganz einfachen Start ins Leben gehabt. Heute waren sie drei sehr stattliche Erstklässler, die von ihrer Krankenhaus-Odyssee lediglich ein paar Sprachdefizite zurückbehalten hatten. Probleme in der Schule gab es deshalb nie. Kein Wunder, wenn man eine große Schwester und zwei körperlich sehr präsente große Brüder hatte, die peinlich genau darauf achten, den Schulalltag für ihre kleinen Brüder so angenehm wie möglich zu gestalten. Noch lag das erste Aufeinandertreffen der Kinder aber in weiter Ferne. Vier Woche, so schätzte ich aktuell, würde Nic brauchen, um einigermaßen stabil genug zu sein, um auf mehr oder weniger gleichaltrige Kinder zu treffen.
“In den nächsten 10 Tagen wird’s deutlich entspannter, da verteilen wir die Kinder gleichmäßig auf unsere Eltern, bzw. Schwiegereltern!”, ließ sich Stephen ein wenig in die Karten schauen. Als wir das geklärt hatten, wandten wir uns Mr. Lewis zu. Dem Privatermittler, der uns bereits vor zahlreichen teuren Fehlschlägen bewahrt hatte. Ein ruhiger, fast stiller Mensch, der es auf eine beängstigende Art und Weise schaffte, in einer Menschenmenge unsichtbar zu werden. Bislang hatte er mit Nics “Fall” noch gar nichts zu tun. Stephen hatte ihm aber bereits angedeutet, dass sich das auch schnell ändern könnte. Franziska Endermann verheimlichte etwas. Etwas, unter dem Nic zu leiden hatte. Und Mr. Lewis sollte herausfinden, was das war! Das Gespräch dauerte nicht lange. Stephen und ich versorgten den Privatermittler mit allem, was wir über die Endermann wussten. Sein Ziel: Hinweise aufspüren. Erklärungen dafür finden, warum die Frau fast ein Jahr lang versucht hatte, Nic in einem Pflegeheim “verschwinden” zu lassen. Ohne Therapie und mit Medikamenten ruhig gestellt. 4 Wochen, so schätzte Mr. Lewis, würde es wohl dauern, bis er in der Lage wäre, belastbare Informationen zu sammeln, zu sichten und zu präsentieren. Damit konnte ich sehr gut Leben. Ich hatte keine Eile. Ich würde Franziska Endermann zur Rechenschaft ziehen. Wie lange das dauerte, war irrelevant.
“Ich habe gesehen, dass Nic sich sehr tapfer schlägt!”, flüsterte mir Stephen zu, bevor er sich auf den Weg nach Hause machte. Ich nickte. Und musste gar nicht viel mehr sagen. Stephen kannte mich, wie kaum ein anderer Mensch auf diesem Planeten. Er konnte spüren, wie erleichtert ich war. “Der Professor ist ebenfalls ziemlich zufrieden mit den ersten 12 Stunden”, fuhr Stephen fort. “Die Medikamenten-Marker in Nics Urin sind noch sehr, sehr hoch. Er geht aber davon aus, dass spätestens morgen Nachmittag praktisch keine Medikamente mehr in Nics Blut sein werden, die sein Bewusstsein irgendwie beeinflussen!” Zum Schluss übergab er mir noch eine kleine Sporttasche. Wechselklamotten und ein paar Kleinigkeiten, die ich morgen brauchen würde. Viel mehr war nicht nötig. Lief alles wie geplant, dann wären Nic und ich morgen um diese Uhrzeit bereits in meinem Haus in den Bergen. Am Beginn vom Rest unseres Lebens.
Im Anschluss vergewisserte ich mich, dass Nic wirklich noch ruhig schlief. Wir waren eigentlich davon ausgegangen, dass vor allem die Nächte ein Problem werden würden. Da waren die Berichte der deutschen Behören eindeutig gewesen. Bislang deutete aber nichts darauf hin, dass Nic schlecht schlief. Das konnte daran liegen, dass er sich bereits relativ sicher fühlte. Ich vermutete allerdings, dass es vor allem Dieter und der Schnuller waren, die es Nic einfach gemacht hatten, in einen ruhigen Schlaf zu finden. Bevor ich es allerdings riskieren wollte, zu Duschen, aktivierte ich die Kamera über Nics Bett und schaltete einen Mitarbeiter des Professors zu, der Nic während meiner Zeit im Bad im Auge behalten würde. Im Zweifel würde er mich sofort informieren. 45 Sekunden später wäre ich dann bereits wieder bei Nic neben dem Bett.
Die Dusche im kleinen Bad nebenan bewirkte Wunder. Das heiße Wasser wusche den “Dreck” des Tages von mir ab. Half mir, die ersten Stunden mit Nic besser einordnen zu können. Dennoch blieb ein Rest Anspannung. Bevor Frau Endermann morgen Nics Papiere nicht herausgerückt hatte, würde sich das auch nicht ändern. Die Voraussetzungen dafür? Wir mussten noch einmal Theater spielen. Mussten so tun, als hätte sie einen hervorragenden Job gemacht. Mussten Nics Lage ähnlich hoffnungslos sehen, wie sie. Und mussten ihr glaubhaft vorgaukeln, dass wir eine Unterbringung in einem Pflegeheim ebenfalls für die beste Lösung hielten und ihr dann auch gleich den passenden Heimplatz präsentieren. Das würde kein Problem werden. Aber wir brauchten auch Nic. Einen Nic, der auch ohne Medikamenten-Dröhnung so aussehen musste, als sei er entsprechend ruhig gestellt. Und dazu musste er Vertrauen fassen. Vor allem zu mir. Als ich mich frisch geduscht wieder in den Sessel neben Nics Bett setzte und die Lehne nach hinten fuhr, streichelte ich über Nics Hand, die halb über die Bettkante hinausschaute. Zu meiner Überraschung griffen seine Finger sofort zu. Die kleine Hand schloss sich um meinen Zeige- und Mittelfinger, ohne dass Nic dabei wach wurde. Ein Reflex. Den ich sehr gerne zuließ. Ich schob unsere beiden Hände vorsichtig auf Nics Matratze, deckte mich mit einer dünnen Decke zu und schloss die Augen. Drei Stunden Schlaf wollte ich mir gönnen. Dann würde ich checken, ob Nic eine frische Windel brauchte.
DIe Nacht war für uns beide überraschend erholsam. Nic war weit davon entfernt, wie ein “Stein” zu schlafen. Immer wieder zuckte er zusammen, wimmerte im Schlaf und wälzte sich im Bett hin und her. Aber er schlief durch. Selbst den Windelwechsel gegen 3:30 Uhr hatte er mehr oder weniger im Halbschlaf über sich ergehen lassen. Ich übrigens auch. Als mich meine Smartwatch um 7 Uhr weckte, fühlte ich mich das erste Mal seit vielen Monaten wieder komplett. Nic war hier. Die erste Nacht war wunderbar verlaufen. Und vieles sprach dafür, dass er sich deutlich schneller würde erholen können, als wir gedacht hatten. Zunächst ließ ich ihn aber mal schlafen. Wir hatten zwar ein relativ eng getaktetes Programm aus Untersuchungen, Gesprächen und Vorbereitungsen zu bewältugen, bevor wir am frühen Abend Franziska Endermann treffen würden, allerdings stand die erste Untersuchung erst um 9:30 an. Zeit genug, um in alle Ruhe zu frühstücken und zu versuchen, Nic in die Badewanne zu bekommen. Er hatte es definitiv nötig.
Autor: DerBeobachter (eingesandt via E-Mail)
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Tja, was soll ich dazu sagen? Die Geschichte ist immer noch top, ich habe eigentlich nichts zu bemängeln. Der größte Pluspunkt ist, neben der psychoanalytischen Perspektive der Geschichte, dass die Erzählzeit sehr gut zur erzählten Zeit passt, die Geschichte wird weder runter gerattert, noch unnötig gestreckt. Ich würde ja sagen, ich freute mich auf den nächsten Teil, aber das wäre leider untertrieben. 🙂
SUPER geschrieben. Tolle Geschichte. Weiter so. 🙂
wow. musste die tränen verkneifen. super geschichte
Jetzt muss ich doch auch mal *endlich* ein Kommentar hier verfassen! 🙂
Lieber Beobachter, ich muss sagen, ich lese deine Geschichten wirklich ausgesprochen gerne! Du schreibst sehr atmosphärisch, aber im Gegensatz zu manch anderem Autor eben so, dass, wie kleiner Anonymous (dessen Kommentaren ich eigentlich bei jeder Geschichte immer voll Zustimmen muss), die erzählte Zeit also trotzdem zur Erzählzeit passt. Das ganze ist nicht so geschwind wie manch andere Windelgeschichte die nach vier Seiten eigentlich schon defakto beendet ist, sondern lässt Raum für Details, für Entwicklung und für die handelnden Charaktere mit all ihren Facetten.
Was mir bei „When 2 become 1“ hingegen nicht ganz so gefällt wie bei „Alles wird besser, vielleicht sogar gut“: Die Kapitel sind kürzer :p Die normalerweise eher ziemlich langen Kapitel von AWBVSG fand ich eigentlich immer besonders toll, weil man sich dadurch auch wieder weiter in die Geschichte „einließt“. Des weiteren fand ich es ein bisschen schade, dass du bei „When 2 become 1“ das Setting von AWBVSG im Prinzip nochmal wiederholst – ein erfolgreicher, Mitten im Leben stehender junger Mann päppelt ein Kind auf – so kommt es mir zumindest aktuell vor. Natürlich hat jeder seineLieblingsmotive und ich muss auch gestehen, das wenn ich eine neue Windelgeschichte anfangen würde diese vermutlich auch wesentliche Überschneidungen mit der aktuellen hätte in Puncto Figurenkonstellation, aber es ist dennoch ein Punkt, der mir aufgefallen ist. Aber es kann ja gut sein, dass da noch etwas kommt, was diese Geschichte zu etwas ganz neuem macht: Denn ich muss sagen, für mich wirkst du wie ein Autor der einen wirklich gut überlegten Plan von seiner Geschichte hat und diesen Schritt für Schritt verwirklicht. Das kann nicht jeder und das merkt man der Geschichte auch absolut positiv an.
Wie gesagt, im Jahre 2017 aktuell meine Lieblingswindelgeschichte, allerdings muss ich da auch den Kommentaren unter früheren Teilen zustimmen: Teilweise schon arg traurig. Ich bin mir sicher, du hast einen Grund das so zu schreiben und ich bin mir auch sicher, dass du weißt was du da tust und ich will dir da auch wirklich nicht reinreden, aber für meinen persönlichen Geschmack ist die Geschichte zeitweise wirklich zu traurig und Negativ. Was aber nicht heißen würde, das ich mich deshalb nicht auch genau so doll auf das nächste Kapitel freuen würde wie alle anderen. Desweiteren möchte ich nochmal ausdrücklich sagen, dass ich die Details in deiner Geschichte auch immer wieder übercool und phantasievoll finde, das Dühnenhaus wo Paul und Phil nach der Kreuzfahrt schlafen mit all der Einrichtung, den Räumen, dem alten und dem neuen Teil, aber auch das riesige Einkaufszentrum. Absolut Fantasievoll entwickelte Szenerie und auch Charaktere und das ist es, was diese Geschichte meiner Meinung nach so gut macht: Es ist eine Geschichte mit Windeln und keine Geschichte über Windeln.
Und ich muss sagen, nach dem Caddilac Escalade und dem Chevrolet-SUV bei AWBVSG erkenne ich bei dir eine Vorliebe für große amerikanische Autos. 😛
Ich kann mich dir da 100% anschließen.
Ich kann dir auch nur zustimmen! Alles wird besser vielleicht sogar gut und When 2 become 1 sind die besten Windelgeschichten die ich je gelesen habe. Vielleicht liegt es an der Schreibweise, vielleicht wirklich daran, dass es Geschichten MIT Windeln sind nicht über Windeln. Ich warte bei beiden Geschichten gespannt auf den nächsten Teil … Grüße von Agnonymus
Freue mich schon auf den nächsten Teil. Weiter so =)
super story ich lese die gerne weiter so freue mich auf die nächste teile ever
Einfach mega beeindruckend, was mich für Gefühle durchströmen wenn ich mich da reinfühle(liegt vielleicht auch daran dass ich psychisch auch solche Tiefen hab und ich deshalb besonders krass drauf reagiere), wirklich heftig. Ich würde ja fast schon sagen ich „fordere“ weitere Teile :3 Bitte mehr davon 🙂
endlich hab ich die zeit gefunden diesen teil auch zu lesen^^.
ich kann nichts negatives über deine geschichte sagen. ich kann dir auch jetzt ncht jedesmal sagen dass ich auf die neuen teile warte (wer nicht;D?)
mach einfach weiter so, und ich bin ganz zufrieden 😀
Sehr gute Geschichte!
5 Sterne!!!