When 2 become 1 (15)
Windelgeschichten.org präsentiert: When 2 become 1 (15)
Das Video war eigentlich wirklich lustig. Und doch spürte ich, dass es mich mehr bewegte, als ich es mir vielleicht selbst eingestehen wollte. Sechs Kinder. Verantwortungsvolle Jobs. Genug Verantwortung um damit drei bis vier Familien auszulasten. Und dennoch hatten Steven und Raissa Zeit, sich um mich zu kümmern. Sich mit ganzer Kraft für Nic einzusetzen. Was hatte ich denn im Vergleich dazu anzubieten? Ich konnte nicht wirklich von mir behaupten, dass mich mein bisheriges Leben nicht komplett ausgelastet hätte. Ganz ohne Kind(er). Rücksicht oder wirkliche Verantwortung hatte ich bislang nur für mich selbst und gelegentliche Lebensgefährtinnen empfunden. Selbst die Besuche der sechs Frederikson-Kids waren im Grunde genommen ein Witz. Jeder der sechs war alt genug, um ein paar Tage mit mir, bzw. bei mir schadlos zu überstehen. Der lässige Onkel von “nebenan” hatte immer reichlich modernes Spielzeug zu Hause und nahm es mit allen Regeln nicht so genau, die zu Hause das Leben in geordnete Bahnen lenkten. Mochten mich die Kids vielleicht nur deshalb so gerne? Weil ich keine Prinzipien hatte? Weil ich mich selbst noch wie ein Teenager fühlte? Wie sollte ich Nic ein zu Hause denn bitte jemals ein stabiles Umfeld bieten. Einen Ort, der ihm Halt gab. Und Sicherheit. Ein Zuhause! Ich konnte es fast körperlich spüren, wie mich die Wucht der Verantwortung, die mir in diesem Augenblick bewusst wurde, drohte zu erdrücken. Ich war überfordert. Mit einem Kind, das noch nicht einmal seit einer Woche bei mir war. “Ich kenne diesen Blick!”, kam es wie aus heiterem Himmel von Steve. Er hatte sein Handy weggesteckt und nippte jetzt lässig an seinem Tee. “Ich sah genauso aus. Bei der Geburt, die ich an Raissas Seite mitgemacht habe. Und natürlich auch, als wir zwischen den drei Brutkästen standen und das zu sehen bekamen, was jetzt unsere Drillinge sind. Und jedes Mal wollte ich davonrennen. Alles in Frage stellen. Den Reset-Knopf drücken!” Ich war nicht in der Lage, darauf etwas zu erwidern. Es gab auch nicht viel zu sagen. Es war völlig ausreichend, dass Steven Worte fand. “Das wirklich großartige an dieser Familiensache ist, dass unsere Spezies dafür gemacht ist, in Familien zu leben. Egal wie groß die Veränderung ist, die man da auf sich zurollen sieht: In dem Augenblick, in dem man sie wahrnimmt, ist sie eigentlich bereits passiert. Zu Anfang reagiert man auf das, was ist. Und irgendwann fängst du dann an, das Leben zu gestalten. Ob du dabei zu zweit bist, oder zu acht, ist nicht relevant. Du erkennst von ganz alleine, was richtig ist, und was nicht. Und glaub mir: Die richtig großen Fehler fühlen sich ganz anders an als alles, was man als Eltern im Alltag so alles falsch macht. Falsch zu machen glaubt!”
Ich wusste, dass er Experte war. Recht hatte. Und doch, gab es da ein Detail, das mir panische Angst machte. “Eltern” hatte Nic nicht mehr. Da war einfach niemand mehr. Er hatte “nur” noch mich. Und ich war nicht sein Vater. Ich würde niemals seine Mutter ersetzen. Aber konnte er es ohne Vater und Mutter überhaupt zurück in ein normales Leben schaffen? Und was war das eigentlich, ein “normales Leben”? “Du vergisst, dass Raissa und ich auch nicht die leiblichen Eltern der Drillinge sind!”, versuchte Steven auf mein Problem einzugehen. “Emotional spielt das aber gar keine Rolle. Sobald du für ein Kind Verantwortung trägst, bist du genetisch vielleicht nicht Vater oder Mutter. Aber du bist die Bezugsperson, die im Idealfall die weitere Entwicklung dieses Menschen entscheidend prägt. Und genau das sorgt dafür, dass du sehr schnell in diese Rolle reinwächst. Dein Vorteil: du bist immerhin mit Nic verwandt. Deine Herausforderung: Er hat für sein Alter viel zu viel mitgemacht. Aber genau deshalb hast du diese Aufgabe bekommen. Du hast die Kraft, die Persönlichkeit, das Umfeld, die Ausbildung und die Liebe in dir, die es braucht, um Nic aufzufangen!”. Ich war nicht nah am Wasser gebaut. Noch nie. Tränen waren nicht meine Art, mit Emotionen umzugehen. Ich empfand vielmehr tiefe Dankbarkeit für Stevens Worte. Er hatte mich erwischt. Hatte mir einen Weg gezeigt. Mehr brauchte ich erstmal nicht. Es gab da einen Weg. Ein winziges Stück Hoffnung. Für mich. Für Nic. Für unsere kleine Familie.
Der Pistenbully hatte sich inzwischen auf wenige Kilometer an sein Ziel herangeschoben: mein Haus, das auch ohne meterdicke Schneedecke für Ortsfremde so gut wie nicht zu finden war. Im Bordcomputer der Pistenraupe waren aber natürlich die genauen GPS-Koordinaten hinterlegt. Außerdem kam der Fahrer hier aus der Gegend und fand den Weg normalerweise auch ohne Unterstützung aus dem Weltall. Im Moment war er aber sicher mehr als froh, dass ihm das Navigationssystem im Fahrzeug den Weg durch die verschneite Landschaft wies. 15 Minuten noch. Endspurt. Keine 60 Sekunden später vibrierte mein Smartphone und verlangte mit einem kurzen Fiepen nach Aufmerksamkeit. Diesmal waren es weder Emma noch Raissa, sondern die elektronische Zugangskontrolle zu meinem Grundstück. Zäune oder Tore im herkömmlichen Sinn gab es hier nicht. Die waren auch aus Umweltschutz-Gründen gar nicht erlaubt. Der “Zaun”, der Haus und Grundstück umgab, war komplett virtuell. Eine digitale Mauer, die sich nur öffnete, wenn sich Menschen mit einem digitalen Schlüssel näherten. Das konnten freigegebene Smartphones sein. Oder winzige Bluetooth-Sender, so genannte Beacons. Der Postbote hatte so einen Beacon im Fahrzeug. Und Stevens Kinder an ihren Rucksäcken. Sensoren, Kameras und Bewegungsmelder überall auf dem Grundstück sorgten dafür, dass niemand unbemerkt zum Haus kommen konnte. Ich war kein allzu ängstlicher Mensch, legte aber großen Wert auf meine Privatsphäre und hatte mir deshalb dieses ziemlich einzigartige System zusammenstellen lassen. Mit einer schnellen Swipe-Bewegung “öffnete” ich das digitale Gittertor für den Pistenbully und wusste damit, dass wir in zehn Minuten zu Hause sein würden.
200 Meter vor dem Haus erwachte ein Teil der Außenbeleuchtung zum Leben. Da ich die Zufahrt für den Pistenbully freigegeben hatte, begleitete das Sicherheitssystem das Fahrzeug jetzt per LED-Leuchten auf den letzten Metern. Noch eine letzte enge Rechtskurve, nach der mein Haus wie aus dem Nichts auftauchte. Sorgfältig platzierte LED-Leuchtbänder erzeugten gerade so viel Licht, dass man das Haus erkennen konnte, wenn man unmittelbar davor stand. Und selbst dann sah man wenig mehr als eine gut gepflegte Holzhütte, wie man sie in den Bergen zu Hunderten fand. Der Fahrer stoppte die Pistenraupe und wendete unmittelbar vor meiner Terrasse. Dank des Kettenantriebs war das kein Problem, das Fahrzeug konnte sich auf der Stelle drehen. Anschließend fuhr das große Fahrzeug mit einem leisen Piepen rückwärts in die Lücke zwischen Haus und Berghang. Auf den ersten Blick konnte der riesige Pistenbully da eigentlich gar nicht durchpassen. Das war aber wie so vielen hier nur die Folge eines geschickten Zusammenspiels zwischen Architekten und Landschaftsgärtnern. In der Tat war die Durchfahrt nämlich exakt auf die Abmessungen des Fahrzeugs ausgelegt. Der Weg führte ein Stück weit in den Berg, wo ein natürlicher Hohlraum eine Art Tiefgarage bildete. Ich hatte die zugewucherte Kaverne nur wenige Tage nach dem Kauf des Grundstücks und der Hütte entdeckt und anschließend mit meinem Architekten lange daran herumgetüftelt, das alte Gebäude mit meinen Anforderungen und den natürlichen Gegebenheiten vor Ort zusammenzubringen. Das Ergebnis war ein sehr traditionell konstruiertes Holzgebäude, das über drei Etagen in den Hang gebaut wurde. Versorgungseinrichtungen, Treppenhäuser und Vorratsräume waren teilweise tief ins Felsgestein getrieben worden. Nur die eigentlichen Wohn- und Aufenthaltsräume lagen an der Oberfläche und waren dort in mächtige Baumwurzeln, Felsspalten und Senken integriert. Tatsächlich hatte sich durch den Bau nichts an der Topologie des Geländes verändert. Ich liebte dieses Haus. Liebte die Kombination aus Holz, Stein und Metall. Liebte die Gerüche, die diese Konstruktion ausmachten. Und natürlich liebte ich den sehr versteckt angelegten Zugang zur Skipiste, die sich 350 Meter entfernt in Richtung Tal schlängelte.
Der Fahrer wendete in der Kaverne erneut und brachte das Heck des Pistenbullys ganz nah an eine massive Wand aus dicken, grob behauenen Baumstämmen heran, in deren Mitte sich der breite Lieferanteneingang meines Hauses befand. Normale Gäste kamen meist durch die Tür vor der untersten Etage des Hauses. In diesem Fall war der Zugang durch die Garage aber komfortabler, weil wir so mit Nic nicht durchs dichte Schneetreiben mussten. Wir hörten das Surren der Treppe, die ausgefahren wurden. Dann öffnete Steven die Tür. Obwohl die Kaverne die schlimmsten Wetterkapriolen aussperrte schob sich die Kälte in Sekundenbruchteilen ins Fahrzeug. Hier unten war es immer kalt. Aber eben auch trocken. Während Nick sich auf den Weg zum Haus machte, hatte ich Nics Kindersitz um 180 Grad gedreht und den Gurt gelöst, mit dem ich in gesicherte hatte. Er war trotz der teils holprigen Fahrt nicht ein einziges Mal aufgewacht, atmete ruhig und gleichmäßig. Und dann war da noch ein Gesichtsausdruck, den ich bislang noch nicht von ihm gesehen hatte. Es war kein echtes Lächeln. Ging aber in die Richtung. Tatsächlich war das ein Ausdruck völliger Entspannung. Als könne er im Schlaf spüren, dass seine Reise durch all den Schmerz, den Verlust und die Verzweiflung hier zu Ende ging. Ich wusste, dass dieses Haus auf mich von Anfang an eine ganz ähnliche Wirkung gehabt hatte. Jetzt also auch auf Nic. Willkommen zu Hause, kleiner Mann!
Als ich mit dem schlafenden, wieder in die Patchwork-Decke gehüllten Nic aus dem Pistenbully stieg, stand Steven bereits in der Tür zum Haus. Und er war nicht allein. Raissa lehne an ihm und ich konnte bereits aus der Entfernung sehen, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. Dieser Augenblick ließ niemand kalt. Und schon gar nicht eine Super-Mutter wie Raissa. Sie schloss uns still in ihre Arme und flüsterte Nic etwas auf Russisch ins Ohr. Ein uralter Segensspruch aus ihrer Heimat, mit dem üblicherweise Neugeborene begrüßt wurden, wenn sie zum ersten Mal in ihr neues zu Hause getragen wurden. Das passte. Nic war zwar sieben Jahre alt, aber dieser Moment war eine Neugeburt. Für ihn. Für uns alle.
Der Schritt über die Schwelle meines eigenen Hauses war ungewohnt für mich. Ich kannte das alles hier in- und auswendig, hatte jeden Stein, jedes Stück Holz und jedes Möbelstück ausgewählt. Warum also die Nervosität? Weil jetzt alles anders war. Weil ich hier künftig nicht mehr alleine leben würde. Weil ich nicht wusste, was Raissa von meiner Einrichtung übrig gelassen hatte. Weil ich Angst hatte, von dem was kommen würde. Morgen. Nächste Woche. In den nächsten Jahren. Ich beschloss mal wieder, die Sache auf mich zukommen zu lassen und folgte Raissa ins Haus. Die Veränderung war sogar zu riechen. Bislang dominierten neben Holz, Stein und Leder den Geruch meines Hauses. Jetzt war da ein Hauch von Frische. Sicher irgend ein Waschmittel. Außerdem war ich mir sicher, Blumen riechen zu können. Ich kannte dieses Potpourri. Aus dem Haus von Steven und Raissa. Das beruhigte mich. Mir würde gefallen, was ich sehen würde. Ganz sicher.
Da wir durch den Nebeneingang kamen, betraten wir den großen, zentralen Aufenthaltsbereich des Hauses nicht wie gewohnt durch das Foyer, sondern kamen neben der Küche ins Gebäude. “Meine” Küche war jetzt zwar immernoch ein überaus beeindruckender Traum aus Felsgestein, schwerem Holz und Edelstahl, von der gewohnten fast schon sterilen Ordnung war allerdings nicht mehr viel übrig. Körbe aus geflochtenem Rinden waren mit allerlei Obst und Gemüse gefüllt, aus zwei alten, hölzernen, kunstvoll übereinander gestapelten Bierkisten wuchsen diverse Kräuter. Meine japanische Messersammlung hatte ihren Platz jetzt über der freistehenden Kochinsel. Ausreichend weit entfernt von neugierigen Kinderhänden. Vor dem aus senkrechten Baumstämmen gezimmerten Tresen zum Wohnbereich standen jetzt schöne, schlichte weiße Hochstühle. Vorher waren dort preisgekrönte, aber eben auch wackelige Design-Barhocker installiert. Ich konnte mir ungefähr vorstellen, was mit dem Inhalt meines Kühlschranks passiert war. Vor allem mit den Fächern, die bislang leer oder Spirituosen vorbehalten waren. Raissa hatte ganze Arbeit geleistet. Alles war noch “meins”. Aber eben darauf vorbereitet, “unseres” zu werden.
Während ich mich Raissa anschließen wollte, um Nic ins Bett zu bringen, bog Steven in die entgegengesetzte Richtung ab. “Ich bastle uns gleich mal ein paar Cocktails! Die haben wir uns mehr als verdient!”. Sollte er ruhig machen. Ich ging allerdings nicht davon aus, dass Nic mich gehen lassen würde. Die erste Nacht in seinem neuen Bett. In einer völlig fremden Umgebung. Da würde er auf keinen Fall ohne mich einschlafen. Sei’s drum. Die beiden konnten auch ganz gut ohne mich anstoßen! Auf dem Weg zu meinem Schlafzimmer, bzw. zu Nics neuem Reich, waren es vor allem die Bilder an der Wand, die mir ins Auge stachen. Ich hatte nie großen Wert auf Dekoration gelegt. Wollte, dass die Materialen und die Architektur für sich wirken konnten. Das taten sie immernoch, mussten sich aber jetzt den Platz mit vielen großen und kleinen Bildern, Gemälden, Fotos und Zeichnungen teilen. Ein paar davon stammten in der Tat aus Nics Elternhaus. Viel war nicht mehr zu retten gewesen. Aber was übrig geblieben war, hing jetzt hier. Raissa und Steven hatten auch diverse Bilder von mir, Nic und ihren Kindern verteilt. Der Effekt war mehr als beeindruckend. Ich konnte die Wärme spüren, die in mein Haus eingezogen war. Und das lag ganz sicher nicht an der voll aufgedrehten Heizung oder dem leise knisternden Feuer im Kamin. Auch wenn ich noch nicht viel gesehen hatte: Es war, als wäre das Haus jetzt endlich komplett. Komplett eingerichtet. Und von den richtigen Menschen bewohnt.
Raissa nahm nicht die erste Tür, die in mein Schlafzimmer führte, sondern ging weiter. In den Bereich des Hauses, den ich bislang nur als Rohbau kannte. Die beiden Räume neben meinem Schlafzimmer waren mal als Büro gedacht gewesen. Oder als Gästezimmer. Oder beides. Unterm Strich hatte ich nie so richtig etwas mit ihnen anfangen können. Ich hatte ja im Haus alles gehabt, was ich brauchte. Und so war dieser Teil meines Zuhauses immer Baustelle geblieben. Bis klar war, dass Nic zu mir ziehen durfte. Ab diesem Zeitpunkt hatte Raissa das Kommando übernommen. Sie hatte mich nur hin und wieder einen Blick über ihre Schulter werfen lassen. Ich wusste, dass sich Nics Zimmer ganz bewusst vom Rest des Hauses unterschied. Metall und Stein gab es dort fast nicht, Glas nur an den riesigen Fenstern, vor denen sich eine herrliche, in einen Felsspalt integrierte Terrasse befand. Der Rest, da war ich mir sicher, bestand komplett aus Holz. Ich kannte die Zimmer, die Raissa und Steven für ihre Kinder gebaut hatten. Designer-Möbel oder teure Eyecatcher gab es da nicht. Statt dessen wundervolle, handwerklich anspruchsvolle Möbel und Einbauten, mit denen aus Kindern Leute werden konnten. Alles was Raissa tat, war auf Nachhaltigkeit ausgelegt. Es war ihr unverständlich, dass Kinderzimmer im Laufe eines Lebens mehrfach neu eingerichtet werden mussten. Mit den richtigen Ideen und den passenden Möbeln musste man es nur ein Mal machen. Dann aber richtig. Und sie hatte es richtig gemacht. Das sah selbst ich als Familien-Laie auf den ersten Blick.
Nics Zimmer sah ein bisschen aus, als hätte man die Bilder einer Hobbit-Höhle aus “Der Herr der Ringe” und Luke Skywalkers Kinderzimmer auf Tatooine übereinander gelegt. Rechte Winkel gab es fast nicht, aber das galt mehr oder weniger ja fürs gesamte Haus. Dafür aber Schränke, Möbel und Regale, die aus altem Holz, bzw. Baumstämmen gezimmert worden waren. Nics Bett war eine in die Wand gebaute Mini-Höhle, fast überall gab es kleine Rückzugsräume zum Spielen, Bauen, Lesen oder sich verstecken. Dazu schwere Teppiche, Decken und Stoffe, alles von einer ausgeklügelten, indirekten Beleuchtung herrlich in Szene gesetzt. Alles war mehr oder weniger multifunktional. Wenn Nic mal keine Lust mehr auf ein Höhlen-Bett haben sollte, ließ sich ein heute als Vorlese-Sofa nutzbarer Futon zu einem sicher sehr coolen Jugendbett umbauen, das Bett in der Höhle wurde dann zum Kleiderschrank. Ich musste nicht viel sagen, um Raissa zu zeigen, wie wundervoll ich das alles fand. Nicht, weil es beeindruckend war. Sondern weil es passte. Zu Nic. Und sogar zu mir. Schlafen, und das wussten wir beide, würde Nic in der ersten Zeit hier wahrscheinlich nicht. Um die Bindung zwischen uns zu festigen, hatten wir gemeinsam entschieden, dass Nic bei mir schlafen würde. Mein Schlafzimmer war entsprechend umgebaut worden, direkt neben meinem Bett fand sich jetzt eine Art kleines Vogelnest, in dem Nic meine Nähe spüren konnte, gleichzeitig aber sein eigenes Bett hatte. Diese Betten gab es in der Klinik auch. Es waren Spezialanfertigungen, die alle Möglichkeiten eines Pflegebettes boten, aber eben nicht so aussahen. Stand heute würden wir nichts davon brauchen. Aber vor allem zu Beginn meines Kampfes um Nic hatte es lange so ausgesehen, als würde er nie wieder ein normales Leben führen können. Ihn jetzt so lebendig und vergleichsweise gesund auf dem Arm zu halten, grenzte für mich nach wie vor an ein Wunder.
Mit sanftem Druck öffnete Raissa eine breite Holztür, die in einen vergleichsweise kleinen Raum führte, und Nics Kinderzimmer mit meinem Schlafzimmer verband. Hier befand sich Nics eigenes Badezimmer, das in der nächsten Zeit aber vor allem als Wickelraum dienen sollte. Dazu war die großartige, aus einem Felsblock geformte Badewanne mit einem Wickeltisch überbaut worden. Auch hier: Warmes Holz, weiche Teppiche und Handtücher. So lange Nic auf Windeln angewiesen war, lagerte der Großteil seiner Klamotten hier. Wenn alles so funktionierte, wie der Professor es angedeutet hatte, konnte das alles in den nächsten drei bis fünf Jahren Stück für Stück wieder zu einem echten Badezimmer werden. Mit einer dicken, verschlossenen Tür zu meinem Schlafzimmer. Nic hatte das Recht auf Privatsphäre. Und die würde er bekommen. Im Augenblick ging es aber eben noch nicht ohne mich. Deshalb gab es zumindest in Richtung Schlafzimmer auch noch keine Tür, sondern lediglich einen dicken weißen Vorhang.
Weil ich es in der Klinik auch immer so gemacht hatte und es sich für mich richtig anfühlte, wollte ich Nic noch schnell wickeln, bevor ich ihn in sein neues Bett brachte. Es war Raissa, die sich mir in den Weg stellte. “Willst du ihn wirklich jetzt aus dem Schlaf reißen?” Gute Frage. Einfache Antwort. Natürlich nicht. Aber ich hatte gesehen, was mit Nics Haut passiert war, als er auf dem Weg nach Kanada fast 24 Stunden nicht gewickelt worden war. “Du hast ihn doch direkt vor eurem Abflug frisch gemacht, oder?”, fragte Raissa mit sanfter Stimme. Ein kurzes Nicken. “Siehste. Dann kann das sehr gut bis morgen warten!” Während sie sprach, schob sie behutsam die Decke, in die ich Nic eingepackt hatte, zur Seite, legte ihm ihre warme Hand auf die Brust und folgte seiner Atmung. “Er spürt die Geborgenheit, die dieser Ort ausstrahlt. Spürt, wie sicher du dich hier fühlst. Mehr braucht es aktuell nicht, um ihn ruhig schlafen zu lassen! Mach dir keine Sorgen wegen seiner Windel! Evan rennt am Wochenende oft bis zum frühen Nachmittag in dem nassen Ding durch die Gegend. Weil 1000 Sachen wichtiger sind, als sich umzuziehen. Und für Nic ist es jetzt wichtig zu schlafen. Hier anzukommen. Die Windel hält locker! Ich hab sechs Kinder, Josh! Wer, wenn nicht ich, kennt sich mit dem Zeug aus!?” 1:0 für Raissa. Die war aber noch nicht fertig. Ihre Hand, die bis jetzt auf Nics Brust lag, wanderte jetzt langsam in Richtung seiner Windel. Mit Daumen und Zeigefinger drückte sich das Polster kurz zusammen und nickte dann zufrieden. “Fast trocken! Und alles andere würdest du riechen!” Jetzt hatte sich mich. Ich hatte keine Ahnung, wie sie das gemacht hatte. “Das kann jede Mutter. Wenn die Windel wirklich voll ist, fühlt sich das beim Zusammendrücken so an, als würdest du in Pudding greifen. Irgendwie pampig. Wenn die Windel noch trocken ist, dann ist es eher so, als hätte man die Finger in dünnem Stroh, das in einer Plastiktüte steckt. Probier’s gerne aus!” Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ein unsicherer Griff. Dann noch einer. Das fühlt sich in der Tat an, wie trockenes Stroh. Oder eher Heu. So einfach war das? “Ja, so einfach ist das!” Du kannst doch ein Baby, oder in diesem Fall ein Kind nicht jedes Mal aus dem Schlaf reißen, nur weil du vermutest, es hätte in die Windel gemacht!” Wieder was gelernt. “Und jetzt bring ihn ins Bett!”
Ich schob mich vorsichtig durch den weißen Vorhang in mein Schlafzimmer. Dort war fast alles wie vorher, nur dass eben neben meinem Bett ein halbrundes Nest aus Holz angebaut war. Ein sehr großes, massives Hundekörbchen, fand ich. Aber bereits auf den ersten Blick sehr bequem. Die Liegefläche war ganz nach oben gefahren, so dass Nic die Chance hatte, sich im Raum zu orientieren, wenn er wach wurde. So war es auch kein Problem, zu mir ins Bett zu klettern. Der Höhenunterschied war minimal. Ich legte ihn wie in Zeitlupe auf die weiche, hellblau überzogene Matratze. Eine separate Decke war nicht nötig. Die Patchwork-Decke war warm genug. “Sie riecht nach dir. Lass sie ihm, so lange es geht. Gewaschen wird das Ding bitte nur, wenn es gar nicht anders geht!” Raissa wieder. Es war unglaublich, wie viel ich von ihr lernen konnte. Lernen musste. “Die Drillingen haben die ersten drei Jahre in einem Bett geschlafen. Auf einem alten T-Shirt von Steven. Weil das nach ihm und mir roch!” Daran konnte sogar ich mich noch gut erinnern. Aber eben auch daran, dass ich damals nicht mal ansatzweise nachvollziehen konnte, wie wichtig das war. Ich hatte das damals nur skurril gefunden. Das war alles so weit weg. Jetzt lag da Nic. In diese Decke eingehüllt, die Finger fest in den Stoff gekrallt. Alleine die Vorstellung, dass ich ihn hätte wieder zurück nach Deutschland schicken müssen, raubte mir beinahe den Atem. Es kostete ja schon fast übermenschliche Kraft, aus dem Zimmer zu gehen. Das wusste Raissa natürlich. Und gab mir etwas Zeit. Ich nahm eine Trinkflasche, die Raissa irgendwo her gezaubert hatte und platzierte sie so neben Nic, dass er sie sofort griffbereit hatte, wenn er aufwachen sollte. Das Teil leuchtete leicht im Dunkeln, er konnte es nicht übersehen. Ich sah nochmal nach, ob er gut zugedeckt war. Aber natürlich auch nicht zu sehr. Zu warm war auch nicht gut. Hatte ich mal gelesen. Ja, ich denke ich war überfordert. In der Klinik war das alles einfach gewesen. Überall Fachpersonal, überall Geräte, die Nic überwachten. Aber jetzt? Wenn Raissa und Steven gleich gingen, dann war ich alleine mit Nic. Mit einem schwer traumatisierten Kind, das bis vor wenigen Monaten noch im Koma gelegen hatte. Ich spürte die Nervosität. Spürt die Verantwortung. Spürte die Angst. “Herzlich willkommen in unserer Welt!”, flüsterte Raissa, als sie mich langsam aus meinem Schlafzimmer zog. “Das geht übrigens nie wieder weg! Dieses Gefühl!” Anders als bei mir standen ihr bei diesen Worten aber keine Schweißperlen auf der Stirn. Im Gegenteil. Da war ein Funkeln in ihren Augen. Ein Strahlen, das mich sofort in seinen Bann zog. “Steven und ich, wir haben jeden Tag Angst um unsere Kinder. Jeder Tag ist ein Abenteuer. Ein Abwägen zwischen Mut und Zurückhaltung. Wir treffen Entscheidungen, die unseren Kindern helfen, zu wachsen. Sich zu entwickeln. Und müssen gleichzeitig dafür sorgen, dass sie dabei nicht unter die Räder kommen!” Ich wusste das alles, verdammt. Ich war Psychologe. Kannte diese Sätze. Von Eltern. Aber das war etwas anderes. Jetzt konnte ich es fühlen. Ich konnte fühlen was es hieß, die Verantwortung für einen anderen Menschen zu haben. Nic war nicht mein Kind. Natürlich war er das nicht. Aber machte das emotional einen Unterschied? “Sicher nicht!”, kam es plötzlich von Steven, der uns entgegen gelaufen war. “Die Drillinge sind genetisch nicht mit uns verwandt! Fühlt sich unsere Verbindung zu ihnen deshalb anders an, als zu Emma? Nein. Familie ist Familie!”
Autor: DerBeobachter (eingesandt via E-Mail)
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???☺️?? Mega cool!!!
Moin da wird man ja richtig gefesselt beim lesen danke und weiterhin kreative stunden