Jona (14)
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Kapitel 14: Dunkle Geheimnisse
Ich legte den Brief von Natalie beiseite. Es war tatsächlich ihr Abschiedsbrief. Irgendwie wünschte ich mir gerade ihn nie erhalten zu haben. Es war schlimm was sie schrieb, mehr als schlimm eigentlich war es unbeschreiblich, ich glaube fatal hätte nicht mal ansatzweise die Erkenntnisse aus dem Brief beschrieben können. Ich stützte meine Stirn auf meinen Händen ab und versuchte zu verarbeiten was ich gerade gelesen hatte.
„Jona? Darf ich mir den Brief ansehen?“ fragte mich Dr. Berger, der meine Reaktion entweder nicht nachvollziehen konnte oder wusste, dass ich ihm gerade keinerlei Informationen liefern konnte, die irgendwie weiterhelfen konnten.
„Ja.“ sagte ich emotionslos und wie fremdgesteuert. Sollte er ihn lesen, er würde verstehen was mich so aus der Bahn geworfen hatte. Ich achtete gar nicht auf ihn. Ich saß einfach nur da und war unfähig irgendetwas zu sagen, zu tun oder zu denken. Ich merkte, dass Dr. Berger den Raum verließ. Ich wusste nicht was er tat, aber es konnte nichts gewesen sein was längere Zeit in Anspruch genommen hatte, denn er war schnell wieder da.
„Jona. Ich habe Helen angerufen. Ich denke es ist sinnvoll, wenn sie dich abholt.“ sagte mir Dr. Berger. Ich zeigte keinerlei Reaktionen. Ich achte auch gar nicht mehr auf Dr. Berger. Ich denke ihm war klar, dass ich in diesem Zustand nicht zu gebrauchen war. Helen hatte er wahrscheinlich nur angerufen, weil er befürchtete, dass ich entweder versehentlich oder absichtlich vor das nächste Auto laufen würde.
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Ich hörte die Klingel der Praxis, das musste Helen sein. Ich hatte mich immer noch nicht gerührt, ich war in einer Art Schockstarre gefangen. Ich wollte Schreien, vor Wut und Frustration, aber ich konnte einfach nicht. Ich fühlte mich als ob ich zum Stillsitzen verdammt wäre. Dr. Berger war wieder nach draußen gegangen. Ich hörte ihn durch die Türe. Was er sagte konnte ich nicht verstehen, die Türe zum Behandlungszimmer war geschlossen. Die Türe öffnete sich langsam und jemand betrat den Raum. Ich sah nicht wer es war, aber die Person kam auf mich zu. Eine Hand strich mir sanft über den Kopf, dann spürte ich zwei Hände, die sich um meine Arme legten. Diese Finger. Ich erkannte sie ohne hinzusehen. Ich bekam eine Gänsehaut bei der Berührung. Meine Arme wurden langsam von meiner Stirn weggezogen und fielen schlaff auf meine Beine. Mein Kopf war immer noch nach unten gerichtet. Die Hände wanderten unter mein Kinn und richteten meinen Kopf, sodass ich nun in der Lage war in Sarahs Gesicht zu sehen. Ihr Blick verriet mir, dass sie sich ebenso fühlen musste wie ich, nur, dass sie nicht dermaßen betroffen von dem Scheiß war wie ich und daher noch in gewissem Maße handlungsfähig war. Sie hatte den Brief bestimmt gelesen, sie verstand warum ich nicht in der Lage war irgendetwas zu tun. Sie sagte nichts, gar nichts. Sie schaute mich einfach nur an. Sie richtete sich ein wenig auf und fiel mir um den Hals. Ich war nicht in der Lage die Umarmung zu erwidern, ich fühlte mich immer noch wie gelähmt.
„Jona ich bin für dich da wenn du möchtest.“ flüsterte sie mir ins Ohr, dann löste sie die Umarmung und setzte sich auf Dr. Bergers Sessel. Ich ließ mich schlaff in den Sessel, auf dem ich saß, fallen und schaute Sarah an. Ich wusste nicht wie lange sie warten wollte? Wollte sie solange warten bis ich in der Lage war wieder etwas zu sagen? Was war mir Dr. Berger? Wollte er mich einfach so hier mit Sarah sitzen lassen? Oder war ihm klar, dass ich ihr mehr sagen würde als ihm? Ich schloss die Augen und versuchte nochmals alle Informationen aus dem Brief zu sammeln und zu ordnen. Ich hörte nochmals die Klingel der Praxis. Ich hatte keine Ahnung ob Dr. Berger noch Besuch erwartete, aber es war mir auch egal. Der sprach wieder mit jemandem. Auch Helen war am sprechen, mit wem und was und worüber konnte ich nicht sagen, ich verstand nicht was sie sagten. Würden sie mich jetzt einweisen, weil sie Angst hatten ich würde mir wieder etwas antun. Ich hatte Antworten auf lange gestellte Fragen erhalten, aber die Antworten rissen neue tiefere Wunden tief in mir.
„Jona. Es ist nicht deine Schuld.“ sagte Sarah leise. Klar war es nicht meine Schuld. Es war die Schuld von dem versoffenen Arsch, er hatte mir alles genommen, alles was ich geliebt hatte. Mein zu Hause, meine Eltern und meine erste große Liebe. Warum konnte mir Natalie nicht einfach sagen was passiert war. War die Hemmschwelle bei ihr so groß gewesen, dass sie es einfach nicht konnte. Ich hätte sie doch nicht von mir weggestoßen, wenn ich es gewusst hätte. Niemals hätte ich das. Bestimmt nicht. Jetzt wo mir alle Zusammenhänge klar wurden, kam mir alles noch sinnloser vor als vorher.
„Warum? Warum? WARUM VERDAMMT NOCHMAL?“ schrie ich Sarah wutentbrannt entgegen. Es war nicht gegen sie gerichtet, aber sie kriegte den angesammelten Frust jetzt einfach ab. Sie würde es mir hoffentlich nicht übel nehmen. Es tat tatsächlich gut einmal meine Wut herauszulassen. Die Türe zum Behandlungszimmer wurde aufgerissen. Dr. Berger, Helen und zwei Polizisten schauten besorgt auf Sarah und mich und dachten wohl ich hätte sonst etwas getan.
„Es ist alles in Ordnung. Hier muss nur jemand seinen Frust rauslassen.“ sagte Sarah ruhig und machte eine Handbewegung, die allen Anwesenden klar machte, dass sie den Raum wieder verlassen sollten. Sie ließen sich Zeit den Raum zu verlassen. Als sich die Türe wieder schloss, begannen bei mir die Tränen zu fließen. Diese widerliche Mischung aus Frust, Unverständnis und Verzweiflung hatte mich wieder in in ihren Bann gezogen.
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Ich wusste nicht wie lange ich mich meinen Tränen hingegeben hatte, aber Sarah saß mir immer noch gegenüber und wartete. Wartete darauf, dass ich wieder halbwegs bei Sinnen war um irgendwie mit der restlichen Welt und vermutlich vor allem mit ihr zu interagieren. Die Geduld hatte sie anscheinend von ihrer Mutter mitbekommen. Es klopfte an der Türe und Helen steckte den Kopf herein. Sarah schaute kurz auf mich, dann auf sie und nickte dann. Helen kam rein und hockte sich kurz neben mich.
„Jona, alles wird gut. Du kannst so lange hier sitzen bleiben wie du möchtest. Sarah wartet mit dir hier. Sarah ich bringe euch eine Kanne Kaffee. Wenn ihr etwas braucht, meldet euch. Ich bin mit Hans im Wartezimmer.“ erklärte sie und verließ den Raum und brachte dann tatsächlich den Kaffee wie sie es bereits angekündigt hatte.
Sarah schüttete den Inhalt der Kaffeekanne in einer der Tassen und hielt sie mir ohne Worte hin. Mein Tränenstrom war inzwischen versiegt. Mit schlaffen und zittrigen Händen nahm ich mir den Kaffee und trank einen Schluck. Es tat in dem Moment gut einen Schluck Kaffee zu trinken. Sarah schenkte mir für die Annahme des Kaffees ein freundliches Lächeln. Ich trank noch einen Schluck und stellte die Tasse auf den Tisch und setzte mich wieder gerade in den Sessel.
„Danke.“ sagte ich leise und fast unverständlich.
„Dafür brauchst du mir nicht danken, wirklich nicht. Darf ich mit dir über den Brief sprechen oder sollen wir das lieber lassen?“ entgegnete sie mir.
„Du hast ihn also gelesen?“ fragte ich unsicher und wollte so meine Theorie bestätigt haben. Sie nickte nur.
„Eine furchtbare Tragödie, die Natalie da geschildert hat. Es ist so sinnlos und ungerecht was euch passiert ist.“ antwortete Sarah.
„Ich wusste es nicht. Bis ich den Brief gelesen habe. Ich habe mich immer nach dem Warum gefragt, dem warum Natalie es getan hat. Jetzt frage ich mich warum sie nicht mit mir gesprochen hat, warum sie den Weg gegangen ist, den sie gegangen ist. Es hätte doch andere Wege geben müssen. Ich hätte sie doch bei allem unterstützt. Bestimmt.“ jammerte ich geradezu.
„Sie hat es niemandem gesagt. Sie konnte es einfach nicht. Sie hat sich die Schuld daran gegeben was mit deinen Eltern passiert ist.“ sagte Sarah.
„Aber warum hat sie mir dann den verdammten Brief geschrieben? Sie hätte mich nicht einfach alleine lassen müssen. Sie hätte abhauen könne oder sonst irgendwas tun können. Zur Polizei gehen oder was weiß ich. Sie hätte so viele Möglichkeiten gehabt, warum gerade diese?“ fragte ich Sarah. Sie würde darauf bestimmt keine Antwort wissen, das wäre einfach unmöglich.
„Weißt du gerade wenn es um die Familie geht sind nicht immer alle Entscheidungen rational möglich. Da kochen Emotionen über und man nimmt dann den Weg des geringsten Widerstands. Ich spreche da sagen wir mal aus Erfahrung.“ antworte sie mir.
„Welche Erfahrungen soll das bitte sein?“ fragte ich. Sarah wirkte nicht so als ob sie ähnliche Umstände erlebt hatte wie Natalie. Dann begann sie zu erzählen.
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Sarahs Erzählung dauerte lange. Sie berichtete viel von ihrer Kindheit als ihre Eltern noch nicht geschieden waren und die Welt für sie noch in Ordnung war. Ihr Vater war erfolgreich, ebenso wie ihre Mutter. Eigentlich eine sagen wir mal Bilderbuchfamilie, aber ihr Vater steigerte sich immer mehr in seinen Job und griff zunehmend zum Alkohol. Ein Teufelskreis wie Sarah feststellen musste, der schlussendlich in einem totalen Absturz endete. Der Tag an dem es passiert war, war eigentlich bis dahin schön verlaufen. Sarah war noch zu jung um die Probleme ihrer Vaters zu realisieren. Was sie damals aber realisierte, war die Tatsache, dass ihre Eltern viel stritten. So wie sie es mir berichtet hatte, war ihre Mutter damals wohl schwanger und Sarah sollte aller Voraussicht nach eine Schwester bekommen. Sie freute sich natürlich tierisch, aber an dem Tag wurden ihre heile Familienwelt jäh zerstört. Es gab einen heftigen Streit, einen sehr sehr heftigen Streit. Helen hatte genug von ihrem Mann und wollte ausziehen und Sarah mitnehmen. Sarahs Vater wollte das nicht auf sich sitzen lassen und wurde laut Sarahs Erzählung das erste und einzige Mal handgreiflich. Dieses eine Mal hatte fatale Folgen. Sarah hatte durch einen Spalt in ihrem Zimmer mitangesehen wie ihre Mutter durch das Handgemenge mit ihrem Vater auf der Treppe den Halt verlor und nach unten stürzte. Helen selbst war nicht viel passiert, aber die Folge war eine Fehlgeburt. Helen hatte es mit Mühe und Not geschafft irgendwie das Telefon zu erreichen und hatte Hilfe rufen können. Vermutlich hatte die Sorge um Sarah unbekannte Kräfte in ihr geweckt. Ihr Mann wurde am selben Abend noch aus dem Haus geschafft. Seitdem hatten weder sie noch Sarah ihn wieder gesehen. Normalerweise wäre es lange genug her, dass Sarah sich daran wohl kaum noch erinnern würde, aber ihr Koma hatte alte Wunden wieder aufgerissen. Sie hatte im Koma final mit ihrem Vater abgerechnet und es ihm ihrer Meinung nach richtig gegeben. Zudem hatte sie die Schwester, die sich schon immer hätte haben sollen, auch wenn sie die über Umwege bekommen hatte und die Ereignisse, die dazu führten nicht weniger dramatisch waren als die übrigen Dinge, die sie mir erzählte. Gut viele Dinge in ihrem Komawahn waren hoffnungslos verdreht, das gestand sie mir schlussendlich auch zudem hatte sie anscheinend einen Weg gefunden aus ihrem Koma eine Art Vorteil zu ziehen, den sie mir aber nicht verraten wollte, zumindest noch nicht.
Ihr Bericht war auch nicht ohne die ein oder andere Träne von ihren Lippen gekommen. Wenn Sarah nach Jahren immer noch mit dem Ganzen so sehr zu kämpfen hatte, wie sehr hatte dann Natalie gelitten. Wenn ich mir ihren Brief in Erinnerung rief, dann wurde sie zu Hause regelrecht schikaniert und ihr Stiefvater war mehr als nur gewalttätig. Irgendein daher gelaufener Assozialer, das war die beste Beschreibung für ihn. Natalies Mutter hatte sich anscheinend wie Sarahs Vater dem Alkohol hingegeben und merkte nicht wie Natalie abrutschte. Ihr Stiefvater hatte mit mir, einem wie er sagte reichen Schnösel, was absolut ungerechtfertigt behauptet wurde, ja meine Eltern verdienten nicht schlecht, aber wirklich reich nein das waren wir definitiv nicht, ein gewaltiges Problem. Natalie war ihm gegenüber hart geblieben, als er ihr den Kontakt zu mir untersagte. Sie hatte mich eben heimlich getroffen. Bis er sich in den Kopf gesetzt hatte mir im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle heiß zu machen. Im Nachhinein hatte ich mehr Glück als Verstand, denn eigentlich wäre ich an dem Abend an dem der angebliche Unfall mein Elternhaus bis auf die Grundmauern niederbrannte auch zu Hause gewesen, wenn mich nicht einer meiner „Freunde“ dazu überredet hätte noch ein Bierchen trinken zu gehen. Aus einem Bierchen wurden zwei und drei und irgendwann sind wir zu ihm getorkelt und ich habe bei ihm auf dem Fußboden gepennt. Das hat mir in dieser Nacht das Leben gerettet. Ein Leben was die letzten Monate wegen vieler offener Fragen und sinnloser Ereignissen eher einem Martyrium gleichte als einem Leben. Das Arschloch hatte mein Elternhaus abgefackelt und wollte mich umbringen. Er hat es Natalie mit einem gemeinen Grinsen vorgehalten und ihr dann gedroht, wenn sie ein Wort darüber verliert, dann würde sie schon noch erfahren wie heiß Feuer wirklich sein kann. Natalie wurde geradezu eingeschüchtert. Jetzt erst merkte ich, dass sie nach dem Brand meine Gegenwart gemieden hatte. Das wurde mir jetzt auch erst richtig klar. Sie rief mich auch immer seltener an. Nur in der Schule wirkte sie halbwegs normal. Sie hatte Angst, Angst um mich und auch um sich selbst. Irgendwann musste sie die Angst so weit getrieben haben, dass sie es nicht mehr ausgehalten hatte und sie dem ein Ende gesetzt hatte. Ein trauriges Ende für ein so wunderbares Wesen, für das ich sie nach wie vor hielt. Ihr dämlicher Stiefvater sollte irgendwo verrotten oder in einem Haus eingesperrt werden, dass man dann anzündete und die einzige Möglichkeit dem zu entkommen wäre der Flammentod oder den Weg den Natalie gewählt hatte.
Ich nahm mir noch einen Kaffee und trank einen Schluck. Ich merkte erst jetzt, dass es draußen schon dunkel war. Hatten wir so lange hier gesessen? Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es bereits nach acht war. Verdammt ich hatte völlig das Zeitgefühl verloren mal wieder. Ich wunderte mich, dass Helen und Dr. Berger noch nicht nach uns schauen kamen. Was hatte Helen gesagt? Wir sollen uns die Zeit nehmen die wir brauchen? Morgen früh mussten wir wieder fit sein, ich konnte mir kaum vorstellen, dass wir nicht zum Unterricht müssten. Lange würde es also nicht mehr dauern bis jemand nach uns schauen würde.
„Jooona?“ fragte Sarah völlig unvermittelt.
„Ja. Was ist denn?“ entgegnete ich. Sie hatte schon wieder diesen komischen Tonfall, den ich öfter bei ihr bemerkte, beim Malen und beim Spielen.
„Lass uns was malen. Das hilft imma wenn man über viele doofe Dinge gesprochen hat, glaub mir.“ sagte Sarah und ging in die Ecke mit den Malutensilien, die ich bereits bei meinem ersten Besuch bemerkt hatte. War das eine Art von Therapie von Sarah? Ich schaute ihr neugierig zu wie sie anfing zu malen.
„Hey du sollst schon mit malen, sonst klappt das nicht. Muss auch nicht schön werden. Komm her und mal was dir gerade in den Sinn kommt ohne drüber nachzudenken.“ forderte sie mich nochmals auf. Ich wusste nicht ob ich sie jetzt am liebsten gelyncht hätte oder nicht. Eigentlich war diese Art von Reaktion absolut unpassend. Sarah wirkte tatsächlich unbeschwerter, trotz der bitteren Vergangenheit, die sie mir enthüllt hatte. Konnte es wirklich funktionieren, dass das Malen eine Art Ventil sein konnte? Müsste ich mich nur darauf einlassen? So wie beim Spielen?
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Wir saßen eine ganze Weile auf den eigentlich viel zu kleinen Stühlen und malten. Ich versuche mich einfach wie Sarah sagte darauf einzulassen und malte was mir gerade in den Sinn kam. Es war schon in gewisser Weise eine Ablenkung von dem Chaos, das in meinem Kopf herrschte. In soweit gab ich ihr tatsächlich Recht, dass es irgendwo hilfreich war. Es kam mir dennoch irgendwie komisch vor einfach nur da zu sitzen und zu malen. Ich legte den Stift, den ich in der Hand hielt beiseite und steckte mich. Der Stuhl war aufgrund seiner Größe auf Dauer sehr unbequem. Auch Sarah legte ihren Stift beiseite und schaute was ich gemalt hatte.
„Ziemlich düster.“ merkte sie an. Ich schaute auch auf mein Bild. Eine Mischung aus schwarz, rot, gelb und orange. Feuer, Schmerz und Leid auf Papier gebannt. Ja es war düster da stimmte ich ihr zu, aber was sollte ich auch anderes malen nach den Erkenntnissen, die ich gewonnen hatte? Ich schaute auf Sarahs Bild. Wirkliche Freude strahlte es auch nicht aus. Ein zweigeteiltes Herz, mit Verletzungsspuren, auf der einen Seite in Flammen und hellleuchtend, auf der anderen Seite schwarz blutend und gefühlt tot. Ein interessantes Motiv musste ich feststellen. Wessen Herz hatte sie damit festgehalten? Ihres oder etwa meins? Irgendwie hätte es meiner Ansicht nach mehr zu mir als zu ihr gepasst.
„Hat es geholfen?“ fragte Sarah plötzlich. Ich konnte nicht wirklich sagen ob es mir geholfen hatte oder nicht, aber ich fühlte mich anders als vorher. Ja alles schmerzte irgendwo immer noch, aber es kam mir so vor als ob der Schmerz und die bittere Erkenntnis für einen Moment von mir abgelassen hätten und in weite Ferne gerückt wären.
„Schwer zu sagen. Möglich, bin mir nicht sicher.“ antwortete ich. Sarah stand auf und setzte sich wieder auf den Sessel. Ich tat es ihr gleich und setzte mich auch wieder auf den Sessel, auf dem ich zuvor auch schon gesessen hatte. Nach den viel zu kleinen Stühlen, war der Sessel noch bequemer als vorher, wie ich feststellen musste. Ich war mir immer noch unschlüssig ob Sarahs Idee mit dem Malen erfolgreich gewesen war oder ob mich einfach nur zu viele gleichzeitig beschäftigten, die sich gegenseitig aufhoben.
„Also mir hilft das eigentlich immer. Aber nicht nur das. Es gibt noch andere Dinge die dir helfen können einfach alles um dich herum auszublenden.“ erklärte Sarah mir. Was sollten das für andere Dinge sein? Warum brachte jede Erklärung von ihr nur neue Fragen mit sich. Warum konnte sie mir nicht einfach erzählen was sie meinte sondern umschiffte das alles immer so verdammt vorsichtig und servierte es mir scheibchenweise. Sie saugte ja nicht Jungfrauen das Blut aus den Adern wie Graf Dracula, sondern…sondern was eigentlich? Ich konnte mir irgendwie immer noch kein Gesamtbild aus allen Einzelinformationen zusammen setzen. Ich wusste sie malte manchmal begeistert. Sie spielte mit großer Begeisterung und dann nutzte sie anscheinend aus einem nicht näher definierten Grund Babyfläschchen und wurde von ihrer Mutter ins Bett gebracht. Achja und anscheinend fand sie Windeln auch nicht schlimm. Ob das jetzt mit dem anderen Dingen im Zusammenhang stand konnte ich nicht beurteilen, aber ich schätzte schon. Alles zusammen ergab einfach kein passendes Gesamtbild. Ich konnte mir ja schlecht eine Sechzehnjährige vorstellen, die so tat als ob sie ein kleines Kind wäre mit allem was dazu gehört. Oder war das tatsächlich die Lösung? Aber warum? Warum sollte man das machen wollen? War das Sarahs Methode um sich von der dunklen grausamen Welt abzukapseln? Baute sie sich eine schöne kleine heile Welt auf oder wie? Nein passte einfach nicht zusammen, das war selbst in meinem, in gewisser Weise, kranken Geist ein zu bizarres Bild, das sich da gebildet hatte.
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Inzwischen lag ich schon wieder mit dem Kopf voller Gedanken in meinem Bett. Sarah hatte mich dazu überredet, dass es wohl langsam aber sicher an der Zeit wäre nach Hause zu fahren. Als sie mir den Vorschlag unterbreitete, hatte ich einen Moment Panik vor der bevorstehenden Nacht. Ich war mir weder sicher ob ich überhaupt Schlaf finden würde und ob ich morgen in der Schule einsatzfähig wäre, konnte ich auch nicht vorhersagen. Das mit der Schule hatte sich aufgrund der doch vorliegenden Ausnahmesituation schnell klären können. Sowohl morgen wie auch übermorgen konnte ich zu Hause bleiben. Übermorgen natürlich nicht wegen der Sache mit dem Abschiedsbrief, sondern wegen Chris Beerdigung, von der ich immer noch nicht wusste ob ich wirklich hingehen sollte oder nicht. Ich wollte auch gerade gar nicht drüber nachdenken. Ich war eigentlich relativ froh, dass ich gerade relativ wenig über Natalie, Chris und meine Eltern nachdachte, das hätte mich nur wieder nach unten gezogen. Was mich jetzt wieder brennend interessierte und der Grund für meine ganzen Gedanken war, war Sarah. Ich konnte mir immer noch kein Gesamtbild über sie machen. Da wir heute wirklich spät nach Hause gekommen waren, hatte Helen ihr auch zu gesagt, dass sie morgen nicht zur Schule musste. Sie meinte zwar es wäre nicht unbedingt nötig, wenn sie nicht gehen würde, aber wirklich dagegen protestiert hatte sie auch nicht. Während ich ein sehr spätes Mittag beziehungsweise Abendessen zu mir nahm, hatte sie mit Helen getuschelt. Ich konnte nicht verstehen was die beiden zu bereden hatten, aber es musste zu Sarahs Vorteil gewesen sein, denn kurze Zeit nachdem Helen kopfnickend zugestimmt hatte, quiekte, ja quieken traf es vermutlich am besten, Sarah vergnügt für sich her und rannte mit einen freudigen „Nacht Jona.“ nach oben. Helen schnappte sich daraufhin eine der Babyflaschen und verschwand kurze Zeit später ebenfalls nach oben. Wieder Mal sehr seltsam. Ich fragte mich was Sarah so erfreut hatte. Helen war eine geraume Weile bei Sarah geblieben, das stellte ich fest als ich auf die Uhr schaute. Es hatte bestimmt eine halbe Stunde, wenn nicht sogar länger gedauert bis Helen wieder in die Küche kam. Ich war gerade mit dem Essen fertig als sie wieder zurück kam. Ich hätte ja am liebsten gefragt was Sarah jetzt so glücklich gemacht hatte, aber ich verkniff mir die Frage. Vermutlich hätte ich keine Antwort von Helen erhalten. Ich musste also wieder einmal damit leben, dass Sarah mehr Fragen aufwarf als Antworten zu liefern. Ich drehte mich noch ein paar Mal mit meinem Bären im Arm hin und her und versuchte zu schlafen, aber es wollte nicht wirklich gelingen.
Autor: Timo (eingesandt via E-Mail)
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WoW, ich bin einfach verblüfft wie man so lebendig schreiben kann, obwohö die Geschichte so traurig ist :/
Ich finde das die Geschichte immer emotionaler wird. Ein kleiner Lichtblick ist die neue Beziehung zu Sarah und Ihrer Mutter. Ich hoffe das die ‚Ersatzfamilie‘ ihm Halt und Schutz gibt und es sich bald bessert.
Ja die Geschichte ist traurig und emotional, es war an manchen Stellen auch nicht einfach sie zu schreiben, gerade die richtige, also traurige, verzweifelte oder ähnliche Stimmung zu treffen ist meiner Meinung nach schwierig, wenn es einem eigentlich gar nicht schlecht geht. Ich möchte die Geschichte natürlich nicht ewig und drei Tage auf diesem Trauerlevel fortführen, deshalb gebe ich einfach schon mal eine kleine Entwarnung. Das Schlimmste habt ihr hinter euch gebracht. Gut es kommt noch die angekündigte Beerdigung und vielleicht noch das ein oder andere unverhergesehene Ereignis, aber grundsätzlich sollte es spätestens nach der Beerdigung (kleiner Spoiler, das ist Kapitel 16) eigentlich langsam bergauf gehen, natürlich nicht von heute auf morgen, aber doch immer stetig. Für die nächsten Wochen seid ihr auf jeden Fall versorgt, bis Kapitel 23 bin ich schon mal fertig geworden und bis Kapitel 23 veröffentlicht wird, werden auch noch weitere Kapitel fertig sein.
Ich will gar nicht, dass das hier endet.
Es ist traurig, aber sehr, sehr realistisch und nach all den Jahren, endlich jemand der Logik anerkennt und entsprechend so schreibt.
Jedes Kompliment wäre nicht mal ansatzweise genug, für so etwas, was du uns anbietest.
Super gut!
Zum allerersten Mal in meinem Leben fang ich bei einer Story an zu heulen.
Ein Beweis mehr dafür, was ein grandioser Schreiber du sein musst.
Ich würde sogar soweit gehen und behaupten, diese Story ist um Welten besser, als Schicksalshafter Ferienbeginn.
Ich hätte nie gedacht, dass ich eine Story abbrechen muss, um wieder zu Sinneb zu kommen.
Sowas ist mir noch passiert.