Die Verwandlung (4)
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Die Verwandlung
Day Six – Déjà vu
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„Shit, ich soll ja noch packen!“, rief Luca plötzlich wie aus dem Nichts und richtete seinen Oberkörper schlagartig auf. „Was, jetzt?“, fragte Finn erschrocken und drehte die Musik leiser während er zwischen Luca, Sarah und Lars auf der Liegewiese des Freibades im Schneidersitz saß. Selbst das allgegenwärtige Lächeln des Jungen glitt aus seinem Gesicht und wich einem Schmollmund. Eigentlich hatte Luca ihm grade erzählt, wie er zuletzt gegen seinen großen Bruder in Battlefield Firestorm gewonnen hatte. Finn war sich relativ sicher, dass Luca sich diese Begebenheit nur ausgedacht hatte, immerhin war Alex viel zu gut in Shootern als das Luca gegen ihn ankommen würde. War trotzdem eine lustige Geschichte. Nun aber wurde es plötzlich ernst.
„Das heißt, du gehst jetzt?“, fragte Finn seinen besten Freund plötzlich ernst, wie es ein Zwölfjähriger mit Verlustängsten dergleichen nunmal fragen würde.
„Ja“, stockte Luca: „ich sollte um fünf zu Hause sein!“. Finn drückte die Pausetaste auf dem Lockscreen seines Handys, sodass statt „New York Narcotic“ von „The Knocks“ plötzlich das Geschrei der anderen Kinder zu den Ohren der Gruppe drang. Die Zeitanzeige oben auf Finns Handydisplay zeigte 17:34 an.
„Dann mal los!“, grinste auch der auf dem Rücken liegende Lars, welcher sich bisher aus dem Gespräch der beiden rausgehalten hatte aber nun auf seine wasserfeste Armbanduhr blickte. Luca schmiss währenddessen eilig sein Handtuch in seinen Rucksack, streifte sich sein Shirt an, schlüpfte in seine Vans-Sneaker und schulterte den Rucksack. Glücklicherweise war das Grüppchen bereits über einer Stunde nicht mehr im Wasser gewesen und Lucas Badehose dementsprechend bereits völlig getrocknet sodass der Zwölfjährige sich die Benutzung der Umkleidekabine sparen konnte.
Schnellen Schrittes lief er über die Graskuppel des Freibades, vorbei an der großen Sandkastenanlage, dem daran angegliederten Volleyballfeld und selbst den kleinen Kiosk würdigte Luca mit keinem Blick. Finn folgte ihm und musste, während Luca schnell ging, rennen um mithalten zu können. Luca war für sein Alter ein ziemlicher Riese, Finn hingegen ein Zwerg. Und Finns Riese verschwand jetzt wohl in den Urlaub.
„Bis in vier Wochen. Zock für mich mit!“, verabschiedete sich Luca, der nun trotz seiner Eile am Eingang des Schwimmbads stehen blieb, erst wehmütig in die Ferne zu den Schwimmbecken sah und dann auf den direkt vor ihm stehenden Finn herabblickte. Wann waren die beiden besten Freunde jemals so lange voneinander getrennt gewesen? Muss eine Ewigkeit her gewesen sein. Letztes Jahr waren sie sogar zusammen in Urlaub gefahren! Finn stellte sich kurzerhand auf seine Zehenspitzen und umarmte seinen besten Freund.
„Ha, Gaay!“, rief plötzlich belustigt eine Jungenstimme aus dem Menschengewühl hinter den Beiden. Verlegen beendete Finn die Umarmung abrupt und blickte nervös umher: „Tobi, du Wichser!“, beschwerte er sich lauthals und aufgebrachter, als der angesprochene es erwartet hätte bei dem grade genüsslich an seinem Calippo-Cola-Eis lutschenden Sechstklässler. Neben Finn und Luca sowie Sarah und Lars war Tobias der Fünfte im Bunde der gemeinsamen Freundes-Clique und hatte grade sein in Finns Augen unfair hohes Taschengeld wie jeden Tag dazu genutzt, sich ein Eis im überteuerten Schwimmbadkiosk zu kaufen. Sauer fischte Finn eine zusammengeknüddelte Servierte vom Boden und kickte sie in Tobis Richtung.
„Heey ist ja schon gut, war nur ein Scherz!“, bemühte sich Tobias um Deeskalation während er die braune Verpackung seines Eises in den überquellenden Mülleimer stopfte und Luca auf der anderen Seite des Zaunes hektisch an seinem Fahrradschloss herumfummelte. „Ich geh wieder zu unserem Lager, kommst du?“, fragte Tobi in Richtung Finn, der ins leere auf die dunkle Holzwand des Kassenhäuschens starrte und welcher grade viel trauriger war als er es selbst von sich erwartet hätte. „Lass mal, geh mal vor!“, murmelte er als Antwort.
„Hey, das war wirklich nur ein Scherz! Alles ok?“, fragte Tobias nun verwundert und überlegte, ob er mit seinem Kommentar wohl zu weit gegangen war.
„Neee, alles ok!“, sagte Finn nun nachdrücklicher und blickte dem leicht erschrockenen Tobias in dessen blaue Augen. Dieser verstand immer noch nicht, ob er grade etwas falsch gemacht hatte und falls ja, was es wohl gewesen sein möge. Etwas ratlos zuckte er mit den Schultern, murmelte ein skeptisches „Okaaaay?“, und verschwand in Richtung der Liegewiese während Finn alleine zurückblieb, sich gegen die dunkelbraune Holzwand lehnte und ins Schwimmbad blickte. Verdammte Scheiße!
Ein merkwürdiges Gefühl von innerer Leere erfüllte Finn während er ziellos über die groben, beinahe schmerzhaft warmen Kiesfliesen wanderte. Vereinzelt trafen ihn Wasserspritzer welche die anderen Kinder beim toben im Schwimmbecken verursachten. Ein blauer Plastikball rollte ihm vor die Füße, den sicherlich jemand beim Wasserballspielen zu weit geworfen hatte. Ohne vom Boden aufzublicken und mit seinen Augen nach dem Ballbesitzer zu suchen kickte Finn den Ball in Richtung Schwimmbecken und schlurfte weiter neben selbigen daher.
Das Grundhausener Sommerbad war ein idyllischer Ort. Während die kleine Stadt beinahe vollkommen in einem Tal lag, lag das Schwimmbad weit oben am Hang und ermöglichte dadurch einen wundervollen Ausblick über das gesamte Gebiet. Aber selbst das würdigte Finn in diesem Moment nicht. Hatte er oft genug gesehen. Stattdessen hockte er sich nun hinter den Rand des längs zum Berg gebauten Beckens welches auf der gegenüberliegenden Seite teilweise in den Berg hineingebaut war, auf dieser Seite hingegen Terrassenartig aus selbigem herausragte. Ein paar struppige, halbvertrocknete Sträucher wuchsen neben ihm aus dem Gras und wenige Meter unter dem grade so traurig dreinblickenden Jungen stand bereits der Maschendrahtzaun welcher das Schwimmbadareal einzäunte.
Geschrei, Lacher und das typische Geräusch, welches die Überlaufrillen eines Schwimmbadbeckens erzeugen, erfüllte Finns Sinne. Dazu der Geruch des vertrockneten Grases unter ihm und das Gefühl der warmen Betonerhöhung in welche das Schwimmbecken eingelassen war und an welche er sich nun anlehnte.
In den nächsten vier Wochen? Finn war unschlüssig, was er in dieser Zeit mit sich anfangen sollte. Sicherlich, Tobi war diese Woche noch da bevor er auch irgendwohin in den Urlaub verschwinden würde, wann Sarah oder Lars sich aus dem Staub machen würde^n, wusste er nicht. Aber das war alles nur halb so cool, wenn Luca nicht da war! Natürlich, Lars war auch ganz lustig und Tobi, wenn er nicht grade mit irgendetwas prahlte, auch ganz in Ordnung und Sarah war definitiv auch echt Okay. Aber eben nur okay.
Eine ganze Weile saß Finn nun dort, blickte auf die Stadt herab und streifte mit seinen Augen durch den Wald am gegenüberliegenden Hang bis ihn auf einmal, ganz plötzlich, die Lust überkam, sich in die Badehose zu pullern. Er wusste selbst nicht so ganz, wie er nun ausgerechnet auf diesen Gedankengang gekommen war, aber die Vorstellung, sich nun hier, mitten im Freibad doch trotzdem vor neugierigen Blicken geschützt, in die Hose zu machen, gefiel ihm ausgezeichnet. Dabei musste er nicht einmal besonders stark. Eigentlich eine optimale Gelegenheit, im Freibad in die Badehose zu pinkeln. Alles was er tun würde müssen, um seinen kleinen Unfall unsichtbar zu machen, wäre, nach vollendeter Tat schnell ins Schwimmbecken hinter ihm zu hüpfen. Langsam streckte er seine Knie, die er bislang zu sich an den Oberkörper herangezogen hatte um seine Arme darauf abzustützen auf welchen er wiederrum gelangweilt seinen Kopf abgelegt hatte. Stattdessen kniete er sich nun hin und blickte herab auf seine wieder oder vielmehr noch vollständig trockene, hellblaue Superdry-Badehose. Dann pinkelte er los. Im Gegensatz zum letzten Mal, als Finn sich im Zimmer des kleinen Fünfjährigen Pauls in die Hose gepinkelt hatte, musste er nun ein wenig pressen, bis es anfing zu laufen. Die cyanfarbene Mitte seiner modischen Badeshorts wich augenblicklich einem dunklen Blau, der Fleck breitete sich aus und Finn fühlte wie sein Po nass wurde. Selbst die orange abgesetzte 28 auf der rechten Seite seiner Shorts wurde dunkler, die Hosenbeine ebenso und schließlich tropfte sein Pipi vor seinen Knien ins Gras. Irgendwie kam ihm diese Szene bekannt vor, dachte Finn sich, doch konnte er sich beim besten Willen nicht daran erinnern, woher.
Hach, diese wunderbare Wärme. Dazu die Gewissheit, sich grade wie ein kleines Kind in die Hose gemacht zu haben. Finn fühlte sich wunderbar und längst war der traurige Ausdruck auf seinem Gesicht dem charakteristischen Finn-Lächeln gewichen.
Völlig mit sich selbst und der Welt zufrieden saß Finn nun da, seufzte hörbar aus und beobachtete für einen Moment den Vogelscharm, der in der Ferne choreografisch umherflog.
Plötzlich schepperte der Maschendrahtzaun vor ihm, als ein kleiner blauer Plastikball gegen ihn flog. Der Ball fiel, wenige Meter von Finn entfernt auf den Rasen und der Zaun wellte noch kurz nach. Dann war es für den Bruchteil eines Augenblickes wieder still, bevor zwei Hände an den Betonvorsprung griffen und sich jemand aus dem Schwimmbecken zog. Finn stockte der Atem.
„Finn! Hast du in Hose gemacht?“, fragte der Junge entsetzt-neugierig, der nun grade aus dem Becken geklettert war um wohl seinen Ball zurückzuholen. Yannik, stellte Finn nach einer aphatischen Schrecksekunde fest und hielt schnell seinen Zeigefinger vor den Mund und sagte „Shhhhh!“ während er so beschämt auf das Gras vor ihm blickte, wie er es sicherlich noch nie in Gegenwart des Zehnjährigen gemacht hatte.
Aber auch Yannik dachte nicht daran zu lachen beim Anblick seines Klassenkameraden in dessen nasser Hose, und starrte ebenso verlegen auf die Betonmauer hinter Finn. Fast jeder andere seiner Mitschüler hätte jetzt wohl zumindest geschmunzelt, viele hätten laut losgelacht und einige hätten es vermutlich direkt allen anderen erzählt. Yannik hingegen war in der Hackordnung der 6c ganz unten und so traute er sich gar nicht, in diesem Moment über Finn zu scherzen. Yannik, der Grund, wieso Finn nicht der kleinste sondern nur der zweitkleinste Schüler seiner Klasse war. Auch wenn die beiden in der Körperhöhe nicht viel trennte, in allen anderen Aspekten des sozialen Gefüges der sechsten Klasse waren sie Welten voneinander entfernt.
Während Finn sein junges Aussehen damit zu kaschieren wusste, möglichst angesagte Kleidung zu tragen und seine Haare jeden Morgen zur Seite geelte, hatte Yannik in den zwei Jahren, seitdem Finn ihn kannte, absolut keinerlei Ambitionen in diese Richtung gezeigt. Yannik sah einfach aus wie ein Grundschulkind. Strubbelig-wilde dunkelblonde Haare die vermutlich höchstens von dessen Mutter ab und zu einmal gekämmt werden würden säumten den Kopf des Zehnjährigen dessen schüchternes Lächeln dem von Finn viel ähnlicher war, als es sich letzterer je eingestehen würde. Dazu dessen stets bunte aber bemerkenswert uncoole Kleidung und seine dunkelblauen Geox-Klettschuhe wie Finn sie zuletzt in der dritten Klasse getragen hatte bevor er feststellte, das Schuhe mit Schnürsenkeln einfach weitaus cooler wirkten.
„Erzähls bitte keinem!“, sagte Finn beinahe schon flehentlich während Yannik unbedarft nach dem Ball, wegen dem er ja überhaupt erst aus dem Becken gesprungen war, griff und sich darüber wunderte, wie kleinlaut Finn plötzlich war. Sicherlich, Finn war nicht einer von denen die ihn immerzu aufzogen. Wenn Lars und andere, manchmal sogar Luca, der einfach keine Gelegenheit, einen Witz zu machen auslassen konnte, Yannik ärgerten, sagte Finn meist nichts. Er fand keinen besonderen Spaß daran, sich über den kindischen Zehnjährigen lustig zu machen, hatte aber auch nicht grade eingegriffen, wenn es seine Freunde taten. Es war ihm einfach egal, dachte Finn von sich selbst.
Dementsprechend verschüchtert stand Finns Klassenkamerad nun vor selbigem und blickte auf den am Betonvorsprung angelehnten Finn herab.
„Bitteee!“, flehte Finn ihn an.
„Ok“, war alles was Yannik leise sagte, bevor er daraufhin wieder voller Vorfreude ins Schwimmbecken sprang und aufgeregt: „Nächste Stufe, Raketenangriff!“ rief und damit wohl das Ballspiel meinte. Er wusste sowieso nicht so recht, was es ihm bringen würde, sich jetzt über Finn lustig zu machen. Was würde das schon ändern?
Soviel zu dem Thema, dachte Finn sich als er an seine Einschätzung, hinter dem Betonvorsprung würde ihn niemand bemerken, zurückblickte. Mittlerweile hatte er seine Beine wieder an seinen Oberkörper herangezogen hatte um sein nicht-so-ganz-Malheur nun besser zu verdecken. Eine Viertelstunde saß er noch da und dachte über den grade erlebten Moment nach während seine Badehose langsam wieder trocknete. Was Yannik nun wohl von ihm dachte? Vielleicht vermutete er, dass Finn sich in die Hose gepinkelt hatte, möglicherweise weil er seinen Klogang zu lange verschoben hatte? Und dass er sich dann anschließend hinter dem Schwimmbecken versteckt hatte, damit es keiner bemerkte? Hm, zumindest das war korrekt, schmunzelte der Zwölfjährige. In Yanniks Augen war er jetzt wohl ein Junge, der sich in die Hose gemacht hatte und irgendwie musste Finn zugeben, dass ihn dieser Gedanke sehr viel weniger misfiel als er eigentlich sollte. Im Gegenteil, es erfreute ihn.
Kurz blieb er noch sitzen, bevor er eillig mit der halb-getrockneten Badehose ins Wasser sprang, kurz unter Wasser abtauchte und alle Spuren vernichtete. Nachdem er ein paar Minuten ziellos im Wasser umherschwamm, verließ er das Becken bereits wieder und lief auf die Liegewiese zu seinen Freunden als wäre nichts geschehen. Finn fischte sein in der Sonne liegendes Handy vom Gras und tippte mit seinen nassen Händen auf dem Touchscreen herum. Wenig später erfüllte Musik wieder diesen Teil der großen Wiese, „Adderal“ von Max Frost.
Es dämmerte bereits, als Finn und Lars schließlich als einer der letzten das Freibad verließen. Nachdem erst Sarah und irgendwann dann auch Tobias nach Hause verschwunden waren, hatten sich der stets ehrgeizige Lars und Finn einen ausgedehnten Tauchwettbewerb geliefert. Entsprechend geschafft waren nun beide, als sie nacheinander den letzten Rest Wasser aus Lars Trinkflasche tranken bevor sie in unterschiedliche Richtungen verschwanden. Eine nach diesem brüllend heißen Tag erfrischend kühle Brise erfasste ihn, während er gemächlich die kleine, menschenleere Straße herunterrollte. Plötzlich virbrierte sein Handy.
„Wann kommst du heute nach Hause?“, las Finn während seine Augen abwechselnd auf die Straße vor ihm und sein grelles Handydisplay blickten. Seit wann fragte ihn sein Vater, wann er nach Hause kam? Finn war erstaunt.
„Gleich“, antwortete er und setzte ein Skateboardemoji ans Ende des Wortes.
Wenig später schloss Finn seine Haustüre auf, hing sein Longboard an der Treppe auf und lief in die Küche in welcher bereits Licht brannte. Seine Eltern saßen beide am Küchentisch, sein Vater auf der linken Seite, seine Mutter auf der rechten. Sie sahen besorgt aus, vor allem seine Mutter. Finn wurde nervös. Hatte er etwas falsch gemacht? Diese Situation grade wirkte so, als hätte er etwas falsch gemacht.
„Möchtest du auch ein Glas?“, fragte seine Mutter, während sie eine Karaffe mit Mineralwasser in der Hand hielt: „Oder musst du erstmal aufs Klo?“
Das fragte seine Mutter ihn jetzt ab und zu, nachdem er angefangen hatte, jede Nacht ins Bett zu machen und sich letztens bei Paul in die Hose gepinkelt hatte. Finn schüttelte wortlos den Kopf. Er musste, aber das wollte er sich aufsparen. Überhaupt, wieso bekam er zu trinken angeboten? Die letzten Tage hatten seine Eltern versucht, darauf zu achten, dass Finn vorm ins Bett gehen weniger trank.
„Ist irgendetwas schlimmes?“, fragte Finn verunsichert nachdem er sein Glas leergetrunken hatte, und kurz erfolglos darauf gewartet hatte, dass einer der Beiden etwas sagen würde.
„Finn …“, sagte seine Mutter, wurde aber von ihrem Mann unterbrochen: „Es geht um dein Bettnässen.“
Der angesprochene nickte.
„Duuu, seit einer Woche machst du jetzt wieder jede Nacht ins Bett und so langsam machen wir uns Sorgen. Bedrückt dich vielleicht etwas? Gibt es etwas, was du uns erzählen willst?“, fragte ihn seine Mutter sanft.
Ja, mich bedrückt dass ich keine Windeln hab!, dachte Finn sich still. Er schüttelte den Kopf: „Nein, also außer das mit dem ins Bett machen. Das ist wirklich blöd. Vor allem das aufstehen und umziehen in der Nacht immer!“ Diese Art von Gespräch machte Finn nervös. So blickte er auf den dunklen Holztisch vor sich und bekam nicht mit wie seine Mutter bei seiner Aussage unwillkürlich zustimmend nickte.
„Ja Finn, das geht uns auch so“, sagte sein Vater zustimmend-schmunzelnd.
„Wir machen uns Sorgen dass mit dir etwas nicht stimmt!“, setzte seine Mutter nun wieder an: „morgen Nachmittag gehen wir zusammen zu Herrn Doktor Brinkler und lassen dich einmal gründlich durchchecken wegen deines kleinen Problemchens!“
„Okay“, antwortete er: „Ich will ja auch, dass das wieder weggeht!“ Das war alles? Da hätte auch eine schnelle Terminankündigung gereicht, dachte Finn sich. Natürlich, die Vorstellung das sein Arzt das mit seinem Bettnässen mitbekam war zwar nicht grade prickelnd, dieses Drama hier aber sicherlich nicht wert.
Es war nicht alles. Das erkannte Finn daran, wie sein Vater erwartungsvoll zu seiner Mutter herüberschaute. Diese blickte auf ihre Hände. Dann setzte sein Vater an, etwas zu sagen: „Weißt …“, weiter kam er nicht, denn nun ergriff doch seine Mutter das Wort: „Du hast ja schon selbst festgestellt, dass es auf Dauer ein ganz schöner Aufwand ist Nachts mit den nassen Betten. Du musst dich waschen und umziehen, wir werden alle aus dem Schlaf gerissen und wie du ja auch mitbekommen hast wird selbst deine Bettwäsche mittlerweile knapp.“
Finn nickte während er mit dem leeren Wasserglas vor sich herumspielte.
„Und weißt du, vielleicht gibt es da eine Lösung, die diese Probleme beseitigt. Damit du nicht mehr jede Nacht mehrfach in einem nassen Bett liegen musst!“
„Jaaaa?“, fragte Finn hoffnungsvoll. Das klang stark nach Windeln! Die Eltern des Zwölfjährigen hingegen hielten den merklich hoffnungsvollen Ton in Finns Äußerung hingegen für ein Zeichen, dass ihre Argumentationskette ihren Sohn überzeugen könnte.
„Weißt du, es gibt sogenannte Pyjamaunterhosen für Kinder in deinem Alter, welche dasselbe Problem haben wie du. Und das ist gar nicht mal so selten, das ist nichts, wofür du dich schämen müsstest! Wirklich nicht!“
Das mussten Windeln sein, von denen sie da grade redete! In Finns Ohren klang das, was seine Mutter grade sagte als wäre es einer Drynites-Werbung entsprungen.
„Du bist wirklich nicht alleine mit diesem Problem“, führte nun auch sein Vater aus: „In deiner Altersgruppe haben immer noch sechs Prozent der Kinder ein Problem mit Bettnässen.“
Das wiederrum klang genau wie aus der Statistiken-Seite der Initative Trockene Nacht! Hatte Finn durch googlen auch schon mal gefunden. Dort waren allerlei Zahlen aufgeführt, die untermauern sollten, dass Bettnässen bei Kindern kein seltenes Problem ist. ‚Was kommt als nächstes? Der Hinweis, dass das heißt, dass in meiner Klasse ein bis zwei Kinder von meinem Problem betroffen sind?‘, fragte er sich Gedanklich. Scheinbar hatte nicht nur er zu diesem Thema recherchiert.
„Das klingt erstmal nach einer trockenen Zahl, aber das heißt zum Beispiel, dass in deiner Klasse inklusive dir ein bis zwei Schüler dieses Problem haben …“
‚Bingo!‘, Dachte Finn sich und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Ein Lächeln, welches auch seine Eltern bemerkten und welches sie fälschlicherweise zu der Annahme bewegte, sie hätten ihren Sohn mit ihrer Argumentation überzeugt. Finn musste nicht mehr überzeugt werden. Ganz im Gegenteil.
„Das ist vor allem ein Angebot an dich“, sagte sein Vater und realisierte dabei nicht, dass er dabei mehr klang als würde er mit einem Geschäftspartner verhandeln als mit seinem zwölfjährigen Sohn dessen Beine noch nicht auf den Fußboden reichten als er so auf dem Küchenstuhl dasaß.
„Am besten überlegst du dir das mal ganz in Ruhe, ganz wie du es willst“, sagte seine Mutter hingegen außerordentlich einfühlsam während sie Finn, dessen Augen nervös hin und hersprangen in dieselben blickte. Finns Herz klopfte: „Ein Pyjamahöschen liegt auf deinem Bett. Wenn du möchtest, kannst du es dir ja nachher mal anschauen und überlegen ob das dir vielleicht hilft.“
Finn wäre am liebsten sofort aufgesprungen, hätte den Stuhl auf den Boden knallen lassen, die Tür aufgerissen, wäre die Treppe hochgestürmt und in sein Zimmer gerannt. Wäre wohl ein kleines bisschen zu auffällig.
„Hmmm …“, murmelte er stattdessen nachdenklich. Was sollte er jetzt am besten sagen? Er entschied sich für gar nichts sondern stand stattdessen langsam auf, ging zum Brotkasten, nahm sich zwei Brotscheiben und öffnete den Kühlschrank: „Hab noch was Hunger“, kommentierte er und setzte sich bald wieder neben seine Eltern. Es entspann ein Gespräch über allerlei belangloses und Finn hatte wirklich Mühe, sich im Zaum zu halten. Er wollte die Windeln! Jetzt! Nur mit halbem Ohr hörte er seinen Eltern zu. Seine Mutter erzählte, dass sie Bald wieder Antonia besuchen würde und fragte Finn, ob er denn nicht wieder mitkommen wollen würde. Er hatte sich doch so gut mit Paul verstanden beim letzten Mal! Finn wollte: „Jau! War echt nicht so übel bei denen letztens. Paul ist echt ein cooler Junge. Aber ich glaub ich geh dann auch mal langsam ins Bett!“, sagte er und stand, beinahe betont langsam auf. Er hatte es nicht eilig, nein, keinesfalls!
Finn musste sich sehr zusammenreißen als er seinen Eltern eine gute-Nacht-Umarmung gab, die Treppe hochschlurfte, langsam durch den Flur ging und schließlich nach dieser verdammten längsten aller Ewigkeiten in der Ranglisten aller langen Ewigkeiten endlich an seiner Zimmertüre ankam.
Da lag sie nun. Müsste Finn einen Soundtrack für diesen Moment komponieren, es würde das verdammt euphorischste Stück Musik aller Zeiten werden. Eine Armada an Streichern, am besten noch eine Querflöte dazu, das volle Register!
Knallweiß mit kleinen pastellfarbigen Blau-Gelben Dreiecken als Aufdruck. Finn nahm sie in die Hand. Kein Zweifel, das war eine Pullup und keine Windel mit Klebestreifen. Seis drum. Das Ding sah quasi aus wie eine Pampers. Im Gegensatz zu den mehr oder weniger dezent blauen Drynites in Unterhosenoptik, bei dieser Pullup hatten sich die Designer wohl nicht so recht bemüht, ihren Zweck zu verschleiern. Selbst Paul wüsste Sofort, dass das, was Finn da grade in seinen Händen hielt, eine Windel war. Wie in Trance befühlte der Zwölfjährige die Stoffvorderseite, zog die Seitenflügelchen auseinander und roch an der Windel. Roch ein bisschen nach einem Drogeriemarkt. Finn konnte es nicht vermeiden, vor Freude leise zu quieken. Schnell blickte er nervös zu seiner Zimmertüre. Geschlossen. Und von unten hörte er noch die Stimmen seiner Eltern, es bekam also keiner mit, was er hier grade trieb. Das war eine echte verdammte Windel, in seinen Händen! Und die würde er nicht gleich abgeben müssen oder so. Nein, die war für ihn bestimmt! Dafür, dass er da reinpullerte! ‚Wie Awesome ist das denn bitte?‘, dachte er sich während er seine Shorts hektisch herunterriss und sich auf sein Bett warf, bereit, das erste Mal seit vielen Jahren wieder eine Windel zu tragen.
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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Die Fortsetzung ist komplett gelungen und wie immer freue ich mich auf mehr 🙂
Sehr gut Geschrieben, bis auf 2/3 Flüchtigkeitsfehler auch keine Rechtsschreibfehler. Auch sehr gute Stilmittel enthalten (z.b. mit den Liedern) .
Allerdings ist die Story mir, auch wenn durch Sprachliche Mittel sehr gut gestaltet, zu Geradlinig/ eine eher Standartstory. Mir fehlt oft einfach der „Pep“ / der „Witz“ an der Story.
Trotzdem bin ich sehr gespannt wie du die Story fohrtführst, denn deine Schreibkünste hast du ja mit „Zweite Chance“ (einer der Besten Geschichten die es hier gibt) unter beweis gestellt.
Danke für dein Kommentar! Die Story folgt aktuell einem bekannten Schema, da hast du recht. Aber du kannst dir sicher sein, würde ich nur eine „Bettnässen um Windeln tragen zu dürfen“-Story schreiben wollen, würde ich nicht so viele Handlungsorte und Charaktere in den ersten Kapiteln einführen. Von daher würde ich sagen: Man darf gespannt sein. 🙂
Danke auch für das Lob zu „Zweite Chance“, in die Geschichte ist auch viel Herzblut hin eingeflossen beziehungsweise fließt immer noch hinein. Im Gegensatz zu „Zweite Chance“ habe ich mir bereits am Anfang die komplette Rahmenhandlung überlegt und weiß jetzt schon, wohin die Story gehen wird. Dementsprechend kann ich auch sagen: Es werden etwa 25 Kapitel, es kommt also noch einiges neues. 😀
Super Schön geschrieben ‼️??
Mach so weiter‼️
Kann Finn dann später auch wieder Klettschuhe tragen? Am besten vom Superfit ‼️
Eine der besten Geschichten, die ich bis jetzt hier gelesen habe. Ziehe meinen Hut vor dir. Er findet es ein schönes Gefühl, wie ein kleines Kind behandelt zuwerden. Die liebevolle und rührende Art von seiner Mutter. Vielleicht kauft Finn sich einen Beruhigungssauger und probiert diesen aus.
Eine echt tolle Geschichte mit sympathischen Charakteren. Schreib bitte unbedingt weiter ???
Wie ich schon beim ersten Kommentar geschrieben hatte, gefällt mir Deine Art zu erzählen sehr gut. Du lässt auch immer die Gefühle der Akteure gut einfließen und sorgst für ausreichend Abwechslung. Besonders schön finde ich, dass nicht gleich so irgendwie schnell hingeworfene Teile gepostet werden, sondern sie doch eine gute Länge haben.
Freue mich schon, wenn es weiter geht und bitte Dich, Dir nicht zuflüstern zu lassen,w as noch alles passieren soll.
Bleibe Dir treu!! 🙂
Die Geschichten dieses Autors sind genial. Wunderbar ausgeschmückt und rundum perfekt. Das Thema ist schon etwas alt, aber ich bin mir sicher, das diese Story trotzdem wunderbar weitergehen wird.
giaci9, du bist in Sachen Windelgeschichten mein größtes Vorbild. Schreibe unbedingt weiter!
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