Wind über Ammeroog (13)
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Was bisher geschah: Vivienne hat von ihrer Kollegin Marita Zugang zu einem Ferienhaus in einer exklusiven, abgelegenen Siedlung auf der Nordseeinsel Ammeroog bekommen, wo sie nun allein Urlaub macht. Auf ihre drei Kinder, Nina, Rike und Stella, passt ihre Schwester Anita auf. Bei einem Spaziergang am Strand erfährt Vivienne , dass eine Sturmflut bevorsteht. Zurück im Haus erfüllt sie sich geheime Wünsche: Sie zieht sich eine Windel und ein Eichhörnchenkostüm an und beginnt zu fantasieren, dass ihre Familie um sie versammelt wäre. Schließlich rennt sie vor lauter Übermut in ihrer Windel hinaus in den Sturm. Nachdem sie auf einem Klettergerüst herumturnt, das kurz darauf zusammenbricht, kommt sie zur Besinnung und rennt wieder ins Haus. Gerade, als sie sich schlafen gelegt hat, hört sie plötzlich ein Klopfen: Es sind Stella und Lukas, zwei junge Wanderer, die von Viviennes Aufzug höchst überrascht sind. Obwohl sie sich schämt, behält sie ihr Kostüm an und lässt sich von den beiden erzählen, wie es sie durch den Sturm zu ihr verschlagen hat. Als Vivienne sich beim Zubettgehen in ihrem Gitterbett verkeilt, wird sie von Stella aus ihrer Lage befreit. Am nächsten Morgen hat der Sturm sich gelegt und Vivienne stellt fest, dass ihr Kostüm zerrissen ist. Nur mit ihrer Windel bekleidet geht sie hinaus und setzt sich an eine Düne, wo sie sich Stella anvertraut: Der Grund für ihren Urlaub und ihr Verhalten ist, dass sie seit einem dramatischen Vorfall auf der Arbeit fürchtet, einen Hirntumor zu haben. In wenigen Tagen wird sie die Testergebnisse bekommen. Der Moment der Vertrautheit wird jäh von Lukas gestört, der Vivienne sagt, dass ihr Handy ständig klingelt. Vivienne rennt zurück ins Haus, um den Anruf anzunehmen.
Es war sicher Anita am Telefon, die sicherstellen wollte, dass Vivienne alles gut überstanden hätte. Dass Vivienne nicht abnahm, würde sicher nicht zu ihrer Beruhigung beitragen.
Während Vivienne ging, hielt sie überkreuz die Arme vor der Brust, in jeder Hand einen Zipfel der Decke, damit sie ihr nicht wegflog. Als ob sie eine Schiffbrüchige oder das Opfer eines Hausbrands war, das man vor einer Unterkühlung schützen wollte.
Zurück im Haus nahm sie die Decke ab und warf sie auf das Sofa. Ihr Handy steckte noch in der Tasche ihres Mantels. Das Start-Display zeigte vier Anrufe in Abwesenheit an. Es war völlig untypisch für Vivienne, so viel zu verpassen. Aber in den letzten Stunden hatte sie einiges gemacht, was völlig untypisch war.
Noch ehe sie das Handy entsperren konnte, flackerten ein grünes und ein rotes Hörersymbol auf, begleitet von dem von ihr gewählten und etwas zu laut eingestellten konservativen Standard-Klingelton. Schnell wischte sie zum Annehmen den grünen Hörer zur Seite und hielt ihn sich ans Ohr.
„Hallo Anita?“ Erst nachdem sie sich gemeldet hatte, wurde ihr siedendheiß bewusst, dass sie nur eine Windel trug. Auch wenn ihre kleine Schwester sie nicht sehen konnte, in diesem Zustand mit ihr zu sprechen war etwas, das sie gerne vermieden hätte.
„Oje“, sagte die Stimme am anderen Ende, „ich wollte eigentlich auch fragen, ob du dich soweit erholt hast, aber wenn du jetzt nicht mal auf die Reihe kriegst, wie ich heiße …“
Vivienne atmete durch. In ihrer Aufmachung mit einer Kollegin zu sprechen, war zwar ebenfalls etwas unangenehm, aber doch noch besser als mit ihrer Schwester. „Marita“, sagte sie, „entschuldige, ich dachte, meine Schwester ruft gerade an. Ich muss mich noch bei ihr melden.“
„Ja, sicher“, sagte Marita, „das kannst du auch gleich. Aber du musst mir jetzt erst mal sagen: Hast du den Sturm gut überstanden?“
„Ja. Ja, doch, alles gut.“
„War sicher eine aufregende Nacht, was?“
„Das kannst du laut sagen.“
„Hör mal, ich habe schon zwei Anrufe reingekriegt von einigen der anderen Hausbesitzer. Die sind zum Teil sehr besorgt. Ich meine … hast du eigentlich schon Nachrichten gesehen oder gehört?“
„Nein, noch nicht. Ich wusste bis gerade nicht, dass ich wieder Empfang habe.“
„Wow, dann weißt du ja noch gar nicht … also, das war einer der schwersten Stürme der letzten Jahre. Die Schäden auf dem Festland sind immens, auf den Inseln aber noch weitaus heftiger. Auf Jemgumeroog ist der halbe Hauptstrand abgetragen worden. Kannst du dir das vorstellen?“
Vivienne war noch nie auf Jemgumeroog gewesen. Immer nur auf Ammeroog. Sie hatte keine Ahnung, wie der Strand auf der Nachbarinsel aussah. „Nein! Das klingt ja furchtbar!“
„Das ist es auch. Bitte sag mir: Wie ist die Lage da draußen?“
„Da kommt schon etwas zusammen, fürchte ich. Bei zwei Häusern scheint das Dach beschädigt zu sein. Ansonsten sind die meisten Schäden in den Gärten.“
„Dach? Du meinst die Reetdächer?“ Marita klang sehr besorgt.
„Ja.“
„Bei welchen?“
„Bei dem gelben mit der schwarzen Tür. Und bei dem mit dem Kiesgarten.“
„Oh, Mist! Sag mal, kannst du mit dem Handy Fotos machen und schicken? Da wären wir dir sehr dankbar.“
„Klar, mache ich.“
„Danke. Und sonst ist alles heil geblieben?“
Vivienne sammelte sich. „Nun, in dem einen Garten steht doch das große Klettergerüst mit der Schaukel …“
„Bei Brevers, ja“, sagte Marita, „ist etwas damit?“
„Es ist zusammengekracht.“
„Was?“
„Ja.“
Marita wirkte ehrlich überrascht. „Das hätte ich nicht gedacht. Das stand doch bombensicher.“
„Ja“, sagte Vivienne, „ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte.“
„Puh. Machst du davon bitte auch ein Foto?“
„Natürlich.“
„Er hat das ganze nämlich nicht auf Video.“
Vivienne war, als hätten sie eisige Finger von hinten an den Schultern gefasst. „Wie war das bitte?“
Marita lachte. „Entschuldige, das verstehst du jetzt nicht. Das ist ein Insider-Witz. Vor ein paar Monaten hat Brevers für den Garten vor seiner Villa auf dem Festland eine Video-Überwachungsanlage installieren lassen. Und weil das ganze so günstig war – nun, günstig, wenn man die Maßstäbe eines mehrfachen Millionärs anlegt, wollte er auch gleich welche vor seinem Haus auf Ammeroog einbauen lassen.“
„Aber das hat er nicht getan?“ Vivienne gab sich Mühe, so beiläufig wie möglich zu klingen. Sie musste sicherstellen, dass es keine Aufnahmen von ihrem nächtlichen Ausflug gab.
„Nein, das hat er nicht.“
Vivienne gab sich alle Mühe, dass Marita am anderen Ende nicht hörte, wie sie vor Erleichterung aufatmete.
„Er hatte uns von seinem Plan erzählt“, sagte Marita, „aber wir haben erstens gesagt, dass unser Generator wohl kaum den erhöhten Strombedarf leisten könnte, und dass es zweitens doch absolut überflüssig wäre. Hier bricht niemand ein. Es kommt schlicht und ergreifend nie jemand vorbei.“
‚Bis auf gestern Abend‘, dachte Vivienne, ‚gestern Abend ist zufällig ein junges Pärchen zu Besuch gekommen. Zum ersten Mal in fünfzig Jahren? Na, da habe ich wohl Glück gehabt.‘
„Er hat es dann eingesehen und keine Kameras installiert. Nun, jetzt hätte es sich wohl gelohnt.“
„Was? Wieso? Wie meinst du das?“
„Na, weil er dann den Zusammensturz des Gerüsts auf Video hätte und du keine Fotos für ihn machen müsstest. Vivienne, ist alles in Ordnung mit dir?“
„Ja, ich … ich bin nur etwas durch den Wind.“
Marita lachte am anderen Ende der Leitung. „Oh ja, das glaube ich. Aber das Wichtigste ist ja, dass du heile geblieben bist. Aber warte, da fällt mir noch etwas ein.“
„Was denn?“ Es war Vivienne nicht ganz recht, das Gespräch noch viel länger weiterzuführen. Sie wollte bald ihre Familie informieren, dass es ihr gut ging. Dass sie noch am Leben war.
„Wir müssen unbedingt sicherstellen, dass die Regenwasseranlage heil geblieben ist. Wenn die einen Schaden bekommen hätte, wäre das ganz großer Mist. Hast du heute schon einen Wasserhahn benutzt?“
„Ich noch nicht, aber …“ Sie biss sich auf die Zunge. Gerade noch rechtzeitig. Sie wollte nicht erzählen, dass sie Besuch bekommen hatte. Das würde nur einen Rattenschwanz an Nachfragen nach sich ziehen, und sie wollte nicht das Risiko eingehen, sich bei einer zu verplappern. „Doch, warte. Ich habe mir Kaffee gemacht.“
„Kaffee? Wir haben doch gar keine Kaffeemaschine?“
„Es war Instant-Kaffee.“
„Ich dachte, du magst keinen Instant-Kaffee?“
Da, es ging schon los mit den Fragen.
„Wenn man ihn richtig macht, geht es.“
„Interessant. Musst du mir bei Gelegenheit mal zeigen.“
‚Hoffentlich hast du es bis dahin vergessen.‘ dachte Vivienne.
„Jedenfalls“, fuhr Marita fort, „ist dir da etwas Komisches aufgefallen?“
„Was sollte mir denn daran aufgefallen sein?“
„Irgendwas. Vielleicht eine Trübung. Oder ein Geräusch in der Leitung.“
„Ich … Nein, aber ich habe nicht darauf geachtet.“
„Hm“, machte Marita nachdenklich, „kannst du mal einen Hahn anstellen und eine Weile laufen lassen?“
„Welchen?“
„Egal. Den nächstbesten.“
Vivienne hätte die Möglichkeit gehabt, ins Bad zu gehen und einen der Hähne dort zu benutzen. Daran hatte sie später noch öfters gedacht. Dann hätte sie einfach die Tür schließen können und ihre Privatsphäre gehabt. Stattdessen betätigte sie arglos den Hebel an der Küchenspüle. Ein Schwall kalten Wassers spritzte in die Spüle.
„Funktioniert es?“ fragte Marita.
„Ja.“
„Und ist etwas damit?“
Vivienne begutachtete den Strahl, der sich aus dem Hahn ergoss. Es war Wasser, normales Wasser. Der Druck war etwas schwächer als bei anderen Hähnen, aber das kannte sie bereits von gestern. Das war doch gestern bereits so gewesen, oder?
Plötzlich bemerkte sie etwas anderes. Der Kaffee meldete sich. Wie lange war sie nicht mehr auf Toilette gewesen? Seit gestern Abend, nicht seit dem Sturm. Ja, das war ein erinnerungswürdiges Wasserlassen gewesen. Und jetzt war es wieder soweit. Es half in keiner Weise, dass neben ihr ein Wasserhahn rauschte. Überhaupt nicht. Sie musste das Gespräch jetzt langsam aber sicher zum Ende bringen.
„Es sieht gut aus.“ sagte sie.
„Ist das Kalt- und Warmwasser?“
„Nein, nur kalt.“
„Mischst du bitte Warmwasser bei?“
Alles, damit es schneller vorüber war. Vivienne betätigte auch den zweiten Hebel. Das Rauschen nahm zu, ebenso wie der Drang in ihrem Unterleib.
„Es ist alles gut.“
„Keine Geräusche?“
„Nein, nichts.“
Marita hörte sich nicht überzeugt an. „Kannst du das bitte eine Weile laufen lassen?“
Vivienne wurde nervös. „Hör mal, ist das wirklich nötig? Kann ich nicht …“
„Bitte. Nur kurz. Nur eine Minute, dann wissen wir bescheid.“
Vivienne wusste darauf nichts zu erwidern. Ohne guten Grund konnte sie diese Bitte nicht abschlagen, und sie hatte keinen zur Hand. „Nun gut, wenn du darauf bestehst.“
„Vivienne, bitte entschuldige, aber ich muss darauf bestehen. Die Aufbereitungsanlage ist schon einmal kaputt gegangen, vor drei Jahren nach einem Hagelschauer, und da ist es zunächst nicht aufgefallen. Es hatte vier Wochen gedauert und drei Menschen sind krank geworden, darunter eine alte gebrechliche Frau. Alle hatten gemerkt, dass das Wasser eine leicht gelbliche Farbe bekommen hatte, aber niemand hat sich etwas dabei gedacht. Wir müssen da sichergehen.“
Vivienne hörte nur mit einem halben Ohr zu. Ihre Gedanken rasten. Sie hatte nicht unbedingt vorgehabt, ein weiteres Mal eine Windel zu benutzen, aber wofür hatte sie sie dann an? Jetzt gerade kam sie ihr sehr gelegen.
Schnell warf sie einen prüfenden Blick zum Wohnzimmerfenster. Sie sah dort nichts von Stella und Lukas. Das konnte zwei Dinge bedeuten: Entweder befanden sie sich noch an der Düne, oder sie waren in den toten Winkel getreten, in den Bereich, der so nahe am Haus lag, dass er vom Fenster nicht mehr eingesehen werden konnte. Wenn das der Fall, müssten die beiden in jedem Moment durch die Tür treten.
Zehn Sekunden. Vivienne würde ihnen zehn Sekunden geben, wenn sie dann nicht da waren, würde sie es riskieren und die Windel ihrer Bestimmung zuführen.
„Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“
„Wie?“ fragte Vivienne. Ich war gerade ein wenig abgelenkt.
„Damit auf das Wasser zu achten, hoffe ich.“
„Natürlich. Damit ist alles gut.“ Sie warf einen kurzen Blick zur Seite und stellte fest, dass das auch der Wahrheit entsprach. Vorsichtig lehnte sie den Rücken gegen die Kante der Arbeitsplatte, stellte sich auf die Zehenspitzen und machte O-Beine. So würde gleich alles leichter gehen.
„So weit, so gut. Wir müssen aber trotzdem die Minute ganz abwarten. Mitunter zeigt sich die Verfärbung erst nach eine Weile. Das ist wirklich sehr tückisch.“
Die Tür ging auf, und Stella und Lukas kamen herein. Sie waren im toten Winkel gewesen. Es war die weniger wahrscheinliche Möglichkeit gewesen, aber auf Wahrscheinlichkeit war in letzter Zeit wenig Verlass. Es wäre also nicht angebracht, in die Windel zu machen.
Doch ihr Körper konnte dem Befehl zum Einhalt nicht mehr gehorchen. Zu einladend war die Haltung geworden, die Vivienne angenommen hatte, und es schoss aus ihr. Das Wasser floss. Kaltwasser. Warmwasser. Harn.
Stella und Lukas bemerkten sie nicht sofort, als sie eintraten. Ihr Blick war auf ihre Rucksäcke gerichtet, die vor der Badezimmertür standen. Würden sie jetzt etwas sagen, würde Marita sie hören. Schnell riss sie den Zeigefinger vor den Mund und bedeutete ihnen zu schweigen. Lukas sah sie als erste, und runzelte zunächst die Stirn, als er Viviennes bebenden Zeigefinger sah. Und dann starrte er.
„Was ist los?“ fragte Stella, glücklicherweise leise, dann drehte sie sich um und ihre Augen wurden groß.
Vivienne konnte es nicht aufhalten. Es strömte aus ihr, und ihre Gäste sahen, was sie tat. Es war ihr aber schon nicht mehr peinlich. Sie war über den Punkt hinaus, an dem ihr vor den beiden noch etwas peinlich war. Sie machte sich in die Windel? Na klar, warum denn nicht auch noch? Sie hatte nur Angst, wie sie reagieren würden. Dass sie wütend sein würden. Wie weit war Lukas jetzt damit, sie zu akzeptieren? Und hatte sie bei Stella den Bogen jetzt auch überspannt?
Am schlimmsten wäre, wenn sie etwas sagen und Vivienne verraten würden.
„Warte!“, rief sie laut und unterbrach Marita bei was auch immer diese ihr gerade erzählte, „ich glaube … ach nein.“ Wenn sie selbst redete, würden die beiden gehemmter sein, ihrerseits etwas zu sagen. Außerdem könnte sie sie so übertönen.
„Was? Was glaubst du?“ fragte Marita.
„Ich dachte, ich hätte da gerade eine Verfärbung im Wasser gesehen.“ Gelblich. „Aber ich habe mich geirrt. Die Sonne ist bloß raus gekommen.“ In Wirklichkeit schimmerte sie seit Vivienne wach geworden war trüb durch graue Schleier.
„Bist du sicher, dass es nur die Sonne ist?“
„Ja. Ja, ich bin ganz sicher. Keine Sorge, mit dem Wasser ist alles in Ordnung. War das jetzt eine Minute?“
Die skeptische Marita war anscheinend endlich gewillt sich etwas zu beruhigen. „Ja, das war eine. Okay, dann scheint ja wenigstens mit dem Wasser alles gut zu sein. Machst du dann bitte noch die Fotos und schickst sie mir?“
Zwischen Viviennes Beinen wurde es warm. Genügsam sog das Vlies ihr Wasser auf. Noch immer lief es, und noch immer stand sie in ihrer auffälligen Pose, das Becken leicht nach vorne gestreckt, in den Raum rein, hinüber zu ihren Gästen, die es nun schafften, den Blick von ihr zu lösen und stumm miteinander kommunizierten.
„Ja. Natürlich. Das habe ich doch versprochen. Ich mache mich gleich daran, nachdem ich mit meiner Familie gesprochen habe.“
„Danke, Vivienne. Das ist echt super von dir. Das ist wirklich ein Segen, dass du da bist. Wir alle in der Siedlung sind dir sehr dankbar.“
Herr Brevers wäre es vermutlich nicht, wenn er Aufnahmen von gestern Nacht hätte.
„Keine Ursache. Das mache ich doch gerne.“
Vivienne spürte, wie ihr Strom langsam zum Erliegen kam.
„Ich hoffe, dass du dich trotz allem etwas entspannen konntest.“ sagte Marita.
„Nun, es war aufregend, aber … doch, auch entspannend.“
„Das freut mich zu hören. Dann genieß deine restliche Zeit. Danke für alles, Vivienne!“
„Ich muss dir danken.“ sagte sie, während sie ihre letzten Tropfen in das Vlies presste.
„Auf Wiederhören!“
„Wiederhören.“
Vivienne drückte auf das rote Hörersymbol, legte das Handy auf der Küchenzeile ab und stellte sich wieder aufrecht hin. Sie schaffte es nicht, den beiden ins Gesicht zu sehen, aber sie spürte, wie sie sie ansahen. Nach etwa zehn Sekunden realisierte sie, dass das Wasser immer noch voll aufgedreht war. Sie schloss den Hahn.
Sofort änderte sich die ganze Stimmung um Raum. Statt des Rauschens lag da jetzt eine bedrückende Stille, die darauf wartete, von Worten der Entschuldigung gefüllt zu werden.
Vivienne seufzte. „Ich schätze, dass ich da etwas zu erklären habe.“
Sie ließ es erst einmal im Raum stehen, um zu sehen, wie die Stimmungslage bei Stella und Lukas war. Stella antwortete, mit bedacht gewählten Worten. „Nun … wenn du schon eine … Windel trägst … es überrascht uns nicht, dass du sie benutzt. Wir hätten nur nicht gedacht …“
„Ich wollte nicht, dass ihr mich dabei seht, okay?“, sagte Vivienne, „ich dachte, dass ihr noch am Strand seid. Ihr habt mich überrascht.“ Sie atmete tief durch, dann lachte sie einmal kurz verlegen. „Schon wieder.“
Stella stieß auch etwas aus, was ein wenig wie ein Lachen klang. „Scheint, als hätten wir eine Gabe, ungelegen bei dir reinzuplatzen.“
„Das kann man so sagen“, sagte Vivienne und lachte, ein wenig gezwungen. „Es tut mir leid“, sagte sie noch einmal, „wirklich.“
„Schon gut“, sagte Stella, „Entschuldigung angenommen.“
Es war immer Stella, die antwortete.
„Lukas?“ fragte Vivienne.
Er zuckte fast zusammen, als sie seinen Namen sagte. „Hm?“
„Ich möchte mich entschuldigen, dass du mich so gesehen hast. Und … auch wegen vorhin.“
„Wegen vorhin … ja …“ sagte er langsam. Er nahm die Entschuldigung nicht einfach an. Das registrierte Vivienne ganz genau.
Stella räusperte sich. „Also … ihr entschuldigt mich jetzt mal bitte … aber ich müsste dann auch mal.“ Sie zwinkerte Vivienne zu. „Und ich gehe dazu aufs Klo. Ich bin nämlich schon groß.“
Vivienne ahnte dumpf, dass dieser Kommentar freundlich gemeint war, aber sie war gerade so verunsichert, dass sie nicht anders konnte als die junge Frau verwirrt anzuglotzen.
Nachdem Stella die Badezimmertür hinter sich geschlossen hatte, räusperte sich Lukas. „Sorry. Stella hat manchmal einen merkwürdigen Sinn für Humor.“
Vivienne winkte ab. „Kein Problem. Und nochmal: Ich bin diejenige die sich entschuldigen muss. Wirklich, ich sehe ja, wie unangenehm mein Benehmen für dich ist. Ich … ich hätte nur gedacht, dass …“ Vivienne stockte. Sie wusste nicht, wie sie den Satz beenden konnte, ohne wie ein Vollidiot zu wirken.
„Was hattest du gedacht?“ fragte Lukas in die Pause. Vivienne hoffte für Stella, dass er mit den Jahren noch etwas lernen würde, Situationen zu lesen.
„Ich weiß auch nicht“, sagte Vivienne, „ich bin gerade etwas verwirrt.“
Lukas nickte. „Das verstehe ich. Ich habe gerade noch mit Stella gesprochen. Sie hat mir alles erzählt.“
Vivienne warf Lukas einen fragenden Blick zu. Dass Stella ihm wirklich ‚alles‘ erzählt hatte, wagte sie zu bezweifeln.
„Es tut mir wirklich leid.“ sagte er. Von ihrem Tumor wusste er also.
„Danke“, sagte Vivienne, „Anfang nächster Woche weiß ich mehr.“
„Ich drücke die Daumen.“
„Danke.“
Das Gespräch geriet erneut ins Stocken. Vivienne schielte zur Badezimmertür. Auch wenn sie sich jetzt mit Lukas ausgesprochen hatte, mit Stella wäre die Situation doch unverkrampfter.
„Willst du nicht deine Windel wechseln?“
Vivienne fuhr überrascht herum. Sie sah noch, wie sich sein Zeigefinger senkte. Hatte er auf ihre Windel gezeigt?
„Bitte?“ fragte sie, vielleicht eine Spur zu scharf. Er zuckte etwas zusammen. „Ich meinte nur … also … du stehst doch jetzt da, in deiner … ähm …“
Vivienne musste lachen. Sie konnte nicht mehr anders reagieren. Lukas war begabt darin, die Dinge noch peinlicher zu machen, als sie es ohnehin schon waren. Er sah sie überrascht, ein wenig verängstigt an, und in seinem Blick lag die Frage, ob er etwas Falsches gesagt hatte. ‚Ja‘, dachte sie, ‚hast du.‘
„Ja. So stehe ich da.“ sagte sie stattdessen, und ersparte ihm somit das Wort auszusprechen.
„Ist das nicht unangenehm?“
„Was meinst du? Wie es sich an meinem Körper anfühlt? Oder was das für ein Gefühl ist, so vor dir zu stehen?“ Nachdem sie zu Ende gesprochen hatte, hoffte sie, dass er ersteres meinte. Bei zweiterem hätte sie nicht gewusst, wie sie verhehlen konnte, dass sie dem Ganzen durchaus etwas abgewinnen konnte.
„Also“, sagte er, „ich meinte jetzt … eigentlich geht es mir gar nicht darum, wie sich das anfühlt. Ich dachte nur, dass du da doch wahrscheinlich ganz schnell raus möchtest, oder?“
‚Er will mich wickeln.‘ schoss es Vivienne durch den Kopf, und gleich danach wie ein warmer Schwall Blut durch den Körper. Dann wischte sie den Gedanken beiseite. Nein, das würde Lukas natürlich nicht wollen. Sie hatte doch gestern durch die Schlafzimmertür seine Meinung zu Windeln belauscht. Stella war die Aufgeschlossene von beiden, er derjenige mit Berührungsängsten. Und selbst wenn er die nicht hätte: Er würde sie wohl kaum bei Vivienne wechseln wollen. Sie sammelte sich und dachte stattdessen über seine Frage nach.
„Es geht eigentlich“, teilte sie Lukas ihre Sinneseindrücke mit, „es fühlt sich besser an, als ich gedacht hätte. Natürlich anders, als wenn sie trocken wären, aber nicht schlecht. Eigentlich klar, wenn man mal darüber nachdenkt, man will ja nicht, dass die Leute, die so etwas tragen …“
Vivienne hatte die Zeit über, in der sie geredet hatte, zu ihrer Windel herunter gesehen, und es erschrak sie, als Lukas ein Geräusch ausstieß, dass irgendwo zwischen einem Lachen und einem Ausruf des Ekels lag. Als sie den Kopf hob, sah sie, wie er den Kopf zwischen die Hände legte und sich etwas von ihr wegdrehte.
Sie spürte, wie sie rot wurde. Sie hatte es übertrieben. Der Junge ekelte sich vor ihr, vor der alten Frau in der Windel.
„Entschuldige“, sagte sie, „ich wollte nicht, dass …“
Lukas riss den Kopf hoch und lachte verwirrt. „Nein, schon gut“, sagte er, „es ist bloß, darüber zu reden … ich finde das ganze so surreal. Du siehst eigentlich überhaupt nicht aus wie jemand, der Windeln trägt.“
„Wie sieht denn so jemand aus?“ fragte sie. Sie verbiss sich zu fragen, wie denn seine windeltragende Bekannte Flo aussah. Er sollte lieber nicht erfahren, dass sie gestern Nacht gelauscht hatte.
„Nein, so meine ich das nicht“, sagte Lukas, „ich sage das anders: Du siehst wie jemand aus, der sicher keine Windeln tragen würde.“
„Ich kann nicht sagen, dass ich dich jetzt besser verstehe.“
Er ächzte laut. „Ich meine: Es verwirrt mich einfach, dass so eine attraktive Frau wie du so rumläuft. Ist das so schwer zu verstehen?“
„Wie bitte?“
Lukas‘ Damm war jetzt gebrochen. Bis gerade hatte er mit den Worten gerungen, jetzt kamen sie ihm ganz leicht. „Ja, das ist so. Ich stehe nicht auf Windeln, wirklich nicht. Ich hätte kein Problem damit, wenn es so wäre, aber zufällig ist es nun mal nicht so. Ich stehe auf Frauen, ganz einfach. Und wenn dann eine, die so gut aussieht wie du, nur in einer Windel vor mir rumläuft, während meine Freundin im Nebenraum ist, dann ist das für mich unangenehm. Ganz einfach, oder?“
Vivienne starrte ihn an. Sie musste sich verhört haben. „Du meinst … attraktiv für mein Alter …“
„Nein“, sagte er, „du siehst … du bist scharf. Echt scharf. So. Jetzt weißt du‘s.“
Vivienne klappte die Kinnlade nach unten. Er meinte das ernst. Nie im Leben wäre sie auf die Idee gekommen, dass dieser junge Mann, der fast dreißig Jahre jünger war als sie, sich ernsthaft von ihr angezogen fühlen würde. Ja, sie wusste, dass sie immer noch etwas hermachte. Wenn sie unterwegs war, spürte sie immer noch Blicke von Männern, die ihr nachschauten, auch wenn es mit der Zeit immer weniger geworden waren. Aber es waren Blicke von Männern, die in ihrem Alter waren, oft auch älter. Dass sie auf einen deutlich jüngeren Mann attraktiv wirken könnte, wäre ihr im Traum nicht eingefallen. Und dazu noch einer, der so eine Freundin hatte. Er wusste doch, wie schön Stella war, und seit heute morgen wusste er auch, dass Viviennes Körper zu verwelken begonnen hatte. Herrje, sie war in den Wechseljahren! Wie konnte es sein, dass sie mit seiner Freundin mithalten konnte? Was stimmte mit Lukas nicht? Kurz kam ihr in den Sinn, dass er sich einen Scherz mit ihr erlaubte, aber die Idee verwarf sie schnell wieder. Seine Rede war dafür zu überzeugt vorgetragen worden, und in dem Blick, mit dem er sie jetzt ansah, war kein Anzeichen von Schalk.
Er meinte es ernst.
„Wow.“ sagte sie. Es war das einzige, was ihr dazu einfiel.
Es schien Lukas irgendwie zu erreichen, und er wirkte etwas verwundert über die Leidenschaft, mit der er gerade seine Gefühle vorgetragen hatte.
„Also … ja. Ich falle da eigentlich nicht so mit der Tür ins Haus, aber das musste ich gerade loswerden.“
„Natürlich.“ sagte Vivienne und gab sich Mühe, verständnisvoll zu wirken. In den letzten Stunden war so viel merkwürdiges passiert, dass es ihr leicht fiel. Irgendwie wirkte gar nichts mehr unnormal. „Ich muss mich dann bei dir entschuldigen. Ich wusste wirklich nicht, dass ich so auf dich wirke. Das hätte ich nicht gedacht.“
„Schon gut“, sagte er, „aber kannst du mir bitte eins versprechen?“
„Was denn?“
„Erzähl bitte Stella nichts davon.“
Mit Mühe unterdrückte Vivienne ein Grinsen. Jetzt hatten innerhalb einer Stunde beide Teile des jungen Pärchens sie gebeten, vor dem anderen Teil ein Geheimnis zu bewahren. „Klar.“ sagte sie. Es sollte kein großes Problem sein. In einer Stunde würden sie aufbrechen, und danach würden sie sich nie mehr wiedersehen.
„Danke.“
„Das ist doch selbstverständlich.“
Eine Pause folgte. Es war keine peinliche Pause mehr, dafür war gerade zu viel Spannung zwischen den beiden abgebaut worden. Dennoch, die Art, mit der Lukas sie jetzt ansah … es hatte sich nichts an seinem Blick geändert, aber seitdem Vivienne wusste, wie er über sie dachte, las sie ihn ganz anders. Und jetzt, wo die Überraschung vorüber war, fiel ihr erst auf, wie sehr ihr der Gedanke gefiel. Sie alte Schachtel war also nicht chancenlos beim jungen Gemüse. Und dann auch noch so knackiges … nein, jetzt ging sie etwas zu weit, seine Freundin war im Raum direkt nebenan. Was machte sie dort nur so lange … nein, diese Frage war auch indiskret, so etwas fragt man eine Frau nicht. Plötzlich fiel ihr wieder die Idee ein, dass er sie vielleicht wickeln wollte. Plötzlich klang sie gar nicht mehr so absurd. Er fand sie scharf, das hatte er gesagt. Fände er es nicht noch schärfer, wenn er ihr ihr das letzte Stück Stoff vom Körper nehmen und sie dort unten anfassen dürfte? Nein, er hatte doch gerade gesagt, dass er nicht auf Windeln steht. Und gestern hatte er sich auch sehr distanzierend angehört. Vivienne war verwirrt.
„Was ist?“ fragte Lukas.
Mist. Sie musste angefangen haben ihn zu mustern, und er hatte es bemerkt. „Gar nichts.“ sagte sie schnell. Zu schnell, um glaubwürdig zu klingen.
„Hm.“ machte Lukas in einem Ton, der deutlich machte, dass er ihr nicht glaubte.
Ihre Handflächen begannen zu schwitzen. „Es … ist nur so, dass …“
Sie zuckte zusammen, als ihr Handy klingelte. Auf dem Display stand in großen Buchstaben „Anita“. Natürlich. Bei ihrer Schwester hätte sie sich ja längst melden müssen. Sie musste sich riesige Sorgen machen. Vivienne nahm ab und drehte sich schnell von Lukas weg, um zu verdeutlichen, dass das Gespräch mit ihm nun vorüber war.
Autor: Winger (eingesandt via E-Mail)
Diese Geschichte darf nicht kopiert werden.
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Das war ja mal wieder eine tolle Geschichte und das Ende war sehr lustig von mir 5⭐
Ich hab mich schon auf diese Fortsetzung gefreut. Dachte schon es gibt keinen weiteren Teil. Das sich allerdings solche Emotionen auftun, damit hab ich nicht gerechnet! Zu schade das Vivienne keine weitere Windel dabei hat um es ggf. zu testen! Aber die Idee ist reizent. Freu mich auf den nächsten Teil.
Nee, keine Angst, die Geschichte wird zu Ende erzählt – bis dahin dauert es aber nicht mehr lang.
Das schöne, als ich diese Geschichte geschrieben habe, war, dass mir ständig neue Wendungen eingefallen sind. Das Telefonat im nächsten Kapitel zum Beispiel bringt Vivienne wieder in eine unerwartete Situation. Ich hoffe, dass es alles einigermaßen konsistent geworden ist.
Und eine Windel zum Wechseln ist übrigens noch da …
ein super tolles Kapitel
Ich bin entspannt was gibt beim Telefonat mit der Schwester
Freu mich auf den nächsten Teil.