Wind über Ammeroog (12)
Windelgeschichten.org präsentiert: Wind über Ammeroog (12)
Was bisher geschah: Vivienne macht auf der Nordseeinsel Ammeroog Urlaub in einem Ferienhaus in einer exklusiven, abgelegenen Siedlung, die für sich allein hat. Bei einem Spaziergang am Strand erfährt sie, dass eine Sturmflut bevorsteht. Zurück im Haus erfüllt sich Vivienne geheime Wünsche: Sie zieht sich eine Windel und ein Eichhörnchenkostüm an und beginnt zu fantasieren, dass ihre Familie um sie versammelt wäre. Gerade, als sie sich schlafen gelegt hat, hört sie plötzlich ein Klopfen: Es sind Stella und Lukas, zwei junge Wanderer, die von Viviennes Aufzug höchst überrascht sind. Obwohl sie sich schämt, behält sie ihr Kostüm an und lässt sich von den beiden erzählen, wie es sie durch den Sturm zu ihr verschlagen hat. Als Vivienne sich beim Zubettgehen in ihrem Gitterbett verkeilt, wird sie von Stella aus ihrer Lage befreit. Am nächsten Morgen hat der Sturm sich gelegt und Vivienne stellt fest, dass ihr Kostüm zerrissen ist. Nur mit ihrer Windel bekleidet verlässt sie ihr Zimmer. Als Lukas sie sieht, ist ihr ihr Verhalten plötzlich peinlich und sie rennt aus dem Haus, hin zu einer Düne am Meer.
Vivienne ließ sich auf einer kleinen Kante nieder und sah hinaus auf Meer. Es fühlte sich eigenartig an, die Windel zwischen sich und der Insel zu spüren. Vivienne hatte es schon einmal gespürt. Fast ein halbes Jahrhundert war das her. Es war eine gute Zeit gewesen, aber die Person, die damals am wichtigsten war, lebte heute nicht mehr.
‚Ich könnte ewig hier sitzenbleiben.‘ dachte Vivienne. Sie hätte kein Problem damit, einfach nur stundenlang aufs Meer hinauszusehen und die Probleme ihres Lebens um einen Tag Aufschub zu bitten. Es war noch ein wenig frisch, aber mit der Zeit würde die Sonne aufgehen und sie wärmen.
Was war mit Lukas und Stella? Die wollten doch bald los. Müsste Vivienne nicht zurück gehen? Nein, das müsste sie nur, wenn sie noch Zeit mit ihnen verbringen wollte. Aber darauf bestand sie nicht. Nach dem Erlebnis von heute morgen war es vielleicht das beste, wenn sie ein wenig hier draußen blieb und den beiden den Raum gab, ihre Sachen so schnell wie möglich zu packen. Auf dem Weg zum Ort würden sie dann an ihr vorbeikommen, und sie könnten vielleicht noch kurz ein paar Worte wechseln. Vivienne würde das gefallen, aber sie würde das Bedürfnis ihrer Gäste tolerieren, so schnell wie möglich von dieser Verrückten fortzukommen. Vielleicht würden sie sogar einen Umweg machen, um nicht auf sie zu treffen. Auch dafür hatte Vivienne Verständnis.
Unweit von sich bemerkte sie den Strauch, von dem sie gestern ihre Windel gepflückt hatte. Er hatte den Sturm weitgehend unversehrt überstanden. Sie musste bei seinem Anblick schmunzeln. Ohne ihn wäre ihre Windel hinausgetragen worden, wahrscheinlich auf See, vielleicht in den Ort. Wenn sie dort gelandet wäre, was hätten die Leute wohl gedacht?
Hinter sich hörte Vivienne etwas. Aus irgendeinem Grund dachte sie, dass es eine ihrer Töchter sein könnte. Hatte ihr Vater nicht gestern erzählt, dass alle das Haus verlassen hätten, um nach ihr zu suchen? Sie waren nie wiedergekommen. Kurz danach war auch ihr Vater gegangen, und auch er war nicht wiedergekommen. Vielleicht wären sie jetzt wieder da? In freudiger Erwartung drehte sich Vivienne um. Hinter ihr, in knapp zwei Metern Entfernung stand Stella. Nicht ihre Tochter Stella, sondern die andere Stella, ihr Gast von gestern Abend. Vivienne war ein wenig enttäuscht. Sie hätte ihrer Stella gerne erzählt, dass sie eine Namensvetterin von ihr getroffen hätte, und was das für eine freundliche junge Frau gewesen war (ihren wohlgeformten nackten Körper hätte sie unterschlagen). Die Tochter-Stella in der Realität hätte die Augen verdreht, die Tochter-Stella in ihrer Fantasie hätte es interessant gefunden. Aber es war keine von beiden, es war die Gast-Stella. In ihren Händen hielt sie je einen Becher, aus dem Dampf aufstieg, über dem linken Arm lag eine der altmodisch gemusterten Decken vom Sofa aus dem Wohnbereich. Ihr Blick war fragend und eher besorgt als ängstlich.
„Hallo Vivienne“, sagte sie, „geht es dir gut?“ Die beiden hatten also beschlossen, sie nicht komplett zu ignorieren. Zumindest hatte Stella das beschlossen.
„Danke, ja. Ich wollte mich nur etwas hinsetzen.“
Stella machte einen Schritt auf sie zu. „Du … ich habe mir gedacht, dass dir vielleicht etwas kalt ist. Ich habe dir eine Decke mitgebracht.“
Es war eine angenehme Variante, um Stella den Anblick einer mittelalten Frau in einer Windel zu ersparen. „Danke.“
Stella kam näher. „Und Kaffee habe ich auch. Möchtest du?“
„Habt ihr eine Kaffeemaschine gefunden?“
„Nein. Es ist Instant-Kaffee. Ich habe in meinem Rucksack immer welchen dabei. Für Notfälle wie diesen.“ Sie lächelte.
„Danke, ich nehme gerne einen.“ sagte Vivienne. Sie nahm die Tasse und stellte sie vor sich ab, während die junge Frau ihr die Decke um die Schultern legte. Sie war etwas kratzig, aber es war doch gleich viel angenehmer.
„Stört es dich, wenn ich mich eine Weile zu dir setze?“ fragte Stella.
„Nein. Überhaupt nicht.“
Vivienne rutschte ein kleines Stück, so dass die Kante genug Platz für sie beide bot, und die junge Frau nahm neben ihr Platz. Stumm sah sie hinaus aufs Meer, pustete einmal den Dampf von ihrem Becher und nahm dann einen kleinen Schluck, den sie geräuschvoll durch die Zähne gleiten ließ. Vivienne trank ebenfalls. Er schmeckte nicht schlecht. Auf jeden Fall erheblich besser, als sie Instant-Kaffee in Erinnerung hatte.
Eine Möwe schrie, flog tief über den Strand, als hätte sie dort etwas gesehen, dass sie sich schnappen wollte, schwang sich dann aber in einer fließenden Bewegung wieder auf.
„Du hast Lukas einen ziemlichen Schrecken eingejagt.“ sagte Stella nach einer guten halben Minute Schweigens.
„Das wollte ich nicht“, sagte Vivienne, „mein Kostüm ist kaputtgegangen.“
„Ja, das hat er mir erzählt. Ist es gestern passiert, als du ins Bett klettern wolltest?“
„Ja.“
Stella sagte erst mal nichts. Vivienne wusste, dass sie von ihr den Raum bekam sich zu erklären, aber sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollte. Es war nicht nur der Mut, der ihr fehlte. Sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte.
„Ihr müsst mich für verrückt halten.“ sagte sie. Sie dachte das schon die ganze Zeit, aber gestern, nachdem sie an der Tür gelauscht hatte, hatte sie kurzzeitig gehofft, doch Gnade im Urteil der beiden zu finden. Mittlerweile hatte sie das wohl versaut.
„Bei Lukas hast du das so langsam geschafft“, sagte Stella, „mich könntest du vielleicht noch vom Gegenteil zu überzeugen.“
„Ich mache so was eigentlich nicht.“
„Ach nein?“
„Nein. Ich habe dir doch gesagt, dass ich Kinder habe. Die ahnen nichts davon, was ich hier mache. Niemand ahnt etwas davon. Ich bin … also, du hast sicher Verständnis dafür, wenn ich dir nicht sage, wo und als was ich arbeite, aber du wärst überrascht, was für eine verantwortungsvolle Position ich da einnehme.“
„Sei dir da mal nicht so sicher.“ sagte Stella.
„Was willst du denn damit sagen?“
„Dass ich glaube, dass gerade Menschen in Stresspositionen etwas zum Ausgleich brauchen. In gewisser Weise erfüllst du das Profil.“
Was Stella sagte, war durchaus nicht verurteilend, aber Vivienne verspürte trotzdem den Drang sich zu verteidigen. Wenn man diesen Gedanken konsequent zu Ende dachte, würde es ja bedeuten, dass man von ihr erwarten würde, dass sie sich in dieser oder anderer Form mal gehen lässt. Sie wollte nicht, dass man so dachte.
„Ich sage es dir nochmal“, sagte Vivienne also, „normalerweise mache ich das nicht. Es ist nur … eine besondere Situation eingetreten.“
„Okay.“ sagte Stella versöhnlich. „Ich glaube dir das auch. Ich will nur sagen, dass ich nicht über dich urteile wegen …“ Sie zögerte kurz und grinste dann. „… deines Kleidungsstils.“
Vivienne errötete.
„Ich weiß auch, dass wir dich ziemlich überfallen haben gestern Nacht“, fuhr Stella fort, „das habe ich ja auch schon drei- oder viermal gesagt. Aber … dieses Argument gilt nicht mehr so recht für heute morgen.“
„Mein Kostüm ist wirklich kaputt.“ sagte Vivienne. Was für eine indiskutabel schlechte Verteidigung. So etwas gab selbst Nina seit zwei Jahren nicht mehr von sich.
„Und du hattest nichts anderes anzuziehen?“ fragte Stella.
Vivienne nahm einen weiteren Schluck Kaffee. Sie war in der Defensive. Der beste Weg daraus war, in die Offensive zu gehen und einen Themenwechsel zu provozieren. „Was war das gestern Abend, als du zu mir in mein Zimmer gekommen bist?“ fragte sie.
„Du hattest geschrien. Ich habe nachgesehen, was los war. Du hattest Hilfe gebraucht, und ich habe dir geholfen.“
„Es war mehr als das.“ sagte Vivienne.
Und dieses Mal antwortete Stella nicht, sondern sah auf das Meer hinaus. Vivienne hatte sie.
„Etwas an der Situation hatte dir gefallen.“
Stella legte den Kopf schief und warf Vivienne einen halb musternden, halb nervösen Blick zu. „Als ich hinein gekommen bin und dich gesehen habe, wie du da am Bett gehangen hast … so hilflos … ich weiß nicht. Ich konnte nicht anders, als mich so zu verhalten, wie ich es getan habe. Du hast das in mir provoziert.“
Jetzt tat sie Vivienne irgendwie ein wenig leid. Auch wenn sie nicht genau wusste, wieso.
„Ich erzähle Lukas nichts davon.“ sagte sie.
„Danke.“ sagte Stella nur.
Stumm saßen die beiden da und tranken ihren Kaffee.
„Was ist denn das für eine besondere Situation?“ fragte Stella.
„Was meinst du?“
„Gerade eben hattest du gesagt, dass du so etwas eigentlich nie tun würdest, aber das eine besondere Situation eingetreten ist. Ich habe mich gefragt, was das wohl für eine besondere Situation war.“
„Oh.“ sagte Vivienne. Ja, sie hatte gerade diese Formulierung verwendet. Und ihr hätte auch klar sein müssen, dass sie damit eine Nachfrage provozierte. Sie war dennoch nicht vorbereitet.
Stella bemerkte die plötzliche Anspannung bei Vivienne. „Natürlich nur, wenn du es mir sagen möchtest.“
Es wäre das Einfachste gewesen, dieses Angebot anzunehmen und „Nein“ zu sagen. Vivienne hatte es noch niemandem erzählt. Wieso sollte sie jetzt damit anfangen?
Der Grund lag auf der Hand.
Es wäre am einfachsten, es einer Person zu sagen, die sie gar nicht kannte.
Jemandem wie Stella.
„Nur, wenn du es hören möchtest.“ Vivienne empfand es als eine Gebot der Höflichkeit, eine Warnung voranzustellen.
„Sonst würde ich nicht fragen.“ Stella hatte die Warnung offensichtlich nicht verstanden.
„Nein“, sagte Vivienne, „was ich jetzt sage, könnte für dich vielleicht belastend sein.“
„Ist es denn für dich belastend?“
„Oh ja“, sagte Vivienne, „sehr.“ Alleine das auszusprechen brachte Kiesel von dem Steinhaufen auf ihrem Herzen ins Rollen.
„Dann sag es.“
Vivienne nahm einen tiefen Atemzug. „Ich bin vielleicht in einem Jahr tot.“
Stella sagte daraufhin erst einmal nichts. Vivienne sah es ihr nicht nach. „Vielleicht auch nicht. Vielleicht bin ich auch nur blind.“ sagte Vivienne.
„Warum?“ fragte Stella.
Vivienne tippte sich an den Kopf. „Hirntumor.“
In Stellas Gesicht zeigten sich Schmerz und Mitleid. Vivienne wusste, dass sie sich darauf einstellen musste, diesen Ausdruck bald in den Gesichtern vieler Menschen zu sehen.
„Also … der Fairness halber muss ich sagen, dass er noch nicht diagnostiziert wurde. Ich bin mir aber sehr sehr sicher. Es ist nur eine Frage der Zeit.“
Vivienne hatte das gesagt, um die Situation etwas zu entspannen. Sie sorgte vorerst aber nur für mehr Verwirrung bei Stella. „Wie? Also hast du doch keinen Tumor? Ich verstehe nicht.“
„Es ist auch nicht einfach, vor allem, wenn du nicht die ganze Geschichte kennst – darf ich es dir erzählen?“
„Bitte. Erzähl.“
„Es dauert vielleicht ein bisschen länger. Eure Fähre …“
„… fährt in fünf Stunden. Wir brauchen von hier drei bis zum Anleger. Wir haben Zeit. Zumindest etwas.“
„Ganz so lange werden wir nicht brauchen“, sagte Vivienne, „es begann alles vor etwa zweieinhalb Monaten. Ich war gerade in der Firma und dabei, mich auf ein Meeting vorzubereiten. Kurz vorher bin ich noch einmal auf die Toilette gegangen. Nachdem ich mir die Hände gewaschen habe, beuge ich mich noch einmal kurz vor, um mir den Hals mit etwas Wasser zu waschen. Das hilft mir manchmal zur Ruhe zu kommen. Als ich dann den Kopf gehoben habe und in den Spiegel schauen wollte … da habe ich nicht mehr gesehen.“
„Du meinst, du hast dich nicht im Spiegel gesehen?“ fragte Stella.
Vivienne spürte, wie sich ihr der Hals zuschnürte, allein wenn sie daran dachte. Sie spürte leichte Schweißperlen in den Handflächen, und sie war sich sicher, dass sie auch welche auf der Stirn bekommen hätte, wenn diese nicht vom Ammerooger Nordwind gekühlt worden wäre.
„Nein, ich meine, dass ich nichts mehr gesehen habe. Gar nichts mehr. Es war alles schwarz.“
„Du meinst …“
„Ich hatte meine Sehkraft verloren.“
Vivienne sah das Grauen in Stellas Augen. „Oh Gott“, sagte sie, „das kann ich mir gar nicht ausmalen, wie du dich da gefühlt haben musst.“
„Das ging merkwürdigerweise“, sagte Vivienne, „ich habe erst mit der Zeit realisiert, was da passiert war. In dem Moment, als es passiert ist, war ich ganz ruhig. Das hört sich vielleicht seltsam an, aber wenn du mich näher kennen würdest, würdest du wissen, dass das für mich typisch ist. In Krisensituationen bleibe ich gewöhnlich ruhig.“
„Das könnte ich nicht. Ich glaube, ich wäre in dem Moment völlig durchgedreht.“
„Ja, das haben die meisten Leute gesagt, denen ich davon erzählt habe. Vor allem haben mir das meine Kollegen auch erstmal überhaupt nicht geglaubt. Stell dir das auch mal vor: Da triffst du deine Kollegin auf dem Flur und sie erklärt dir ernst, aber ruhig, dass sie gerade ihr Augenlicht verloren hat.“
„Scheiße“, flüsterte Stella, „das ist gruselig.“
„Ja. Ich glaube, ich habe ihnen da richtig viel zugemutet. Sie hatten gedacht, dass ich da gerade einen Spaß mache. Glücklicherweise bin ich nicht dafür bekannt, dass ich mir Späße erlaube, und vor allem nicht zwei Minuten vor einem wichtigen Meeting mit dem Projektkoordinator. Also haben sie mich zwei- oder dreimal gefragt, ob ich wirklich nichts sehen kann, und weil ich jedes Mal ‚Ja.‘ gesagt habe und mit der Zeit dann langsam doch verzweifelter klang, haben sie mir geglaubt. Sie haben mich dann irgendwohin gebracht, wo ich mich hinsetzen konnte. Später habe ich erfahren, dass es der kleine Konferenzraum war. In dem großen saßen noch mein Chef, meine Mitarbeiter und mehrere Externe zusammen und warteten auf mich. Das war ja eine völlig surreale Situation und niemand wusste, wie er damit umgehen sollte.“
„Natürlich“, sagte Stella, „ich … ich wüsste auch nicht, was ich da machen sollte. Den Notarzt rufen?“
„Ja. Das hat auch irgendwer gemacht. Ich habe dann im Konferenzraum auf ihn gewartet, und während ich gewartet habe, sickerte bei mir langsam die Erkenntnis durch, was da gerade passiert ist. Und die Panik kriecht in mir hoch.“ Vivienne stockte. „Das war das Schlimmste. Das Allerschlimmste. Diese Angst, dass ich nie mehr werde sehen können. Glaub mir, was ich da gefühlt habe, wünsche ich meinem schlimmsten Feind nicht.“
„Das glaube ich sofort. Das muss der absolute Horror gewesen sein.“
„Eine Kollegin war die ganze Zeit bei mir. Sie hatte meine Hand gehalten und mir zugeredet. Wenn sie nicht gewesen wäre, wäre ich sicher durchgedreht. Und dann, plötzlich, fange ich wieder an, Licht wahrzunehmen. Das war so eine unglaubliche Erleichterung, ich konnte kaum die Tränen zurückhalten. Meine Kollegin ist da natürlich drauf angesprungen und hatte mich angewiesen, abwechselnd in dunkle und helle Ecken zu sehen. Dann, Stück für Stück, kam es zurück und ich konnte wieder Formen unterscheiden. Mehrmals hielt meine Kollegin Finger hoch und fragte mich, wie viele ich sehe. Beim vierten Mal lag ich richtig. Irgendwann dann traf der Notarzt ein, da war meine Sicht fast nur noch schwummrig. Meine Blindheit hat vielleicht fünfzehn Minuten gedauert, höchstens zwanzig, aber es hat sich angefühlt wie Stunden.“
„Und deswegen meinst du, dass du einen Hirntumor hast?“ fragte Stella.
„Ja. Ich bin natürlich sofort in ein Krankenhaus eingeliefert worden und man hat mich dort gründlich durchgecheckt.“
„Und hat man etwas gefunden?“
„Nein. Man hat es mir nicht gesagt, aber ich wusste, dass plötzliche Sehstörungen auf einen Tumor hinweisen können. Als ich gezielt nachgefragt habe, haben Sie gesagt, dass sie mich auch daraufhin untersucht, aber nichts gefunden hätten.“
„Was war es denn dann?“
Viviennes Blick wurde düsterer. „Genau ist es nicht geklärt worden. Die Ärzte sagen, dass es wohl ein körperliches Warnsignal war, dass ich mich bei der Arbeit übernommen habe und mich schonen sollte. Diese Erklärung scheint auch jeden zufriedenzustellen.“
„Dich denn nicht?“
Vivienne schüttelte den Kopf. „Nein. Die Sache ist die: Ich kenne Stress. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn ich überarbeitet bin. Ich weiß, wie mein Körper dann reagiert, und ich achte peinlich genau auf seine Signale. Und ich war nicht im Stress. Es war eine völlig normale Situation auf der Arbeit.“
„Die körperliche Reaktion muss ja nicht direkt mit dem Auslöser zusammenhängen“, sagte Stella, „sie könnte auch verzögert sein und sich auf etwas länger Zurückliegendes beziehen.“
„Das haben mir auch die Ärzte gesagt. Und mir ist das auch klar. Aber es gibt noch einen Grund, warum ich glaube, dass es ein Tumor sein könnte.“
„Welcher?“
Vivienne nahm einen Schluck. Der Kaffee war hier draußen schnell abgekühlt und schmeckte nun eher bitter als alles andere. Sie merkte, wie viel sie gerade von sich preisgab. Wenn sie mit ihrer Erzählung fertig wäre, würde Stella zu den Menschen gehören, die am meisten über sie wussten. Und dabei glaubte sie ihr nicht einmal, dass „Vivienne“ ihr richtiger Name ist.
„Mein Vater“, sagte Vivienne, „er ist vor zwei Jahren genau daran gestorben. An einem Hirntumor.“
Stella machte einen tiefen Atemzug.
„Entschuldige“, sagte Vivienne, „ich erzähle dir gerade wirklich viel schweres Zeug.“
„Nein“, sagte Stella, „du musst dich nicht entschuldigen. Erzähl ruhig weiter. Ich meine … hat dich das sehr hart getroffen?“
„Oh ja“, sagte Vivienne, „sehr hart. Ich glaube, er war der wichtigste Mensch in meinem Leben. Ich habe geheiratet und Kinder bekommen, und ich liebe meine Töchter über alles, aber …“
„Deinen Mann nicht?“
„Wir sind geschieden.“
„Entschuldige.“
„Schon gut. Jedenfalls, ich habe sehr an meinem Vater gehangen. Und zu sehen, wie ihn der Krebs in wenigen Wochen hingerafft hat, das war einfach schrecklich. Ich will nicht, dass meine Töchter auch so was durchstehen müssen.“
„Natürlich nicht“, sagte Stella, „aber … das ganze ist doch jetzt zweieinhalb Monate her. Welchen Grund hast du denn immer noch zu glauben, dass es ein Tumor ist?“
„Nun … der Arzt, mit dem ich damals gesprochen habe, hat natürlich gemerkt, welche Sorgen ich mir da mache. Er hat sich dann Zeit genommen, mit mir die Möglichkeit durchzugehen und konnte auch gut darlegen, warum es kein Tumor ist. Er hatte mich damals auch durchaus beruhigt. Er meinte dann zum Schluss, dass ich jederzeit wiederkommen kann, wenn ich irgendwelche neuen Symptome zeige. Er würde mich dann sofort untersuchen.“
„Und es ist etwas Neues passiert.“ sagte Stella mit einer Mischung aus Gewissheit und böser Vorahnung.
Vivienne hob die Hand und bewegte die Finger vor ihren Augen. „Ein Flimmern. Keine erneute vorübergehende Blindheit – Gott sei Dank nicht! – aber für einen Moment hat die Welt vor meinen Augen zu flimmern begonnen. So, als wäre ich in der Wüste und würde Richtung Horizont sehen. Aber ich war nicht in der Wüste. Ich war zu Hause und gerade beim Abwaschen. Meine zweitälteste Tochter hat gerade irgendwas im Fernsehen gesehen. Sie saß im Wohnzimmer, keine fünf Meter entfernt von mir. Ich habe mich an der Spüle festgehalten, tief und fest geatmet, habe meine Atemzüge gezählt und innerlich gebetet, dass es aufhört, und dass bloß meine Tochter nichts davon mitbekommt.“
„Warum?“
„Was?“
„Warum sollte sie davon nichts mitbekommen?“
Vivienne hatte noch nie darüber nachgedacht. „Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen macht.“ sagte sie schließlich. Die Antwort stimmte wohl, meinte sie.
„Hm.“ machte Stella. Es klang missbilligend.
„Wenn es schlimmer geworden wäre, hätte ich ja auch etwas gesagt.“
„Also ist es von selbst wieder weggegangen.“
„Ja. Es hatte auch nur zwei Minuten gedauert. Niemand hat etwas gemerkt. Ich bin auch direkt am nächsten Tag zum Arzt gegangen. Er hat mich dann erneut untersucht.“
„Und was hat er gefunden?“
„Nichts“, sagte Vivienne, „wieder nichts.“
In Stellas Blick zeige sich ein leichter Zweifel. „Das hört sich an, als ob du mittlerweile gründlich durchgecheckt worden wärst. Sollte dich das nicht langsam beruhigen?“ fragte sie.
„Naja“, sagte Vivienne, „ich habe Sehstörungen. Und der Arzt gibt zu, dass er nicht genau erklären kann, was der Auslöser für sie ist. Also hat er mir angeboten, dass er meine Blutprobe noch einmal auf bestimmte Werte untersucht, die bei den übrigen Untersuchungen nicht berücksichtigt worden waren. Außerdem wollte er meinen Fall noch mit einem Kollegen besprechen, der sich ähnlich gut auf diesem Gebiet auskenne wie er.“
„Und wie ist das ausgegangen?“ fragte Stella.
„Ich weiß es noch nicht“, sagte Vivienne, „ich erfahre es übermorgen.“
„Oh.“ sagte Stella.
„Ja.“ sagte Vivienne.
Und wieder schwiegen die beiden. Vivienne war fertig mit ihrer Erzählung. Sie hatte doch nicht so lange gebraucht, wie sie gedacht hatte. Stella und Lukas hätten noch genug Zeit, um sich fertig zu machen und gemütlich zum Ort zurückzuwandern.
„Ich habe Angst.“ sagte Vivienne.
Stella sagte nichts. Stattdessen spürte Vivienne ihren Arm auf ihrer Schulter.
Eine Möwe kreischte, und die Wellen kräuselten sich leicht, als sie am Strand brachen.
„Entschuldigung?“
Vivienne fuhr fast erschrocken herum. Natürlich bestand die Welt noch aus mehr als ihr, Stella, der Düne, dem Wind, und dem Meer, aber für einen kurzen Moment hatte sie das verdrängt. Lukas‘ Stimme, so schüchtern und vorsichtig sie auch war, war völlig unerwartet aus ihrem Rücken gekommen. Stella reagierte erheblich ruhiger. „Was gibt es denn?“
Er sah unschlüssig aus. Unter den blonden, verstrubbelten Stirnfransen, zeigte sich eine fragende Falte, und Vivienne wurde wieder bewusst, was sie gerade trug. Während sie mit Stella geredet hatte, war es für einen Moment nebensächlich gewesen.
Vivienne hatte damit gerechnet, dass er Stella etwas zu sagen hätte, stattdessen wendete er sich an sie. „Ich glaube, dein Handy klingelt. Da versucht dich jemand dringend zu erreichen.“
„Wir haben wieder Empfang?“ rief Stella.
„Sieht so aus.“ sagte Lukas.
„Fantastisch! Hast du schon die Fährzeiten gecheckt?“
„Die kennen wir doch schon. Warum sollte ich die nochmal checken?“
„Entschuldige“, mischte sich Vivienne ein, ehe die beiden wieder in eines ihrer privaten Streitgespräche abtauchten, „woher weißt du, dass es dringend ist?“
„Weil es jetzt schon drei Mal geklingelt hat.“
„Oh! Dann schaue ich mal besser nach.“ sagte Vivienne und erhob sich.
„Drei Mal?“, hörte sie hinter sich Stellas Stimme, während sie wieder in Richtung Haus ging, „warum hast du nicht beim ersten Mal bescheid gesagt?“
„Ich wusste doch nicht, wie lange ihr hier draußen sein würdet. Was habt ihr hier überhaupt gemacht?“
Vivienne hörte, wie Stella antwortete, aber die einzelnen Worte konnte sie nicht mehr ausmachen, dafür hatte sie schon zu viele Meter zurückgelegt.
Autor: Winger (eingesandt via E-Mail)
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ein tolle Geschi
Ich hoffe sie kein Tumor
gibt ja ein Ausweg
https://www.cansave.org/de/acs-anti-krebs-zapfchen.html
Ist deine Entscheidung
Du hast ja gesagt, die Geschichte ist zu Ende geschrieben
Was für ein absoluter Blödsinn, gegen Krebs helfen keine Zäpfchen
Auch dieser Absatz war sehr spannend! Nun gab es noch einen kurzen Einblick in die Beweggründe von Vivien, danke. Bin gespannt ob es gut ausgeht das Telefonat und ob sogar ein Kontakt zu Ihren jungen Gästen bestehen bleibt!
Danke! Ich hatte schon befürchtet, dass das Kapitel vielleicht zu düster ist und ich eine Warnung hätte voranstellen sollen.
Und ich verrate schon mal: Es ist nicht der Arzt, der anruft.