Zwischen Gestern und Morgen (11)
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Ihr Kennt das Spiel.
Feedback ist weiterhin erwünscht und neben der Freude an der eigenen Geschichte die größte Motivation.
Andreas startete den Motor und fuhr langsam los. Martin drehte sich nach hinten: „Die reine Fahrzeit wird bei der aktuellen Verkehrslage ungefähr sechseinhalb Stunden dauern. Die erste Pause machen wir in ca. 2 Stunden. Wenn jemand vorher ein Bedürfnis hat, soll er bitte rechtzeitig Bescheid sagen.“
Dann wandte er sich an Andreas: „Ich würde sagen, wir nehmen die Route über die A3 und dann auf die A92. Und versuch bitte, dich diesmal nicht blitzen zu lassen – der Aufwand das letzte Mal…“ Andreas musste lachen. Es schien ein Insider zu sein.
Mama reichte mir eine kleine Wasserflasche. Ich hatte gar nicht mitbekommen, wie sie die eingepackt hatte.
„Trink bitte etwas, das ist wichtig.“
Ich gab Mama den Nuki und setzte die Flasche an. Erst als ich begann zu trinken, merkte ich, wie durstig ich war, und ehe ich mich versah, war die Flasche leer.
„Benni, du kannst mir auch sagen, wenn du Durst hast. Hätte ich das gewusst, hätte ich eine große Flasche eingepackt.“
„Ich hab gar nicht gemerkt, dass ich Durst habe, bis du mir die Flasche gegeben hast, Mama.“
Martin reichte eine kleine Flasche Wasser nach hinten. „Wir sind gut ausgerüstet. Meldet euch einfach, wenn ihr etwas braucht.“
„Danke, ich hätte nicht gedacht, dass Benjamin die Flasche in einem Zug leert.“
Thomas schien schon eingeschlafen zu sein, und auch ich kämpfte mit der Müdigkeit. Mama reichte mir den Nuki. Ein kurzer Blick auf die Uhr in der Mittelkonsole: Es war 23:38 Uhr. Ich steckte den Nuki in den Mund und schloss die Augen.
Ich erwachte, als Mama mich gerade auf dem Arm in Richtung einer größeren Schnellrestaurant-Kette trug. Es war ziemlich kalt draußen, und man konnte den Lärm von der Autobahn hören. Es musste noch oder schon wieder ziemlich viel Verkehr sein. Das Restaurant war hell erleuchtet, aber es waren nur sehr wenige Mitarbeiter zu sehen, die meisten schienen gerade sauber zu machen. Ich konnte keine anderen Gäste sehen. Wir liefen wieder mit Martin an der Spitze, Andreas lief hinter uns. Martin steuerte direkt auf einen Wickelraum bzw. das Behinderten-WC zu. Die Tür war verschlossen.
Mama schaute sich schon um und wollte vermutlich zum Tresen gehen, doch Martin sagte:
„Bleiben Sie hier, Frau Hofmeister, ich habe einen Schlüssel.“ Während er mit einem kleinen Schlüsselbund hantierte, schloss er die Tür auf. Er ging kurz hinein und kam direkt wieder heraus.
„Sie können rein, wir warten draußen.“
Mama huschte mit mir durch die Tür. Als sie mich auf den Wickeltisch setzte, lächelte ich sie durch meinen Nuki an. Mama schien erst jetzt zu bemerken, dass ich wach bin.
„Du bist ja wach, mein kleiner Sonnenschein. Wir müssen mal dringend nach deiner Windel schauen, die ist bestimmt kurz vor ihrer Belastungsgrenze.“
Erst als Mama mich absetzte, merkte ich, dass ich gefühlt auf einem Gelkissen saß. Jetzt spürte ich auch, dass die Windel rücknässte. Ich glaube, Mama hat recht. Sie drückte mich sanft nach hinten, der Wickeltisch war nicht unbedingt für meine Größe ausgelegt.
„Die Wickelauflage hätten die ruhig ein bisschen größer machen können. Es gibt ja schließlich auch Kinder mit besonderen Bedürfnissen – du passt ja gerade so drauf.“ Sie öffnete die Träger und zog mir die Hose runter. Nachdem sie auch die Unterhose ausgezogen hatte, konnte ich sogar im Liegen sehen, wie stark die Windel aufgequollen war.
„Keine Minute zu früh“, kommentierte Mama den Zustand. Das Wickeln ging dann gewohnt schnell.
Nachdem Mama mich wieder angezogen hatte, fragte sie: „Wie sieht es mit deinem Bäuchlein aus, hast du Hunger?“
Ich nickte und gab ein undeutliches „Ja, ganz doll“ von mir, da der Nuki noch im Mund war.
„Dann lass uns mal schauen, ob wir die anderen überzeugen können, hier etwas zu essen. Im Auto zu essen, fände ich nämlich gerade mit dir nicht so toll – nicht, dass man mir noch eine Rechnung für die Grundreinigung des Autos präsentiert.“
Mama nahm mich wieder auf den Arm, und wir gingen nach draußen. Dort warteten die anderen drei bereits auf uns.
„Habt ihr die ganze Zeit hier gewartet?“
„Wie gesagt, ihr seid keinen Moment alleine, solange wir unterwegs sind“, antwortete Andreas.
„Können wir hier etwas essen?“ fragte Mama.
„Das hatten wir so eingeplant. Ist zwar nicht gerade das Ritz, aber der Kaffee ist gar nicht schlecht, und man weiß zumindest, was man zu erwarten hat – was auch immer das heißen mag“, antwortete Martin.
Also stellten wir uns an den Tresen. Die Mitarbeiterin ging mit Mama die Bestellung durch. Viel Mitspracherecht hatte ich nicht, bis es um die Hauptspeise ging:
„Möchtest du einen Hamburger oder lieber Chicken Nuggets?“ fragte sie mich direkt.
Wenn ich ehrlich war, wären mir Pizza oder Nudeln mit Tomatensoße lieber gewesen, aber das stand hier ja nicht zur Wahl. Ich nuschelte durch den Nuki: „Hamburger.“
Mama nahm mir den Nuki ab. „Mensch, Benni, den hätte ich ja auch mal wegpacken können. Kannst du das bitte nochmal sagen?“
„Hamburger“, sagte ich jetzt deutlich, aber leise, weil es mir doch etwas unangenehm war.
„Na, kleiner Mann, ist bestimmt auch nicht deine Zeit. Da würde ich auch lieber im Bettchen liegen und schlafen.“ Sie hielt mir eine kleine Tüte Gummibärchen hin, was sofort ein Lächeln auf meine Lippen zauberte.
„Das geht immer, gell?“ meinte die Mitarbeiterin schmunzelnd. Die wissen schon, wie sie Kinder ködern – ich konnte nicht widerstehen und griff zu.
Am Tisch stürzte ich mich zuerst auf die Pommes Frites mit Ketchup – die waren in null Komma nix verschwunden. Der Hamburger war essbar, aber lecker würde ich ihn nicht nennen.
Als Getränk gab es einen Orangensaft, der war schön süß und daher ganz schnell leer – nicht, dass die Windel zu lange trocken bleibt. Aber wirklich satt war ich noch nicht.
„Mama, ich hab noch Hunger.“
Mama sah mich erstaunt an, sie hatte gerade mal ihre Pommes Frites gegessen.
„Hab ich schon mal erwähnt, dass irgendwo in deinem Bäuchlein ein schwarzes Loch ist? Wo isst du das immer nur alles hin?“ Die anderen drei mussten lachen. „Komm, wir holen dir noch etwas.“
Da meldete sich Martin zu Wort: „Sie bleiben sitzen, das mache ich. Was möchte der kleine Mann denn noch essen?“
Ich sah zu dem Burger, den Thomas gerade aß. Mama schaute mich mit großen Augen an.
„Das schaffst du doch gar nicht, das ist doch viel zu viel. Nimm doch lieber noch einen Hamburger, meinst du nicht?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich möchte so einen wie Thomas.“
Martin lachte und sah zu Mama. „Vielleicht hat er wirklich Hunger?“
Mama erwiderte: „Ich möchte aber keine Beschwerden hören, wenn ihm dann im Auto schlecht wird!“
Martin zuckte mit den Schultern. „Das wird schon,“ sagte er und ging zum Tresen.
Nach drei Bissen in den Burger – der sah in Thomas‘ Händen gar nicht so groß aus – war ich satt.
„Ich bin satt, Mama.“
Jetzt war es Mama, die lachte. „Auf mich muss ja keiner hören.“ Sie nahm eine Serviette und wischte mir die Ketchup- und Soßenreste aus dem Gesicht.
Nachdem Andreas und Martin ihren Kaffee ausgetrunken hatten, ging es wieder zum Auto. Draußen kam es mir jetzt noch kälter vor.
„Mama, mir ist kalt.“
Mama nahm mich hoch und drückte mich fest an sich, bis wir am Auto waren. Das wärmte mich zumindest von vorne ein wenig. Nachdem sie mich angeschnallt hatte und sich neben mich gesetzt hatte, fuhr diesmal Martin.
„Eine dicke Winterjacke steht schon auf meiner Liste mit Dingen, die du dringend brauchst,“ sagte Mama, nachdem wir auf die Autobahn gefahren waren.
Ich schaute aus dem Fenster, aber außer Lkws und anderen Autos war in der Dunkelheit nicht viel zu erkennen. Mit erschöpfter Stimme fragte Mama: „Ist alles gut, Benni?“
„Mir ist langweilig, Mama“, antwortete ich. Sie streichelte sanft über meine Wange.
„Mach noch ein wenig die Augen zu. Wir haben es schon fast geschafft. Ich gebe dir deinen Schnuller, und dann können wir noch ein bisschen schlafen, okay?“
Ich blickte auf die Uhr; dort stand 4:22. Das war also gar nicht die erste Pause; ich hatte sie bestimmt verschlafen. Mama reichte mir meinen Schnuller, und ich fühlte mich sofort beruhigt.
Das Saugen war wie immer ein angenehmes und beruhigendes Gefühl. Es dauerte nicht lange, bis ich wieder die Augen schloss.
Das sanfte Streicheln über meinen Rücken weckte mich. „Benni, ich glaube, du hast genug geschlafen!“,
sagte Mama liebevoll. Ich öffnete meine Augen und stellte fest, dass ich in einem großen Bett lag.
Das Zimmer war hell erleuchtet durch das Sonnenlicht. „Sind wir schon da, Mama?“, versuchte ich mit dem Schnuller im Mund zu fragen.
„Ja, Benni, wir sind schon eine ganze Weile hier, aber du hast so schön geschlafen, dass wir dich einfach hier ins Bett gelegt haben.“
Ich richtete mich auf und lächelte Mama an. Sie umarmte mich fest. „So gefällst du mir am besten, mein Sonnenschein.“
Danach öffnete sie meine Hosenträger. „Wir machen dich nur schnell frisch, dann kannst du das Haus erkunden. Es ist wirklich groß.“
Das klang gut. Im Vergleich zu sonst hatte ich auch noch keinen Hunger, aber etwas zu trinken wäre nicht verkehrt. „Du bist ja ganz rot, tut dir das weh?“
Jetzt, wo sie das sagte, spürte ich ein leichtes Brennen. Ich nickte vorsichtig. „Oh, hoffentlich wirst du nicht krank. Wir haben noch nicht einmal eine Creme für dich da. Ich hoffe, es dauert nicht lange, bis wir die Dinge bekommen,
die ich für dich aufgeschrieben habe.“ Der restliche Windelwechsel ging dann relativ schnell.
„Kann ich etwas zu trinken haben, Mama?“ Mama zog mich wieder an.
„Ja, wir gehen am besten zuerst in die Küche und schauen mal, was es an Getränken gibt.“
Wir liefen eine Treppe nach unten, und Mama führte mich in die Küche, in der Thomas gerade saß und eine Zeitung las. „Guten Morgen, Benjamin! Hast du endlich ausgeschlafen?“
Ich nickte und nuschelte durch meinen Schnuller: „Ja.“ Mama nutzte die Gelegenheit, um mir den Schnuller abzunehmen.
„So, ich glaube, der kommt erstmal weg. Nicht, dass du ihn jetzt den ganzen Tag drin behältst.“
Sie öffnete mehrere Schränke, bevor sie mir ein Glas herausgab und es mit Wasser füllte.
„Seit wann liest du Zeitung?“, wandte sich Mama an Thomas. „Seit ich kein Smartphone mehr habe, auf dem man etwas lesen kann“, antwortete er, dabei klang er heiter.
„Jetzt, wo du es sagst, habe ich es aber bis jetzt nicht vermisst. Ich war immer ausreichend abgelenkt.“ Dabei schaute sie liebevoll zu mir.
„Benjamin hatte einen richtigen Ausschlag im Windelbereich. Ich hoffe, er wird nicht krank oder reagiert auf irgendetwas“, sagte Mama besorgt. Thomas sah sie an: „Bei den Zwillingen war das immer der Fall. Wenn sie etwas mit zu viel Säure getrunken haben. Hat er heute Nacht nicht Orangensaft getrunken?“
Mama schien überrascht: „Stimmt, ich bin nicht selbst darauf gekommen. Ich bin Kinderkrankenschwester und denke nicht an solche einfachen Grundregeln. Na, das kann ja noch was werden!“
Thomas sprach leicht erheitert: „Mach dir nichts draus. Eltern lernen mit der Zeit. Man kann nicht alles von Anfang an perfekt machen. Es ist für euch beide ein Lernprozess. Ich glaube, die Zeit vergeht schneller, seit die Zwillinge da sind, weil man ständig neue Herausforderungen hat.“
Ich hatte das Wasser schnell geleert, während die beiden sich unterhielten.
„Kann ich mir jetzt das Haus ansehen?“ Mama hockte sich wieder vor mich, wie immer, wenn sie mir etwas Wichtiges erklären wollte.
„Schau dich ruhig um, aber es geht nicht vor die Haustür! Das war die wichtigste Regel, die uns die beiden Polizisten heute Morgen erklärt haben.
Ich schaue in der Zwischenzeit, ob ich uns ein Frühstück zubereiten kann. Und jetzt los, kleiner Entdecker!“ Damit gab sie mir einen kleinen Klaps auf den Hintern, und ich lief auf den Flur.
Die Küche war unspektakulär. Dort stand ein großer Tisch mit acht Stühlen, je zwei pro Seite. Ansonsten wirkte die Küche fast steril; bis auf einen großen amerikanischen Kühlschrank war alles in einem glänzenden Weiß gehalten. Auch der Flur war recht steril. Auf der einen Seite war eine Eingangstür; man konnte durch die milchigen Scheiben sehen, dass es draußen hell war, aber mehr auch nicht. Es stand eine leere Garderobe an der Wand. Eine Treppe führte nach oben, und es gingen noch vier weitere Zimmer ab. Alle hatten schlichte weiße Türen, und es waren keine Bilder an der Wand. Alles wirkte austauschbar.
Ich schaute zuerst in das Zimmer gegenüber von der Küche. Darin stand eine große Eckcouch und ein Fernseher. Ansonsten gab es eine kleine Schrankwand, die komplett leer war. Der Fußboden, den ich durch meine Socken spürte, war warm, aber das Haus fühlte sich trotzdem irgendwie kalt an.
Vorne am Eingang war ein Zimmer, in dem Martin an einem kleinen Tisch mit einem Notebook saß. Er lächelte mich an, als ich das Zimmer betrat.
„Hallo, Benjamin! Erkundest du das Haus?“ Ich nickte vorsichtig, ich hatte nicht damit gerechnet, dass jemand im Zimmer ist.
Hinter ihm stand ein Bett, und an der Wand war ein großer Schrank. Auf seinem Tisch lag ein Mobiltelefon am Ladegerät, das schon zu meiner Zeit alt war.
„Das machst du richtig so. Man muss immer über seine Umgebung Bescheid wissen. Hat dir deine Mama gesagt, dass du nicht vor die Tür darfst?“ Ich nickte wieder, diesmal etwas entschlossener.
„Das ist gut. Es ist wirklich ganz wichtig, dass du nicht einfach so rausgehst. Wir versuchen alles, was in unseren Möglichkeiten steht, damit dich hier niemand findet, der es nicht soll!“
Als ich gerade das Zimmer wieder verlassen wollte, merkte ich, dass ich gerade in die Windel pullerte. Ich blieb kurz stehen.
„Ist alles gut, Benjamin? Soll ich deine Mama rufen?“ Mir schoss vermutlich die Röte ins Gesicht. „Alles gut“, sagte ich und schüttelte den Kopf, während ich schnell den Raum verließ.
Ob er bemerkt hatte, was mir gerade passiert ist? Ob es ihn überhaupt interessierte?
Auf dem Weg zurück über den Flur stürmte ich erneut an der Küche vorbei. Mama rief mir hinterher: „Mach langsam, Benjamin! Der Boden ist glatt!“
Doch es war zu spät. Ich rutschte mit dem Fuß auf dem glatten Boden gegen einen kleinen Schrank im Flur und stürzte. Es gab einen leisen Knall.
Mama kam sofort in den Flur gestürzt. „Was machst du denn, Benjamin? Hat es wehgetan?“ fragte sie besorgt.
Mir liefen sofort die Tränen über das Gesicht, denn mein Fuß tat ganz schön weh. Mama half mir auf die Beine. „Ich hab dir doch gesagt…“ Doch sie brach ab und hob mich hoch,
als sie die Tränen in meinem Gesicht sah. „So schlimm? Du musst doch langsam machen, damit du dich nicht noch schlimmer verletzt!“ Dabei streichelte sie tröstend über meinen Rücken. Ich legte meinen Kopf auf ihre Schulter und ließ mich von ihrer liebevollen Art trösten.
„Hast du oben schon das Spielzimmer gesehen?“ Hat sie gerade wirklich „Spielzimmer“ gesagt? Ich stellte mir sofort ein Zimmer voller Lego vor, und meine Tränen versiegten. Mein Fuß tat irgendwie auch nicht mehr so weh.
„Oben gibt es ein Spielzimmer?“ fragte ich neugierig.
Mama antwortete erheitert: „Blitzheilung! Ja, gleich neben unserem Schlafzimmer ist ein kleines Spielzimmer.
Geh ruhig hoch und schau es dir an. Du kannst mir dann beim Frühstück erzählen, was du dort alles Tolles gesehen hast.“
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Mama ließ mich herunter. „Mach aber bitte diesmal langsam und pass bitte auf die Treppe auf!“
Ich musste mich zwingen, nicht loszurennen, aber ich lief zügig die Treppe hinauf.
Im Zimmer lag ein bunter Spielteppich mit Straßen, ein Regal mit Kinderbüchern und in einer Kiste befanden sich einige kleine Autos. Auf einem großen Tisch am Fenster standen zwei Kisten mit Lego Duplo, aber kein Lego für Große. Wirklich viel Spielzeug gab es hier nicht, und eine leichte Enttäuschung machte sich in mir breit. Man hatte wohl mit einem kleineren Kind gerechnet.
Mangels Alternativen öffnete ich die Duplo-Kisten, die sogar noch versiegelt waren. Die Steine waren in Beuteln verpackt. Es gab ein kleines Feuerwachen-Set und ein Baustellen-Set mit einem kleinen Betonmischer, einem Kran und einem Bagger.
Wenn das jetzt doch nur richtiges Lego wäre! Aber ich könnte es ja zumindest aufbauen, damit die Zwillinge von Thomas morgen damit spielen können, wenn sie kommen. Also nahm ich die Anleitung heraus und begann, sie Stück für Stück aufzubauen.
„Hallo, Erde an Benjamin?“ Ich schaute erschrocken auf. „Das hast du aber toll aufgebaut! Ich habe dich schon dreimal zum Frühstück gerufen. Hast du gar keinen Hunger?“
Leicht erschrocken antwortete ich: „Ich habe das nur für die Zwillinge von Thomas aufgebaut, damit sie morgen damit spielen können.“ Ich sprach, als wäre ich in Verteidigungsstellung.
Mama lächelte. „Dafür musst du dich doch nicht rechtfertigen! Das hast du ganz toll aufgebaut. Sieht aus wie auf dem Karton.“
Das Lob von Mama tat irgendwie gut, aber das war ja nun wirklich nicht schwierig, Lego für Kleinkinder aufzubauen.
„Können wir nach dem Essen mit meinem Legobagger spielen?“ fragte ich. Mama schmunzelte und meinte: „Ist nicht ganz deine Altersklasse, was?“ Ich nickte eifrig. „Ja, der Bagger, den du mir gekauft hast, ist viel cooler!“
Wenn morgen die Zwillinge kommen, hast du zumindest ein paar Spielgefährten. Dann ist es nicht mehr ganz so langweilig für dich. Damit begaben wir uns in die Küche, in der Thomas, Martin und Andreas schon am Tisch saßen und aßen. Mama und ich setzten uns nebeneinander, und ich durfte meinen Toast selbst mit Butter und Marmelade bestreichen. In meinen Erinnerungen war das gar nicht so schwer, aber ich stellte mich ein wenig unbeholfen an, als würde ich das zum ersten Mal machen. Doch Mama ließ mich gewähren, ohne einzugreifen.
Ich fand es ein gutes Gefühl, auch mal etwas selbst tun zu können und keine Hilfe zu benötigen, auch wenn das Ergebnis auf meinem Teller an einen Unfall erinnerte.
„Ich würde jetzt nach dem Essen die Liste mit den Besorgungen abarbeiten. Falls euch noch etwas einfällt, das nicht auf der“, dabei musste er lachen und schaute zu mir, „sehr umfangreichen Liste steht, solltet ihr mir das jetzt noch mitteilen“, sagte Martin.
„Also, mir fällt nichts weiter ein, aber das ist ja schon eine ganze Menge, was Sie sich da vorgenommen haben. Hilft Ihnen da jemand?“ fragte Thomas. Martin schaute erheitert. „Nein, das ist aber meistens so, wenn wir neue Klienten bekommen. Das bin ich schon gewohnt. Aber es muss immer jemand bei euch bleiben. Zumindest in den ersten Monaten.“
Katja verschluckte sich an ihrem Tee. „Ersten Monaten?“ Andreas antwortete ernst: „Wir können euch nicht sagen, wie lange das jetzt so geht. Es gibt Klienten, bei denen ist nach einer Woche alles wieder gut, und sie können in ihr altes Leben zurückkehren. Und es gibt welche, die nie wieder in ihr altes Leben zurückkehren können. Und natürlich ganz viel dazwischen.“
Thomas sah mich auf einmal sehr nachdenklich an. „So ungefähr muss es sich für dich schon die ganze Zeit anfühlen, oder?“ Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, aber eigentlich war ich einfach nur froh, eine so tolle Mama zu haben, die bei mir ist. Ich sah zu Mama. „Solange ich bei Mama bleiben darf, vermisse ich nichts aus meinen Erinnerungen.“ Mama nahm mich wieder auf ihren Schoß und umarmte mich ganz fest. „Ich hoffe einfach sehr, dass du bei mir bleiben darfst.“
Damit wurde mir erst wieder bewusst, dass in dieser Sache ja auch noch nichts entschieden ist.
Als Martin sich los gemacht hatte, räumten Andreas und Thomas das Geschirr in den Geschirrspüler, während ich Mama half, die anderen Sachen wegzuräumen. Dabei musste sie öfter in den verschiedenen Schränken nachsehen, wo etwas hinkommt.
„Das machst du super mit dem Zureichen“, sagte Mama zu mir. Ich durfte sogar den Tisch abwischen, auch wenn ich nicht bis ganz in die Mitte gekommen bin.
„So, jetzt gehen wir zwei hoch ins Badezimmer“, sagte Mama und nahm mich hoch. Das Badezimmer war ziemlich geräumig. Es gab zwar nur eine Dusche und keine Badewanne, aber die Wände waren in einem hellen Blau gestrichen. Am Waschbecken stand ein kleiner Hocker, damit ich besser herankam. „Schau mal, hier hat sogar jemand an die kleineren Haushaltsmitglieder gedacht“, meinte Mama lächelnd, während sie mir die Zahnbürste in die Hand drückte.
Der Rest war Routine: Ich durfte schnell duschen, bevor es eine frische Windel gab. Danach half mir Mama, mich wieder anzuziehen. Es gab eine graue Jogginghose mit einem kleinen Krümelmonster darauf und dazu einen blauen Pullover, ebenfalls mit Krümelmonster.
„Ich werde jetzt erstmal versuchen, die Waschmaschine in Gang zu bekommen und deine Garderobe wieder aufzufüllen. Du kannst ja im Spielzimmer spielen gehen. Ich komme später zu dir“, sagte sie und strubbelte mir durch die frisch geföhnten Haare.
„Spielst du dann mit mir?“ fragte ich hoffnungsvoll. „Schau mal, ob du im Zimmer ein Brettspiel findest, das wir zusammenspielen können, okay?“ Das war eine super Idee! „Oh ja, das mache ich“, rief ich begeistert. Hoffentlich kommt Mama ganz schnell wieder, dachte ich, als ich ins Spielzimmer ging.
Dort fand ich im Regal eine Kinderversion von Monopoly. Ich stellte das Spiel auf den Tisch und begann, es schon mal für Mama und mich aufzubauen. Als ich damit fertig war, wartete ich darauf, dass Mama endlich zurückkam. Ich sah aus dem Fenster und schaute hinaus. Man konnte die Einfahrt und dahinter die Straße sehen.
Plötzlich fuhr eine schwarze Limousine mit ziemlich hohem Tempo in die Einfahrt, und drei maskierte Männer sprangen aus dem Auto.
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was da gerade passierte. Panisch drehte ich mich zu Mama um, die genau in diesem Moment das Zimmer betrat. Ihr Lächeln verschwand sofort, als sie meinen Gesichtsausdruck sah. „Mama, der dunkle Mann ist da unten“, stammelte ich.
Ab jetzt ging alles sehr schnell, aber es fühlte sich an, als würde die Zeit in Zeitlupe ablaufen. Mama stürmte auf mich zu, warf einen kurzen Blick aus dem Fenster, schnappte mich und rannte auf den Flur. Panisch schrie sie nach unten: „Sie sind hier! Sie haben uns gefunden!“ In diesem Moment hörte ich, wie etwas mit brachialer Gewalt gegen die Haustür hämmerte.
Mama rannte weiter ins Schlafzimmer, zog mich mit und verschloss die Tür hinter uns. Ein weiterer Schlag gegen die Haustür folgte, gefolgt von einem lauten Scheppern und dem Klirren von Glas. Kurz darauf hörte ich mehrmals das laute Knallen von Schüssen und das Brüllen in einer fremden Sprache – dieselbe Sprache, die der Kollege von Herrn Hausen gesprochen hatte.
Mama schob mich hastig in eine Ecke hinter einem Schrank am anderen Ende des Zimmers. Mit Tränen in den Augen sprach sie hektisch auf mich ein: „Bleib genau hier! Komm nicht vor, egal was passiert!“ Dann nahm sie ihre kleine graue Tasche aus der Kommode und stellte sich hinter die Tür.
Ich hockte zitternd in der Ecke hinter dem Schrank, mein Herz schlug wie wild, während Mama sich hinter der Tür versteckte, einen Elektroschocker fest in der Hand. Die Schritte draußen wurden lauter, und ich versuchte, so leise wie möglich zu atmen.
Ein Mann trat in den Raum, doch bevor er überhaupt richtig hereinkam, stürzte Mama sich auf ihn. Mit einem lauten Zischen setzte sie den Elektroschocker an seinen Nacken, und er sackte sofort zusammen, reglos am Boden liegend.
Ich dachte, es wäre vorbei, aber da stürmte ein zweiter Mann in den Raum – diesmal mit einer Waffe in der Hand. Mama reagierte blitzschnell, schlug die Tür zu, und die Pistole fiel klappernd zu Boden. Er fluchte laut und zog ein Messer. Dann ging alles so schnell. Der Mann sprang auf Mama los, sie wichen dem Bett aus, stießen gegeneinander, während ich panisch nach einem Ausweg suchte. Ich wollte helfen, aber ich wusste nicht wie.
Dann tat ich das Einzige, was mir einfiel. Ich rannte hinter den Mann, nahm all meinen Mut zusammen und trat ihm so fest ich konnte zwischen die Beine.
Doch er zuckte nur kurz und drehte sich wütend zu mir um. Mit einem kräftigen Schlag seines Ellenbogens traf er mich hart in die Brust, und ich flog nach hinten, prallte gegen den Schrank. Der Schmerz durchzog meine Schulter wie ein Blitz, und ich fiel zu Boden. Alles tat so weh. Tränen schossen mir in die Augen, und meine Sicht verschwamm.
Ich hörte Mamas angestrengtes Atmen und das Geräusch vom Kampf, aber ich konnte nichts tun. Es war, als wäre mein ganzer Körper gelähmt vor Schmerz. Plötzlich ertönte ein lauter Knall, und ich zuckte zusammen. Für einen Moment wusste ich nicht, was passiert war.
Dann sah ich den Angreifer, der sich keuchend an seinen Hintern fasste und taumelte.
Ich drehte den Kopf und sah Thomas in der Tür stehen, eine Pistole in der Hand. Seine Augen waren vor Schock weit aufgerissen, und er wirkte alles andere als selbstsicher.
Dennoch hielt er die Waffe weiter auf den Angreifer gerichtet.
Mama eilte sofort zu mir. Sie kniete sich neben mich, zog mich fest in ihre Arme, und ich spürte ihre Tränen auf meine Wange tropfen.
Thomas sprach völlig außer Atem: „Ein dritter Angreifer liegt unten, und Andreas auch.“
Fortsetzung folgt…
Autor: michaneo (eingesandt via E-Mail)
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Wieder einmal n super spannender Teil,kann kaum den nächsten erwarten.
Bitte mach weiter so.
Eine der besten Geschichten die ich hier gelesen habe, und auch gerne weiterlesen möchte, bitte uns nicht so lange warten lassen. 5 megagroße Sterne
Wow, du kennst dich aus mit den literarischen Hilfsmitteln. Erst die Leser in eine falsche Gewissheit wiegen und dann PENG! Ich war nach der ersten Hälfte des Kapitels schon beinahe gelangweilt, und dann das.
Sehr gespannt wie es weitergeht!
Eine der besten Geschichten die ich gelesen habe! Kanns kaum erwarten weiter zu lesen. Ich spekuliere, dass Benjamin mit der Spritze ein Tracker eingesetzt wurde.
Edgar Wallace hätte diesen Teil nicht besser verfassen können! Ist richtig spannend geworden. Bin auf die folgenden Teile sehr neugierig.
Das ist wirklich eine der besten Geschichten bisher.