Zwischen Gestern und Morgen (10)
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Ihr Kennt das Spiel.
Feedback ist weiterhin erwünscht und neben der Freude an der eigenen Geschichte die größte Motivation.
Katja umarmte mich. „Ich mach dich schnell sauber, und schon ist wieder alles gut. Mach dir keine Sorgen. Du hast es bestimmt beim Spielen zu spät gemerkt, und Spielen ist im Moment auch so viel wichtiger.“ Dabei streichelte sie mir über den Rücken, um den Tränen erst gar keine Chance zu lassen – mit Erfolg.
Mir wurde gerade bewusst, dass es das erste Mal seit Langem war, dass ich groß in die Hose beziehungsweise in die Windel gemacht hatte. Die letzte Situation vor ein paar Tagen zähle ich mal nicht mit, da war ich nicht ganz bei mir. Katja war überhaupt nicht böse mit mir. Ich kann so dankbar sein, dass ich so eine tolle Mama an meiner Seite habe – hoffentlich bald meine Mama.
Katja hob mich hoch und brachte mich zur Couch. „Ich glaube, ich sollte auch noch Wickelunterlagen und eine vernünftige Creme auf meine Liste setzen, damit du nicht wund wirst. Falls das in Zukunft öfter vorkommt“, kommentierte sie den Wickelprozess, der diesmal länger dauerte als sonst. Sie hatte ja auch wesentlich mehr zu reinigen als sonst.
War das jetzt eigentlich ein Freifahrtschein, dass ich mir darüber keine Gedanken mehr machen musste? Wollte ich das überhaupt? Es war doch auch unnötige Arbeit für Katja. Dabei hat sie so schon genug mit mir zu tun. Und das für ein Kind, das nicht einmal ihres ist. Auf einmal hatte ich ein schlechtes Gewissen. Ich hätte ja gleich, als ich es gemerkt habe, zu Katja gehen können, dann hätten wir es bestimmt noch rechtzeitig geschafft.
„So, wieder alles frisch. War doch gar nicht so schlimm, oder, mein kleiner Schatz?“
Ich konnte ihr nicht richtig ins Gesicht schauen, aber ich musste es loswerden wegen meines schlechten Gewissens. „Es tut mir leid, Katja.“
„Was tut dir leid? Dass du dein großes Geschäft in die Hose gemacht hast?“
Ich nickte, immer noch nicht in der Lage, Katja in die Augen zu sehen.
„Und dass ich dir so viel Arbeit mache.“
Katja schob mein Kinn sanft nach oben, damit ich ihr in die Augen sehe. In diesem Moment fing ich wieder an zu weinen.
Ihre Gesichtszüge wurden ganz weich. „Ach Benni, das muss dir doch nicht leidtun. Du bist ein Kind, ein kleines Kind, mein kleiner Sonnenschein. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als mich um dich zu kümmern und dich glücklich zu sehen. Das Wechseln einer vollen Windel ist überhaupt nicht schlimm. Das musste ich im Krankenhaus schon so oft machen, sogar bei erwachsenen Menschen.
Und noch nie habe ich es so gern gemacht wie bei dir, weil du mein kleiner Sonnenschein bist. Du wirst noch genug Sorgen in deinem Leben haben. Jetzt bist du erstmal Kind. Schüttel die Sorgen ab und genieße es, unbeschwert zu sein. Diese Zeit kommt nie wieder, und ich will, dass du sie auskostest. Ich sage dir früh genug Bescheid, wenn ich etwas von dir erwarte, okay?“
Ich konnte nichts dazu sagen. Wie konnte diese Frau nur so lieb zu mir sein? Ich wollte so sehr, dass Katja meine Mama wird.
Noch immer unter Tränen fragte ich: „Katja, darf ich bitte Mama sagen?“
Katja nahm mich auf den Schoß und umarmte mich ganz fest. „Ja, Benjamin, du darfst mich gern Mama nennen.“ Ich spürte, dass auch ihr die Tränen kamen.
„Ich hab dich lieb, Mama.“
„Und was denkst du, wie lieb ich dich hab“, sagte Mama mit überschlagener Stimme.
„Ihr seid mir schon zwei“, sagte Thomas amüsiert, „da haben sich zwei gesucht und gefunden, würde ich sagen.“
Katja konterte immer noch mit überschlagener Stimme: „Als ob du mit deinen Kindern nicht auch sentimental wirst, Blödmann.“
Thomas lachte. „Ja, da hast du recht. Nur solltest du in Zukunft bei deiner Wortwahl etwas aufpassen, wenn dein Kind anwesend ist. Ich kann dir aus eigener Erfahrung versichern: Wenn sie sich etwas merken, dann das.“
Jetzt war es an mir, Mama zu verteidigen – ebenfalls mit überschlagener Stimme: „Ich kenne noch viel schlimmere Schimpfwörter.“
Beide lachten. „Stimmt, das kann ich mir also sparen. Ich werde es aber trotzdem versuchen – im Sinne der Vorbildfunktion. Vielleicht kann ich ja verhindern, dass du sie jemals in den Mund nehmen musst.“
„Aber du hast doch eben auch ein Schimpfwort gesagt?“, fragte ich leicht irritiert.
Erheitert antwortete Katja: „Eben hab ich ihm noch die Windeln gewechselt, und schon fängt er an, meine Erziehung in Frage zu stellen, bevor ich überhaupt angefangen habe.“
Thomas meinte nur trocken: „Gewöhn dich lieber daran. Solche sentimentalen Momente wie eben werden mit der Zeit immer seltener, und die Phasen, in denen du mit Benjamin über irgendwelche belanglosen Dinge diskutieren wirst, nehmen zu.“
„Thomas, die Zwillinge sind fünf, übertreibst du nicht ein wenig?“
„Nein. Ich habe das auch noch vor mir, und das sogar im Doppelpack. Aber ich bin Kinderpsychologe – schon vergessen? Es ist mein tägliches Brot, mit pubertierenden Teenagern und deren Eltern zu sprechen. Und ich spreche hier nicht von Extremfällen, sondern von alltäglichen Dingen wie dem Aufräumen des Zimmers oder dem Rausbringen des Mülls. Noch gar nicht vom ersten Freund oder der ersten Freundin.“
Katja umarmte mich wieder ganz fest und sprach so, dass er es auf jeden Fall hörte: „Das macht er uns nicht kaputt. Du bleibst noch ganz lange genauso knuffig, wie du jetzt bist.“
Kurz darauf kamen zwei Männer ins Zimmer. Sie waren auf jeden Fall älter als Thomas, aber noch nicht richtig alt. Beide waren in Zivil gekleidet und trugen eine Schusswaffe am Gürtel, jedoch sonst nichts, was an Polizisten erinnerte.
„Hallo, ich nehme an, Sie sind Frau Hoffmeister?“, sagte einer der Männer und schaute dabei zu Mama. Dann wandte er sich an Thomas: „Und Sie sind Herr Huber?“ Schließlich ging er in die Hocke, lächelte mich an und fragte: „Und verrätst du mir, wer du bist?“
Natürlich wusste er das schon, aber er meinte es bestimmt nett. Trotzdem wollte ich nicht antworten. Stattdessen versteckte ich mich lieber hinter Mama und hielt mich an ihren Beinen fest.
„Ich glaube, Benjamin möchte sich jetzt noch nicht vorstellen. Er ist etwas schüchtern, besonders bei Männern, die Autorität ausstrahlen. Er hat schon einiges in seinem kurzen Leben erlebt“, antwortete Katja für mich. Sie drehte sich um, nahm mich hoch und flüsterte mir ins Ohr:
„Alles gut, du musst erstmal mit fremden Leuten auftauen.“ Dabei streichelte sie mir den Rücken, und ich klammerte mich an ihren Hals.
Der Mann stand auf. „Okay, Benjamin. Der Kollege hier heißt Andreas, und ich bin Martin. Ihr werdet in Zukunft, oder zumindest bis die Angelegenheit ein Ende gefunden hat, viel Zeit mit uns und zwei weiteren Kollegen verbringen, die ihr später kennenlernen werdet.“
Thomas fragte interessiert: „Nur Andreas und Martin? Möchten Sie sich nicht auch mit Nachnamen vorstellen?“
Martin nickte. „Ja, nur Andreas und Martin. Auch diese Namen sind Tarnidentitäten. Das ist Standard und dient am Ende eurem Schutz.“
Katja nickte. „Okay, wie läuft das jetzt ab? Wo fahren wir hin? Kann ich vorher nochmal kurz nach Hause? Es gibt ein paar Dinge, die ich noch gebrauchen könnte.“
Diesmal antwortete Andreas: „Zuerst setzen wir uns in Ruhe hin und besprechen, wie es weitergeht. Eine vernünftige Planung ist ein wichtiger Grundstein unserer Arbeit.“
Beim Hinsetzen fragte Thomas: „Habt ihr Erfahrung mit solchen Dingen?“
Martin antwortete: „Ja, ich habe über 20 Jahre Erfahrung in diesem Bereich, und Andreas bringt sogar über 30 Jahre mit. Ihr seid also in sicheren Händen, keine Sorge.“ Dabei lächelte er.
Andreas beugte sich über den Block, auf dem Katja eine Liste mit Telefonnummern und diversen Gegenständen angefertigt hatte. „Wie ich sehe, haben Sie sich schon ein paar Gedanken gemacht. Das ist super, das haben wir nicht oft.“
Mama antwortete: „Ja, das hat uns eine junge Polizistin von hier empfohlen.“
Martin schmunzelte. „Gut zu wissen, dass es hier Kollegen gibt, die mitdenken. Was Ihre ursprüngliche Frage betrifft: Wo genau liegt Ihre Wohnung? Abgesehen von Ihren Namen und einigen wenigen Eckdaten haben wir noch nicht viele Informationen über Sie.“
Mama antwortete: „In Grafenau, etwa 45 Minuten von hier entfernt.“
„Das sollte machbar sein, aber Sie dürfen nicht alleine in die Wohnung. Aus Sicherheitsgründen gehen wir alle zusammen. Und bedenken Sie bitte, dass Sie nicht den halben Hausrat mitnehmen können. Weniger ist in diesem Fall mehr. Keine internetfähigen Geräte – also kein Tablet, kein Telefon, keine Smartwatch und auch kein Pager oder Ähnliches. Diese Liste ist nicht abschließend, wir werden vor Ort alles, was Sie brauchen, organisieren. Es wäre jedoch gut, wenn Sie Kleidung mitnehmen könnten, da es oft schwierig ist, diese vor Ort zu beschaffen. Dieses Hin und Her würde ich uns gerne ersparen.“ Bei den letzten Worten lächelte Martin.
„Bei Benjamin ist das mit der Kleidung nicht so einfach. Wir haben noch nicht viele Garnituren, und sein Verschleiß ist etwas höher“, fügte Mama hinzu und streichelte mir dabei sanft über den Rücken.
Martin schmunzelte. „Bei dem Kleinen sollte das ja weniger kompliziert sein. Geben Sie uns vor Ort einfach seine Konfektionsgröße und eine grobe Vorstellung, was er braucht. Wir kümmern uns dann darum. Ich kann Ihnen aus Sicherheitsgründen nicht sagen, wohin es geht, aber Sie werden in einem voll ausgestatteten Einfamilienhaus untergebracht – mit Waschmaschine und Trockenmöglichkeiten. Es ist groß genug, dass Sie und die Familie von Herrn Huber Ihren eigenen Bereich haben. Wir belegen nur einen kleinen Teil des Hauses und werden Ihnen so viel Privatsphäre wie möglich lassen.“
Jetzt meldete sich Andreas wieder zu Wort. „Wir werden einige Stunden unterwegs sein. Wir werden zwischendurch Pausen einlegen, um etwas zu essen und damit Sie austreten können.“
Dann schaute er zu mir. „Und für dich gilt: Wenn du mal auf die Toilette musst, sag bitte rechtzeitig Bescheid. Wir können nicht überall anhalten, da es sehr genaue Vorschriften gibt, wo wir Pause machen dürfen. Okay?“
Mir schoss das Blut ins Gesicht, und ich konnte den Mann nicht mehr ansehen. Ich drückte mich näher an Mama, die neben mir saß, und vergrub mein Gesicht an ihrer Seite. Sie hatte ohnehin die ganze Zeit einen Arm um mich gelegt.
Sie antwortete für mich: „Das sollte in diesem Fall kein Problem sein. Benjamin ist noch nicht so weit, das mit der Toilette lernen wir erst noch.“ Das war mir jetzt sehr unangenehm, aber die Nähe zu Mama machte es erträglich.
„Okay, prima. Wenn alle Klienten so pflegeleicht wären, würde vieles einfacher sein“, sagte Andreas.
Martin legte Thomas und Mama jeweils eine kleine Visitenkarte hin, auf der nur zwei lange Nummern standen. „Sie haben jetzt 30 Minuten Zeit, um mit Ihren Angehörigen zu sprechen und ihnen diese Nummern mitzuteilen. Die obere ist, wie Sie sicherlich erkennen können, eine Telefonnummer. Dort sollen sich Ihre Angehörigen in dringenden Fällen melden, und ich betone: wirklich nur in dringenden Fällen. Es ist ein enormer Aufwand, ein solches Gespräch zu organisieren. Die zweite Nummer ist Ihre Fallnummer. Diese teilen Sie ebenfalls mit, damit man Ihre Angehörigen zuordnen kann. Anschließend schalten Sie bitte Ihre Telefone ab; diese werden sicher verwahrt. Wir lassen Ihnen jetzt noch ein wenig Privatsphäre, um Ihre Angelegenheiten zu klären.“ Damit verließen die beiden das Zimmer.
Thomas nahm sein Telefon vom Tisch und stellte sich ans Fenster. „Hallo Peter, ja, ich muss schnell ein paar wichtige Dinge mit dir klären…“
Katja setzte sich mit mir auf die Couch, nahm mich auf ihren Schoß und hielt sich ebenfalls ihr Telefon ans Ohr: „Hallo Papa, ist Mama in der Nähe?“
„Dann hol sie bitte mal ans Telefon und stell auf laut, wir müssen dringend reden! Nein, mir geht es gut, ich erkläre es gleich, wenn Mama dabei ist – ich möchte es nicht zweimal erklären.“
Katja schaute zu mir, während sie wartete. „Soll ich das Telefon laut stellen? Das sind schließlich bald deine Oma und dein Opa.“ Dabei lächelte sie liebevoll. „Die sind ganz lieb, keine Sorge.“ Ich war unschlüssig. Ich hatte gar nicht daran gedacht, dass Mama auch Eltern hat und was das für mich bedeutet. Würden sie mich akzeptieren oder vielleicht sogar ablehnen, weil ich ja gar nicht Mamas richtiges Kind bin? Mir blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, da Mama das Telefon auf laut gestellt hatte und das Gespräch weiterging.
„Hallo Katja, geht es um nächstes Wochenende?“
„Nein Mama, bei mir gibt es gerade sehr große Veränderungen. Ich kann nächstes Wochenende leider nicht zu euch kommen, aber das hole ich nach – und dann komme ich auch nicht alleine.“ Dabei musste sie grinsen.
„Oh, das freut uns für dich. Wie heißt denn der Glückliche? Da ist es natürlich klar, dass du ihn nicht gleich mit zu uns bringen willst und lieber etwas Zweisamkeit mit ihm verbringen möchtest.“
„Er heißt Benjamin, und es ist etwas anders, als ihr erwartet.“ Mama kam gar nicht dazu, weiter zu erzählen, denn ihre Mama schien plötzlich sehr aufgeregt zu sein.
„Ein schöner Name. Wo habt ihr euch denn kennengelernt?“
„Mama, Benjamin ist ein kleiner Junge und sitzt gerade auf meinem Schoß. Er hört gerade zum ersten Mal seine Großeltern.“ Dabei wurde Mama rot, und ihr kamen die Tränen.
Jetzt meldeten sich ihre Eltern gleichzeitig: „Was? Wie und wann?“
Mama, mit überschlagener Stimme: „Benjamin ist vor ca. einer Woche in mein Leben getreten, und ich werde ihn adoptieren.“
Es herrschte kurz Stille am anderen Ende. „Mama, Papa, seid ihr noch dran?“
„Ja, wir liegen uns gerade in den Armen“, sagte ihre Mutter ebenfalls mit überschlagener Stimme.
„Wir freuen uns für dich. Wann dürfen wir ihn kennenlernen? Du wirst eine ganz tolle Mutter sein“, sagte ihre Mutter immer noch emotional.
„Die Sache ist wesentlich komplizierter, als ich es in aller Kürze zusammenfassen kann. Ich habe aber nur wenig Zeit im Moment. Man könnte sagen, Benjamin hatte einen schweren Start ins Leben.“
Ihre Mutter unterbrach sie erneut: „Wir unterstützen dich und natürlich auch unseren Enkel, wo wir können. Ihr müsst uns nur sagen, was ihr braucht.“
„Mama, lass mich bitte ausreden, es ist wichtig. Benjamin schwebt momentan in Gefahr. Personen aus seinem früheren Leben sind hinter ihm her. Wir gehen jetzt auf unbestimmte Zeit in eine Art Zeugenschutz, wie man es aus dem Fernsehen kennt. Habt ihr etwas zu schreiben?“
„Ja, haben wir, das weißt du doch“, sagte ihre Mutter.
„In dieser Zeit könnt ihr mich unter dieser Nummer“, sie nannte eine Nummer mit Berliner Vorwahl, „und dieser Fallnummer 15487539008 im Notfall erreichen. Es wurde uns gesagt, dass diese Nummer nur im äußersten Notfall zu verwenden ist und ihr uns nicht direkt erreicht. Ein Gespräch wird organisiert.“
„Wie lange seid ihr weg?“, fragte ihre Mutter.
„Das kann ich noch nicht sagen. Vermutlich so lange, bis keine Gefahr mehr für Benjamin besteht. Es ist wichtig, dass auch ihr auf euch aufpasst. Wir wissen nicht, wie weit diese Leute gehen. Wenn euch irgendetwas komisch vorkommt, ruft bitte sofort die Polizei, ja?“
Ihr Vater antwortete: „Ja, Katja, ich passe auf uns auf, darauf kannst du dich verlassen. Hast du noch die kleine graue Tasche, die ich dir zum beginn deiner Ausbildung geschenkt habe?“
Mama schien kurz zu überlegen. „Ja, habe ich. Danke, Papa. Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich dieses Ding mitnehmen werde!“
„Bitte pass auf dich, auf euch auf, Katja. Versprich mir das, ja?“
„Ja, mach ich, Mama. Wie Papa immer sagt: Ich passe auf, darauf kannst du dich verlassen! Ich hab euch lieb, aber ich muss jetzt Schluss machen.“
„Wir dich auch, und Benjamin, wir freuen uns darauf, dich kennenzulernen. Wenn Katja dich in ihr Herz geschlossen hat, dann gehört dir auch unseres.“ Damit legte ihre Mutter auf.
Thomas kam zu uns. „Bist du fertig?“
„Ja, und du?“
„Ja, ich habe vorhin schon mit meinen Eltern gesprochen und ihnen jetzt noch die Nummern durchgegeben. Und mit Peter von nebenan habe ich auch gesprochen. Er wird sich während unserer Abwesenheit um unser Haus kümmern.“
„Benni, müssen wir dich nochmal frisch machen, bevor wir losfahren?“ Dabei hob sie mich von ihrem Schoß und öffnete meine Hosenträger.
Ich habe gemerkt das mindestens einmal was in die Windel gelaufen ist aber es fühlte sich absolut nicht unangenehm an. Hier war es fast so als würden die Windeln immer toller je voller sie wurden.
„Nein, das sollte noch eine Weile gehen, würde ich sagen. Und unterwegs müssen wir das bestimmt sowieso erledigen.“
Wenige Minuten später betraten Martin und Andreas wieder das Zimmer.
„Sind Sie soweit? Haben Sie Ihre Telefone ausgeschaltet?“
Mama und Thomas überreichten ihre Telefone.
„Dann können wir ja los. Haben Sie noch etwas im Hotel?“ fragte Martin.
Thomas: „Ja, aber ich könnte ja schnell alleine rein und aus unseren Zimmern die Taschen holen.“
Martin: „Wir haben da eine genaue Vorgehensweise. Wir gehen ab jetzt nur noch gemeinsam, egal wohin. Wir werden sogar die Toiletten inspizieren, bevor Sie diese betreten, wenn wir nicht gerade im Safe House sind. Wir werden auch alle gemeinsam ins Hotel gehen, und ich werde die Taschen überprüfen. Wir müssen sicherstellen, dass niemand Ortungstechnik in Ihren Taschen deponiert hat.“
Damit verließen wir gemeinsam das Polizeirevier. Es war schon später Nachmittag, die Sonne würde nicht mehr lange scheinen. Wir stiegen in einen unauffälligen silbergrauen VW-Bus. Auch hier war ein Kindersitz für mich eingebaut worden.
Die Fahrt zum Hotel führte wieder am Bahnhof vorbei, aber Mama spielte die ganze Zeit „Ich sehe was, was du nicht siehst“ mit mir. Dadurch war der Bahnhof eher nebensächlich. Ich habe das Spiel auch erstaunlich oft gewonnen, und ich hege den Verdacht, dass man mich hier hat gewinnen lassen.
Das Hotel betraten wir dann gemeinsam. Andreas lief voraus, und Martin bildete den Abschluss. Die beiden schienen sich blind zu verstehen. Man nahm ihnen auf jeden Fall ab, dass sie das schon sehr lange machten. Martin konnte auch richtig streng gucken, sodass die Leute ihm freiwillig aus dem Weg gingen. Ich glaube nicht mal, dass sie seine Schusswaffe am Gürtel bemerkt hatten.
Im Hotelzimmer von Thomas schaute sich Martin erst alles an, was Thomas mitnehmen wollte. Er ging einmal sorgfältig mit einem grauen Gerät über die Sachen, das komische Fiep-Geräusche von sich gab. Bei seinem elektrischen Rasierer und seiner elektrischen Zahnbürste schaute er genauer hin, meinte aber, dass diese noch original aussahen und wir sie mitnehmen könnten.
Das Ganze wiederholte sich auch in unserem Zimmer, wobei wir keinen Rasierer und nur Mama eine elektrische Zahnbürste hatten. Auch bei uns gab es nichts zu beanstanden. Dann verließen wir das Hotel wieder in derselben Konstellation und machten uns direkt auf den Weg nach Grafenau.
Die Fahrt war diesmal länger. Andreas fuhr, und Martin erklärte gerade Thomas: „Ihre Familie wird morgen im Laufe des späten Nachmittags von unseren anderen beiden Kollegen in Rügen abgeholt. Sie richten gerade die sichere Unterkunft für unseren Aufenthalt her. Ich denke, dass wir frühestens in den frühen Morgenstunden des Folgetages mit ihnen rechnen können.“
Ich wurde langsam wieder schläfrig. „Möchtest du den Nuki wieder haben?“
Was für eine Frage! Natürlich, und ich glaube, Mama weiß das auch, denn sie greift schon in ihren Rucksack, ohne dass ich antworten muss. Dennoch nicke ich, und Mama lächelt, als sie ihn mir in den Mund steckt. „Mach ruhig die Augen zu, es dauert nur noch einen kleinen Moment.“
Kaum begann ich am Nuki zu saugen, überkam mich wieder dieses wohltuend tröstende Gefühl. Dazu kam das Schaukeln des Autos, und ich war weg.
Als ich langsam wieder zu mir kam, hob mich Mama gerade aus dem Auto. Ich wollte etwas sagen, aber der Nuki hinderte mich daran. Man muss Prioritäten setzen – den Nuki abgeben, um etwas zu fragen? Nein, der bleibt drin, solange es geht, dieses beruhigende Gefühl war einfach wunderschön.
Mama schien registriert zu haben, dass ich wach bin. „Wir sind jetzt bei Mamas Wohnung. Wir holen nur schnell ein paar Sachen, und dann fahren wir weiter.“ Wir bzw. Mama lief zwei Etagen nach oben, und ich ließ mich tragen. Der Hausflur hatte einen grasgrünen Anstrich, und die Beleuchtung war sehr hell. Draußen war es mittlerweile schon dunkel.
Mama schloss die Tür auf, und Martin inspizierte die Wohnung genauso gründlich wie den Flur, bevor wir ihn betreten hatten. Nachlässigkeit schienen die beiden nicht zu kennen.
Als wir Mamas Wohnung betraten, fiel mir zuerst der vertraute Geruch auf – der Geruch, den Mama immer an sich hat. Es roch nach Zuhause, und ich fühlte mich sofort wohl. An der Wand im Flur, die ebenfalls grün gestrichen war, hingen Bilder von einem älteren Pärchen – ich tippte darauf, dass es Mamas Eltern waren – und ein Bild von Thomas mit Anja und zwei Babys. Thomas hatte gesagt, dass die Zwillinge schon fünf sind, also musste das Bild älter sein. In der ganzen Wohnung schien heller Laminatboden verlegt zu sein.
Nach dem Flur betraten wir als erstes die Küche. Hier konnte man sehen, dass Mama in ihrer Wohnung lebt – es war nicht unordentlich, aber auch nicht auf Hochglanz poliert. Das gefiel mir, auch wenn ich nicht genau sagen konnte, warum.
Sie setzte mich auf einen Stuhl ab und hockte sich vor mich. „Ich möchte nur schnell ein paar Sachen zusammenpacken. Wenn du möchtest, darfst du dich ein bisschen in deiner zukünftigen Wohnung umsehen.“
Den Nuki ließ sie mir zu meiner Freude, und ich sah keine Notwendigkeit, das zu ändern.
Also sah ich mich um. Die Küche machte, wie schon gesagt, einen freundlichen, belebten Eindruck. Sie war groß genug, dass auch eine ganze Familie darin Platz finden würde. Das Badezimmer hatte sowohl eine Badewanne als auch eine Dusche und bot dennoch genügend Platz.
Die Bilder, die ich von meinem „Berliner Schuhkarton“ im Kopf hatte, waren kein Vergleich dazu. Im Wohnzimmer stand ein recht kleiner Fernseher, aber dafür gab es ein Regal mit vielen Büchern – man konnte erkennen, wo Mamas Prioritäten lagen, bevor ich in ihr Leben getreten bin. Es gab einen gemütlichen Sessel mit einer Leselampe daneben. Auf einem kleinen Tisch neben dem Sessel lag ein Stapel Romane.
Auf dem großen Esstisch lag ein Ordner mit der Aufschrift „Adoption 2019-2020“, der ziemlich umfangreich aussah. Aus dem Fenster konnte man nicht viel sehen, da es schon dunkel war. Es gab noch ein kleines Wäschezimmer, das – obwohl „klein“ ist natürlich relativ, da es genauso groß war wie mein Schlafzimmer in der Berliner Wohnung. Darin standen zwei Wäscheständer und zwei große Schränke. Oder täuschte mich das, weil ich jetzt kleiner war?
Zum Schluss fand ich Mama in ihrem Schlafzimmer, wo sie gerade einen Koffer im Beisein von Andreas packte, der diskret Abstand hielt. „Hast du dir die Wohnung angesehen, Benjamin?“ fragte Mama, als ich ins Zimmer kam.
Ich nickte. Mit einer genuschelten Antwort hätte ich vielleicht meinen Nuki herausnehmen müssen.
Mama lächelte. „Mehr nicht? Wie findest du sie?“
Das war gemein – da musste ich den Nuki ja rausnehmen. Ich nahm ihn heraus und antwortete: „Sie ist toll, Mama, und voll groß!“ Ich konnte mir schon bildlich vorstellen, wie ich im Wohnzimmer vor ihrem Sessel meine Lego-Baustelle aufbaue und Mama mit mir spielt.
Ich steckte den Nuki wieder in den Mund und umarmte Mama, während sie weiter den Koffer packte.
Als wir fertig waren, hielt Andreas wieder das komische Gerät über ihre Sachen, aber es gab keine Beanstandungen. Auf dem Weg nach draußen stoppte Mama plötzlich.
„Warten Sie bitte kurz“, sagte sie, und ging nochmal ins Wohnzimmer. Wir folgten ihr. Sie öffnete eine Schublade unter dem Bücherregal und nahm eine graue Tasche heraus.
„Die möchte ich noch mitnehmen.“ Andreas deutete auf den Tisch und sagte:
„Bitte einmal da hinlegen.“
Das Gerät schlug aus, und er öffnete die Tasche.
„Oh, das ist definitiv ein älteres Modell, aber zu viel Vorsicht gibt es in solchen Situationen nicht. Sie sollten sicherstellen, dass neue Batterien drin sind. Wenn wir am Ziel sind, schauen wir mal, welche reinkommen.“ Er schloss die Tasche wieder.
Mama schien erleichtert und verstaute die Tasche bei den restlichen Sachen.
„Danke, die hat mir mein Papa vor über 15 Jahren geschenkt, als ich für die Ausbildung weggezogen bin.“
„Mit dem würde ich mich bestimmt gut verstehen. Habe ich bei meiner Tochter auch gemacht“, grinste er.
Wir machten uns wieder auf den Weg zum Fahrzeug. Diesmal lief ich an Mamas Hand, da sie ihre Tasche selbst trug.
Kaum war alles verstaut, ging es schon weiter – zu einem unbekannten Ziel.
Fortsetzung folgt…
Danke für die vielen Kommentare. Es freut mich riesig das es so große Resonanz gibt.
Autor: michaneo (eingesandt via E-Mail)
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Die Geschichte ist und bleibt spannend😊
Wird noch herausgefunden, wie alt Benjamin wirklich ist?
Können bei dem Einkauf auch wieder Matschsachen dazukommen? Wäre doch sinnvoll für Benjamin.
Bitte weiter!😁
Das steht doch schon in Kapitel 1
Ja das habe ich gelesen, aber das meine ich nicht. Sie sind sich ja da nicht so sicher, wie alt er zur Zeit ist in seinem jerzigen Körper😊
Ja auch darauf wird es in den späteren teilen eine Auflösung geben 🙂
Diese Geschichte ist mit Abstand die beste die ich seit langem hier lese. Sehr detailliert, spannend,gute Charaktere und keine typische Windelgeschichte wo es nur um Windeln geht. Weiter so
Weiter weiter weiter 🙂
Nur weiter so mit der schönen Geschichte Ich bin schon auf der nächsten Teile gespannt
Kann es kaum erwarten mehr zu lesen!
Lasse uns bitte nicht so lange warten, bis es weitergeht. 5 Sterne bis jetzt
Keine Sorge, einige Teile sind bereits fertiggestellt. Die Betreiber der Website müssen jedoch alles sorgfältig prüfen, bevor es online geht – sei es aus Gründen des Jugendschutzes, zur Einhaltung von Qualitätsstandards oder anderen rechtlichen Anforderungen. Da das Team dies in seiner Freizeit macht, erfolgt die Veröffentlichung eben Stück für Stück.
@Lukas und Team
Vielen Dank für die Möglichkeit, hier unsere Geschichten zu veröffentlichen!
Ich bin recht angetahn von dieser Geschichte. Wenn es sichbei Benjamin um einen Cloon handelt, wie im zweiten Kapittel erwähnt, was ist dann mit dem original? Bin gespann wie weiter geht und all die Fragen geklährt werden!
Spannend…aber was ist wohl da in der grauen Tasche?