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Florians Schatten (21)

15/05/2025 13 comments Article Jungs, KI Geschichten michaneo

Dieser Eintrag ist Teil 21 von 25 der Serie Florians-Schatten
Windelgeschichten.org präsentiert: Florians Schatten (21)

 

Es war ganz dunkel im Zimmer. Nur so ein komisches, schwaches Leuchten kam von dem Pieps-Monitor neben meinem Bett. Ich mochte das Licht nicht. Es war irgendwie gruselig. Ich drehte den Kopf zur Seite und hab geguckt, ob Annette da ist. Aber… ihr Platz war leer. Sie war nicht hier. Ich war alleine. Ganz alleine.
Mein Herz klopfte plötzlich schneller. Ich hörte Stimmen. Jemand hat geredet, aber nicht hier drin. Die Stimmen kamen von draußen. Von hinter der Wand vielleicht. Oder da, wo die Tür sein müsste. Nur… ich konnte keine Tür sehen. Alles war so dunkel. Aber da, wo das Licht ein bisschen ins Zimmer schien – da musste sie sein.
Ich hab versucht, mich aufzurichten, weil ich nach Annette schauen wollte. Ich hab gedacht, vielleicht steht sie ja draußen und wartet auf mich oder redet mit jemandem. Aber als ich mich bewegt hab… Aua! Es hat voll wehgetan. Irgendwo in meinem Bauch oder vielleicht auch in der Brust. Ich wusste gar nicht genau, wo. Es war wie ein Stechen und Ziehen gleichzeitig. Ganz fies.
Ich rief leise: „Annette?“ Aber niemand hat geantwortet.
Dann hatte ich gedacht: Ich musste aufstehen. Ich wollte nicht hierbleiben. Nicht allein. Ich musste sie finden.
Also hatte ich meine Decke zur Seite geschoben, ganz langsam, und versucht, meine Beine aus dem Bett zu bekommen. Auch wenn’s weh tat. Ich wollte nicht mehr allein sein. Ich wollte einfach nur zu Annette.
Als ich mich mit dem Handballen auf die Matratze gestützt hatte, damit ich besser hochkam, da … da hatte sich plötzlich etwas an meinem Finger gelöst. Da war eben noch etwas dran gewesen. So ein kleines Ding, das gekitzelt hatte, und jetzt fiel es einfach auf den Boden.
Und dann – piep, piep, piep – fing der Monitor neben mir an, so ein ganz schnelles Piepsgeräusch zu machen. Nicht laut, aber irgendwie nervös. Ich hatte mich erschrocken und meine Schultern ganz schnell hochgezogen.
Da kam plötzlich eine Frau ins Zimmer – ganz schnell, mit festen Schritten. Und zack – es wurde hell. So hell, dass es in meinen Augen gebrannt hat. Ich musste sie sofort zumachen, so doll hat das Licht geblendet.
„Was machst du denn, kleiner Mann? Du kannst doch nicht einfach aufstehen. Und vor allem nicht alleine“, hat sie gesagt. Ihre Stimme war freundlich, aber ich kannte sie nicht. Das war nicht Annette. Mein Herz wurde ganz schwer. Ich wollte Annette.
Langsam hab ich die Augen wieder ein bisschen geöffnet. Erst war alles weiß und verschwommen, aber dann hab ich sie gesehen. Eine Frau mit einem hellblauen Anzug, der ein bisschen aussah wie ein Schlafanzug, aber keiner war. So einen hatten die anderen hier auch manchmal an.
Sie stand neben meinem Bett und hat sich runtergebeugt. Vom Boden hob sie etwas auf. „Das ist bestimmt deiner“, hat sie gesagt und mir Pandi gegeben.
Ich hab sofort die Arme ausgestreckt und meinen Panda ganz fest an mich gedrückt. Ich war froh, dass er wieder da war. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich ihn nicht mehr hatte.
Dann hat sie mir wieder was an den Finger gemacht. Es war nur so ein kleines Klemmding, aber ich hab gleich wieder dieses Gefühl gespürt – so, als wär da was an mir dran, was eigentlich nicht dahin gehört.
Ich hab mich ganz still verhalten. Ich hab mich gefragt, wo die Tür ist. Vielleicht steht Annette ja draußen. Vielleicht wartet sie da. Oder sie kommt gleich rein. Ich wollte nicht mehr allein sein. Nicht mit der fremden Frau. Nicht mit dem Piep-Gerät. Nicht mit dem Licht.
„Wo wolltest du denn hin?“ fragte die Frau, die gerade reingekommen war. Ihre Stimme war nicht streng. Ich sagte nichts. Ich schaute sie nur an, ganz still. Mein Herz klopfte doll, und ich versuchte, an ihr vorbei zu gucken. Vielleicht… vielleicht kommt Annette ja gleich rein. Vielleicht steht sie draußen. Vielleicht hat sie mich gehört.
„Musst du mal?“ fragte sie dann und kam einen Schritt näher ans Bett. „Ich kann eine Ente holen.“
Ich schüttelte schnell den Kopf. Ich wollte das nicht. Ich wusste nicht mal genau, ob ich musste. Aber ich wollte nicht, dass sie irgendwas holt oder macht.
Sie hockte sich jetzt ein bisschen hin, sodass sie nicht mehr so groß war, und lächelte leicht. „Hey, ich bin Schwester Erika. Ich pass heute Nacht auf dich auf. Du brauchst keine Angst zu haben.“
Ich sagte nichts. Ich drückte nur Pandi fester an mich. Ihre Augen waren irgendwie nett, aber sie war fremd. Und ich war nicht froh, dass sie da war. Ich wollte Annette.
„Du kannst mir ruhig sagen, was los ist“, sagte sie weiter. „Oder was du vorhattest. Aber einfach aufstehen geht noch nicht, Florian. Dein Bauch tut doch weh, oder?“
Ich nickte ein kleines bisschen. Nicht viel. Nur so, dass sie’s vielleicht merkte. Es hat ja wirklich wehgetan. Und ich war auch ein bisschen müde. Aber auch unruhig.
„Außerdem ist es mitten in der Nacht“, sagte sie dann. „Ich weiß, du hast lange geschlafen. Fast den ganzen Tag. Da ist es nicht so leicht, in der Nacht auch noch zu schlafen. Aber dein Körper braucht noch Ruhe.“
Ich sah sie wieder an. Ich wollte sagen, dass ich nur zu Annette wollte. Dass ich einfach schauen wollte, ob sie draußen ist. Aber ich traute mich nicht. Vielleicht hätte sie dann gesagt, dass Annette nicht kommen darf. Oder dass sie schon gegangen ist. Und das wollte ich nicht hören. Nicht jetzt.
Also hab ich nur geschluckt, ganz leise, und wieder genickt. Und gehofft, dass Annette gleich kommt.
Meine Augen brannten langsam. Es war so, als würde da etwas drücken, ganz von innen. Tränen sammelten sich, erst nur ein bisschen, aber dann wurden es mehr. Ich schniefte leise. Ich will doch nur zu Annette… Warum kommt sie nicht?
Die Schwester beugte sich noch ein Stück näher zu mir und sagte mit so einer sanften Stimme: „Oh nein, Florian… nicht weinen. Suchst du deine Mama?“
Ich nickte. Ganz langsam. Und da kam das Schluchzen einfach aus mir raus, ganz von selbst, ohne dass ich’s aufhalten konnte. Ich wollte es nicht, aber es war da.
„Hey… deine Mama schläft bestimmt gerade“, sagte sie leise. „Sie war ganz lange bei dir, weißt du? Aber sie muss sich auch mal ausruhen, sonst wird sie ganz müde. Aber ich versteh dich. Das ist alles doof hier. Alles fremd, alles piepst, und dann noch ohne Mama. Das ist nicht schön.“
Ich schaute sie an. Ihre Worte waren lieb. Und trotzdem war da dieses komische Ziehen in mir drin. So wie Heimweh. Aber nach Annette.
„Wollen wir die Mama nicht schlafen lassen?“ fragte sie dann vorsichtig.
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich wollte ja nicht, dass Annette meinetwegen müde ist… aber ich wollte sie auch hier. Ganz doll. Ich hatte Angst ohne sie. Was, wenn sie nicht mehr kommt? Was, wenn ich aufwach und sie ist einfach weg?
Ich schüttelte leicht den Kopf.
„Soll ich deine Mama rufen?“ fragte Schwester Erika dann ganz leise.
Ich nickte. Ganz leicht. Und sah sie an, mit so viel Hoffnung, wie ich konnte. Vielleicht… vielleicht klappt es ja.
„Warte hier, ja? Ich rufe auf der Station an“, sagte sie. „Aber bleib in deinem Bett, versprochen?“
Ich nickte wieder. Noch ein kleines bisschen. Dann war sie weg.
Ich drückte Pandi ganz fest an mich. So fest, wie ich konnte. Auch wenn’s im Bauch wieder weh tat. Ich wollte einfach nur, dass Annette kommt. Nur das.
Es dauerte gar nicht lange, da kam Schwester Erika schon wieder zurück. Ihre Schritte waren leise, fast so, als wollte sie niemanden wecken. Ich sah sie an, mein Herz klopfte immer noch ganz schnell.
„Ich hab auf der Station, wo deine Mama schläft, Bescheid gesagt“, sagte sie leise und lächelte ein bisschen. „Sie machen sie jetzt wach und schicken sie zu uns, ja?“
Ich nickte. Wieder nur ganz leicht. Es waren immer noch Tränen auf meiner Wange, und meine Nase war ganz voll. Ich wollte sie abwischen, aber meine Hände fühlten sich müde an. Ich ließ sie einfach auf der Decke liegen, ganz still.
Jetzt… jetzt hatte ich irgendwie ein komisches Gefühl im Bauch. Nicht das, was weh tut, sondern so ein anderes. So eins, das kribbelt und drückt. Weil Annette jetzt wegen mir nicht mehr schlafen kann. Weil sie extra aufstehen muss. Was, wenn sie böse ist? Oder traurig?
Ich wollte das doch gar nicht. Ich wollte nicht stören. Ich wollte nur… nur bei ihr sein. Nur, dass sie da ist.
Ich sah zur Tür, wo es noch ein bisschen heller war als im Rest vom Zimmer. Vielleicht kommt sie ja gleich. Vielleicht ist sie schon unterwegs.
Ich kuschelte mich ein Stück tiefer unter die Decke und drückte Pandi wieder ganz nah an mich ran. Ich wollte einfach, dass alles wieder gut ist. Dass ich ihre Stimme höre.
Schwester Erika blieb bei mir. Sie setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und lehnte sich ein bisschen nach vorne, aber nicht zu nah. Einfach so, dass ich sie gut sehen konnte.
„Deine Mama, kommt bestimmt gleich“, sagte sie leise. „Ich bleib so lange bei dir, bis sie da ist, versprochen.“
Ich nickte wieder ganz leicht. Das war gut. Nicht allein sein war gut.
„Einen tollen Panda hast du da“, sagte sie dann und zeigte mit einem kleinen Lächeln auf Pandi, den ich noch immer ganz fest an mich drückte. „Mein Enkel hat auch so einen. Den nimmt er überall mit hin. In den Kindergarten, zum Einkaufen, sogar in den Garten. Machst du das auch so?“
Ich sah sie an. Ihre Stimme war nicht mehr fremd. Nicht ganz. Aber auch nicht wie Annette. Ich überlegte kurz. Ich hatte Pandi eigentlich nur zum Schlafen. Er lag sonst immer im Bett und wartete auf mich. Aber jetzt… jetzt war er ja auch hier, mitten in der Nacht, und bei mir, wo alles doof war.
Der Gedanke, ihn überall mit hin zu nehmen, gefiel mir plötzlich. Er war ja jetzt auch für mich da. Ganz fest und weich. Und wenn er bei mir blieb, dann war es doch nur gerecht, wenn ich ihn auch nie alleine lasse. Vielleicht konnte ich ihn sogar mitnehmen, wenn ich wieder gesund bin. Vielleicht würde er dann immer dabei sein.
Ich nickte wieder. Dieses Mal ein bisschen mehr.
In diesem Moment ertönte ein Klingeln – ein Telefon, das an der Seite der Schwester lag. Sie griff danach, warf einen schnellen Blick aufs Display und sagte: „Das ist bestimmt deine Mama. Sie steht sicher gerade an der Tür.“
Dann stand sie auf und verließ den Raum.
Ich sah ihr nach und schluckte. Was, wenn es doch nicht Annette war? Wenn sie sich geirrt hatte?
Und wie lange würde ich jetzt allein sein? Ganz allein?
Ich hob Pandi ein Stück höher und drückte ihn an mein Gesicht, um mich an ihn zu kuscheln.
Er roch irgendwie ein kleines bisschen wie bei Annette zu Hause. So nach warm und weich und geborgen. Das war gut. Ich mochte das. Es machte, dass es in mir nicht mehr ganz so komisch zog.
Vielleicht war Pandi ja auch ein bisschen wie Zuhause. So wie ein Stück davon, das ich mitnehmen konnte, wenn ich woanders war. Ich schloss die Augen ganz kurz und stellte mir vor, wie ich ihn festhielt und er mich festhielt, ganz lange.
Dann … plötzlich … Schritte. Leise, aber ich hörte sie.
Und dann kam sie.
Annette.
Sie sah nicht so aus wie sonst. Ihre Haare waren anders, irgendwie … wuschelig. Nicht so glatt und ordentlich wie immer. Als ob sie gerade erst aufgewacht war. Ihr Gesicht war ganz müde, und die Augen ein bisschen rot.
Ich fühlte, wie es mir im Bauch kalt wurde. Das ist meine Schuld, dachte ich. Weil sie jetzt nicht mehr schlafen kann. Weil sie meinetwegen wach ist. Ich fühlte mich deswegen schlecht.
Annette kam näher. Ihre Schritte waren langsam, aber sicher.
Ich hielt Pandi ganz fest. So fest, dass meine Arme schon ein bisschen weh taten. Ich wusste nicht, was sie jetzt sagen würde. Ob sie traurig war. Oder sauer.
Aber sie sagte nichts.
Sie hockte sich einfach neben mein Bett und beugte sich zu mir runter.
Und dann – dann umarmte sie mich. Ganz vorsichtig. Nicht fest, als ob sie wusste, dass mein Bauch weh tat. Aber ich konnte ihre Arme spüren. Und ihren Kopf an meinem. Und ihren Geruch.
Und das war … das war wie zu Hause.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die Schwester wieder hereinkam.
Sie blieb ein Stück entfernt vor dem Bett stehen und sagte nichts.
Sie sah einfach nur zu. Ganz still.
Und ich war froh, dass sie nichts sagte.
Ich schloss meine Augen und klammerte mich an sie. Nicht doll, nur ein bisschen. So viel wie ging. Es fühlte sich gut an. So, wie wenn man nach einem schlimmen Traum aufwacht und merkt, dass alles doch nicht so schlimm ist.
Als ich die Augen wieder aufmachte, war es noch dunkel im Zimmer. Das Licht war nur ganz schwach, so als wäre es extra dunkel, damit keiner davon wach wird. Es war ruhig. Nur manchmal machte eins von den komischen Geräten ein leises Pieps-Geräusch. Ich spürte die Kabel an meinem Arm, an meinem Finger und irgendwo an meinem Bauch. Alles fühlte sich komisch an, so als würde ich noch träumen.
Die Schwester war nicht mehr da.
Aber Annette war da. Sie saß neben meinem Bett und streichelte mir ganz sanft über den Kopf. Immer wieder. Das mochte ich. Es war warm und irgendwie sicher. Ich wusste nicht, was ich sagen soll, aber ich wollte so gern nach Hause. Weg von hier. Weg von diesen ganzen Schläuchen.
„Können wir jetzt nach Hause?“ flüsterte ich. Meine Stimme war ganz leise, fast wie ein Mucks.
Annette schaute mich an. Ich konnte ihr Gesicht nicht richtig sehen, aber ich wusste, dass sie traurig war. Das fühlte man irgendwie.
„Leider noch nicht, mein Schatz“, sagte sie ganz leise. „Die Ärzte haben gesagt, du musst noch ein bisschen hierbleiben. Wenn’s dir morgen besser geht, darfst du erstmal auf die Kinderstation.“
Ich wollte das nicht hören. Ich wollte nicht noch irgendwo anders hin. Ich wollte einfach nur in mein Bett, dahin, wo alles normal ist.
Ich flüsterte nochmal, diesmal ein kleines bisschen lauter. So laut, wie ich eben konnte.
„Mir geht’s besser … ich will nach Hause.“
Aber auch wenn ich das sagte – mein Körper fühlte sich noch ganz schlapp an. Ich hab trotzdem gehofft, dass sie Ja sagt.
„Ja, mein Schatz, ich weiß, dass du gerne nach Hause möchtest – und das möchte ich auch. Viel lieber sogar“, sagte Annette leise. „Aber es ist wirklich wichtig, dass es dir erst wieder richtig gut geht. Ich … wir hatten ganz viel Angst um dich.“
Ihre Stimme zitterte ein bisschen. Fast so, als würde sie weinen.
Wegen mir?
War sie traurig, weil ich krank war? Weil ich irgendwas falsch gemacht hatte?
Das wollte ich nicht. Ich wollte doch nicht, dass sie weint. Oder sich Sorgen macht. Oder traurig ist.
Ich drehte den Kopf ein kleines Stück zu ihr, so weit es eben ging. Ganz leise, fast nur ein Hauch, sagte ich:
„Es tut mir leid … ich wollte das nicht.“
Annette beugte sich ein bisschen näher zu mir, und ich spürte ihre Hand auf meiner. Warm. Sicher.
„Aber Florian“, sagte sie ganz ruhig, „ich hab es dir doch vorhin schon erklärt: Du kannst doch überhaupt nichts dafür.“
Ich wollte ihr glauben. Ehrlich. Aber in meinem Kopf war trotzdem dieses komische Gefühl. Als ob ich vielleicht doch irgendwas hätte merken müssen. Oder irgendwas Falsches gemacht hab. Ich wusste nur nicht was. Ich wusste eigentlich gar nichts so richtig.
Ich drückte ihre Hand ein kleines bisschen, so gut ich konnte. Es war nicht viel, aber vielleicht reichte es, damit sie wusste, dass ich da war. Und dass ich es wirklich nicht wollte.
Vielleicht … war es ja trotzdem okay. Wenn sie hier war, konnte es nicht ganz schlimm sein. Oder?
„Annette?“, flüsterte ich.
„Ja, mein Schatz?“, antwortete sie sofort, ganz sanft.
Ich zögerte kurz. Irgendwie war mir warm im Bauch, obwohl mir eigentlich kalt war. Ich musste es einfach sagen. Ganz leise, aber mit allem, was ich gerade hatte.
„Ich hab dich lieb.“
Annette machte ein Geräusch, das ich nicht richtig einordnen konnte. Es klang ein bisschen wie ein Lachen und ein Weinen gleichzeitig. Und als sie sprach, hörte sich ihre Stimme anders an – so, als ob sie gerade wirklich weinte. Aber nicht weil sie traurig war. Sondern … anders.
„Ich dich auch, mein Schatz. So sehr … das glaubst du gar nicht.“
Ihre Hand hielt meine ein kleines bisschen fester, und ich spürte, wie sie sich ein Stück näher zu mir beugte. Ich konnte ihren Atem spüren, ganz leicht, ganz nah. Es war ein Moment, in dem alles andere ein kleines bisschen leiser wurde – die Kabel, das Piepen, das Kratzen im Hals, das mulmige Gefühl im Bauch.
Ich war zwar immer noch müde und alles war seltsam, aber gerade war es nicht so schlimm.
Weil sie da war. Und weil sie mich lieb hatte. Einfach so.
Vielleicht war das das Wichtigste überhaupt.
„Mach noch ein bisschen die Augen zu und ruh dich aus“, sagte Annette leise, während sie mir weiter über den Kopf strich. „Wenn du morgen auf die Kinderstation kommst, wird alles besser. Die haben dort sogar ein Spielzimmer.“
Ein Spielzimmer? Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie das hier in diesem komischen Krankenhaus aussehen sollte. Aber wenn Annette das sagte, dann stimmte das bestimmt. Trotzdem blieb dieses eine Gefühl in mir … so ein kleines Ziepen, so eine Frage, die ich nicht einfach runterschlucken konnte.
„Bleibst du hier?“, fragte ich ganz leise. Und ein kleines bisschen ängstlich.
Annette zögerte keine Sekunde. „Ja, mein Schatz. Ich bleibe bei dir. Und auf der Kinderstation hab ich dann auch ein Bett – direkt neben deinem.“
Ich atmete langsam ein. Der Gedanke, dass sie einfach hier blieb, so wie jetzt, ließ alles ein wenig weniger schlimm erscheinen. Vielleicht würde morgen tatsächlich alles besser sein.
Ich schloss die Augen, fühlte, wie meine Muskeln langsam weich wurden. Dann rutschte meine Hand vorsichtig zu meinem Mund, fast wie von selbst. Ich nahm den Daumen hinein, wie ich’s früher oft gemacht hatte, wenn ich mich sicher fühlen wollte.
Und dann war es wieder da. Dieses schöne Gefühl.
So warm in meinem Bauch.
Und in meinem Kopf, wo sonst alles durcheinander war.
Ganz langsam wurde alles still. Nicht gruselig-still, sondern so … weich. Wie eine Decke.
Annette war da.
Und morgen war vielleicht gar nicht mehr so weit weg.
Annette:
„Frau Wagner?“
Die Stimme kam plötzlich aus der Dunkelheit und riss mich abrupt aus dem Schlaf. Ich fuhr hoch, mein Herz klopfte sofort schneller, und ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, wo ich überhaupt war.
Die Nachtschwester stand in der Tür. „Nicht erschrecken“, sagte sie schnell, als sie meinen erschrockenen Blick sah. „Ihr Sohn ist aufgewacht.“
Es war mitten in der Nacht – das Licht im Flur war gedimmt, mein Zimmer fast ganz dunkel. Und sie hatten mich geweckt. Da musste etwas passiert sein. Ich spürte, wie mir heiß wurde, und sofort schrillten in meinem Kopf die Alarmglocken.
„Was ist mit Florian?“ fragte ich, noch bevor ich ganz aufrecht saß.
„Ihm geht es gut“, sagte sie beschwichtigend, „er fragt nur nach Ihnen.“
Aber ihre Worte drangen schon nicht mehr richtig zu mir durch. Ich war bereits aufgestanden, tastete nach meiner Hose, zog sie mir hastig über. Mein Kopf rauschte. Ich musste zu ihm.
Ich lief zur Tür, die Schwester wich zur Seite, und ich war schon auf dem Weg. Der Gang lag ruhig da, gedämpftes Licht, kaum jemand unterwegs. Nur ein paar Schwestern kamen mir entgegen, nickten oder schauten kurz auf. Alles war still.
Nur in mir war alles aufgewühlt. Ich wollte bei meinem Sohn sein, wollte sehen, was los war, ihn in den Arm nehmen, hören, wie er atmete, wissen, dass er wirklich in Ordnung war.
Ich erreichte den Aufzug, drückte ungeduldig den Knopf und fuhr hinauf zur Intensivstation.
Kaum angekommen, klingelte ich und holte einmal tief Luft.
Und jetzt, nach all der Aufregung, lag er einfach nur da.
Beim Anblick von Florian, wie er ganz ruhig an seinem Daumen nuckelte und sich sein kleiner Körper langsam entspannte, durchströmten mich so viele Gedanken.
Er wirkte so zerbrechlich, so winzig – beinahe wie ein Kleinkind.
Nichts an ihm erinnerte an ein Schulkind.
Alles an ihm schien zu rufen: Bitte, beschütz mich.
Wie kann es sein, dass ein so lieber, kleiner Mensch schon so viel durchmachen musste?
Ich fragte mich, wie es sein kann, dass ausgerechnet Menschen, die es nicht gut mit ihren Kindern meinen, überhaupt Kinder bekommen. Wie können Erwachsene Kindern in so jungen Jahren schon so schlimme Dinge antun? Er hat doch noch sein ganzes Leben vor sich. Die Kindheit sollte eine Zeit sein, in der man sich frei entfalten darf, in der man lacht, spielt und sich geborgen fühlt – um später stark ins Leben starten zu können. Das Leben wird früh genug kompliziert.
Und dann liegt da dieser kleine Junge, der schon mehr erlebt hat, als viele Erwachsene in einem ganzen Leben ertragen könnten.
Und doch ist er freundlich. Neugierig und hilfsbereit.
Kein Funken Wut, kein Trotz, kein Misstrauen – nur dieses leise, stille Bedürfnis nach Nähe und Sicherheit.
Er war etwas ganz Besonderes. Ein Kind, das man einfach nur lieben kann.
Ich wünschte mir so sehr, dass jetzt endlich alles gut wird. Dass er heilen darf – nicht nur sein Körper, sondern auch sein Herz. Dass er nicht mehr kämpfen muss, sondern einfach nur Kind sein darf.
Ich lehnte mich im Stuhl zurück, mein Blick noch einmal auf ihn gerichtet. Er lag ganz still, mit dem Daumen im Mund wirkte er so friedlich. Fast so, als wäre alles in Ordnung.
Mit einem letzten liebevollen Blick auf meinen kleinen nuckelnden Schatz schloss auch ich die Augen. Nur für einen Moment. Aber mit dem Gefühl, dass ich genau dort war, wo ich jetzt sein musste. Bei ihm.
„Frau Wagner?“
Die Stimme war leise, aber sie holte mich trotzdem aus dem Schlaf. Ich blinzelte, brauchte einen Moment, bis ich verstand, wo ich war. Das Licht im Zimmer war jetzt an, nicht grell, aber deutlich heller als in der Nacht. Ich hob den Kopf und sah zur Tür – eine Schwester stand da, freundlich, mit einem beruhigenden Blick. Doch mein erster Blick wanderte sofort zu Florian.
Er schlief noch. Ganz ruhig.
Sein kleiner Körper lag fast regungslos unter der Decke, nur die regelmäßige Bewegung seines Brustkorbs verriet, dass er atmete. Die Kabel und Sensoren lagen noch immer an den gewohnten Stellen, aber sie wirkten jetzt fast wie selbstverständlich – als wären sie ein Teil dieser vorübergehenden Wirklichkeit geworden.
Seine Haare waren ein bisschen zerzaust, und die eine Strähne, die ihm oft ins Gesicht fiel, lag quer über seiner Stirn. Und da war er – sein Daumen. Immer noch in seinem Mund, als hätte er ihn die ganze Zeit nicht losgelassen.
Wie ein Kind, das ganz am Anfang steht – und doch hatte er schon so viel hinter sich.
Etwas in mir wollte ihn einfach nur in den Arm nehmen, ihn einwickeln, warm halten, ihm sagen, dass alles gut wird. Und gleichzeitig wusste ich, dass mein Dasein genau das war, was er gerade am meisten brauchte.
Dass er noch immer nuckelte, rührte mich mehr, als ich zugeben wollte. Es zeigte mir, wie sehr sein Körper und seine Seele gerade nach Schutz suchten. Nach Nähe. Nach etwas, das ihn festhielt.
Ich lächelte ein wenig – erschöpft, aber voller Liebe – und sah dann zur Schwester, die geduldig wartete, bis ich ganz bei ihr war.
Die Schwester trat leise näher ans Bett, ein kleines Klemmbrett in der Hand. Sie war jung, aber wirkte ruhig und sicher, so wie jemand, der wusste, was er tat – und dabei nicht vergaß, dass da nicht nur Patienten liegen, sondern Menschen.
„Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken“, sagte sie leise und lächelte dabei. „Ich wollte nur kurz nach den Werten sehen. Sie haben die Nacht gut überstanden – Sie beide.“
Ich nickte still und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Mein Rücken meldete sich, als ich mich aufrichtete, aber es war mir egal. Hauptsache, Florian war noch so friedlich wie in der Nacht.
„Wir planen, ihn heute Vormittag auf die Kinderstation zu verlegen“, erklärte sie ruhig, während sie die Anzeigen auf dem Monitor prüfte. Dann sah sie kurz zu Florian, und ihr Blick wurde weich. „Er scheint tief und ruhig zu schlafen. Das ist gut. Das gibt dem Körper Zeit zum Heilen.“
Ich sah wieder zu ihm, wie er da lag – der Daumen noch immer im Mund, die Wangen leicht gerötet vom Schlaf, sein Atem leise und regelmäßig. Doch etwas in seiner Mimik veränderte sich ganz sacht. Eine winzige Bewegung seiner Stirn, ein Zucken im Augenlid. Ganz zart, kaum merklich.
Vielleicht… vielleicht wachte er langsam auf.
Ich beugte mich ein wenig vor, fast unbewusst, legte meine Hand sacht auf seine Decke. Ich sagte nichts. Noch nicht. Ich wollte ihm die Zeit lassen. Nur da sein.
Einfach da sein.
Florian:
Irgendwas veränderte sich.
Ich wusste nicht genau, was. Es war, als würde ich langsam aus einem ganz tiefen Traum auftauchen, aber ohne Bilder, nur mit Geräuschen und einem Gefühl. Ein bisschen heller, ein bisschen wärmer. Ich wollte die Augen noch nicht richtig aufmachen. Noch nicht ganz.
Mein Daumen war noch in meinem Mund. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass er die ganze Zeit da gewesen war. Aber jetzt fühlte ich es ganz deutlich. Dieses ruhige, weiche Gefühl, das mich irgendwie festhielt, als würde es sagen: Alles ist gut, du musst nichts tun. Ich nuckelte weiter. Ganz langsam, ganz leise. Es war einfach schön. Es half gegen das komische Ziehen im Bauch und das Ungewisse in meinem Kopf. Ich wollte gar nicht aufhören.
Ich hörte etwas. Stimmen. Nicht laut, nicht schlimm. Eher wie Flüstern. Irgendwas piepste leise, irgendwo. Aber das war alles weit weg.
Was wichtig war, war das andere Gefühl – das, das ganz nah war.
Ich spürte, dass jemand da war. Jemand, der mich nicht allein ließ.
Ich musste nicht mal richtig hingucken, um zu wissen, dass es Annette war. Ich konnte ihre Nähe fühlen.
Ich war so froh, dass sie da war.
Nicht weggegangen. Nicht wütend. Nicht enttäuscht.
Aber trotzdem … irgendwie traute ich mich nicht, sie anzusehen.
Ein Teil von mir wollte etwas sagen. Nur ein kleines Wort. Oder wenigstens flüstern. Damit sie wusste, dass ich sie auch wollte.
Aber meine Stimme war weg. Oder vielleicht hatte ich einfach nur Angst, dass das Falsche rauskommt. So wie früher manchmal. Wenn ich was gesagt habe und dann war alles noch schlimmer.
Also schwieg ich. Und das war … vielleicht okay. Weil sie nichts verlangte. Ich musste nichts sagen. Noch nicht.
Ich nuckelte weiter an meinem Daumen, ganz ruhig, in meinem eigenen kleinen Rhythmus.
Es war das Einzige, was ich gerade konnte, ohne etwas falsch zu machen.
Und es fühlte sich gut an. So gut, dass ich dachte … vielleicht darf ich einfach noch ein bisschen so bleiben.
Einfach nur liegen.
Still sein.
Und hoffen, dass sie wirklich bleibt.
Dass ich nicht wieder alleine bin.
Ich hörte eine Stimme. Eine Frau, nicht Annette. Sie sprach ruhig, aber ich kannte sie nicht.
„Die Visite müsste auch bald hier sein“, sagte sie. „Ich würde Florian gerne ein bisschen frisch machen.“
Annette antwortete leise, und dann spürte ich sie. Ihre Nähe. Ihre Hand an meiner Stirn – warm, ruhig.
Ich machte die Augen langsam auf.
Das Licht war heller als in der Nacht, aber irgendwie weich. Nicht schlimm. Ich blinzelte ein paar Mal. Und dann sah ich sie – Annette.
Ihre Augen lächelten mich an. Für einen kurzen Moment dachte ich, dass alles vielleicht wieder gut war.
Ich nuckelte noch. Mein Daumen war immer noch in meinem Mund. Es war so schön gewesen. So ruhig. So sicher.
Aber jetzt war jemand Fremdes im Raum. Ich spürte es sofort. Also zog ich meinen Daumen langsam raus. Auch wenn ich das eigentlich gar nicht wollte.
Ich wusste, dass man das nicht durfte.
Zumindest nicht bei meiner richtigen Mama.
Die hatte mich immer ganz schlimm angeschrien, wenn sie mich so gesehen hat.
Da hab ich’s nur noch heimlich gemacht.
Wenn ich alleine war.
Was ich fast immer war.
Jetzt war ich nicht allein. Und trotzdem fühlte sich mein Bauch komisch an. So unsicher, als ob gleich wieder was Falsches passiert.
Aber Annette war da. Und bei ihr war das manchmal anders. Bei ihr durfte ich manchmal einfach ich sein. Nur wusste ich nie, wie lange das so bleibt.
Ich lag ganz still, versuchte mich nicht zu bewegen. Doch dann spürte ich, wie jemand die Decke zur Seite schob.
Ich wusste, was das bedeutete.
Mein Herz fing an, schneller zu klopfen.
Ganz tief drinnen wollte ich einfach verschwinden.
Jetzt spürte ich es noch deutlicher: Meine Windel war nass. Richtig nass. Warm, klebrig, eklig.
Ich schämte mich so sehr.
Mein Gesicht wurde heiß, als hätte jemand ein Licht in mir angemacht, das alle peinlichen Sachen zeigte.
Ich hoffte, dass die Schwester nichts merkt. Oder wenigstens nichts sagt.
Nicht denken, dass ich ein Baby bin.
Nicht so gucken wie früher die Leute.
Aber sie sagte gar nichts Doofes.
Keine Bemerkung, kein komischer Blick.
Stattdessen sprach sie leise und ruhig. Fast so, als hätte sie gemerkt, was ich gerade dachte.
„Florian, ich mach dir jetzt gleich eine frische Windel, ja? Nur ganz vorsichtig. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“
Ich wollte „nein“ sagen. Ich wollte sie bitten, es nicht zu tun. Aber ich brachte kein Wort heraus.
Annette beugte sich zu mir runter. Ihre Stimme war leise, wie immer, wenn sie wollte, dass ich mich nicht fürchte.
„Alles gut, mein Schatz. Ich bin bei dir. Ich mach das mit der Schwester zusammen. Wir sind ganz vorsichtig, ja?“
Ich nickte ganz leicht. Nicht, weil ich es wollte. Sondern weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte.
Ich wollte nicht, dass sie das machen. Aber ich wollte auch nicht, dass Annette geht.
Und solange sie da war, war es wenigstens nicht ganz so schlimm.
Als die kühle Luft meine Beine berührte, zuckte ich leicht zusammen. Die Schwester war ganz ruhig. Keine Hektik. Kein Stress.
Sie öffnete die Windel vorsichtig. Schaute sie sich an.
Ich spürte, wie Annette meine Hand hielt.
Dann sah ich, wie die Schwester kurz innehielt.
Sie schaute mich an und lächelte. Kein dummes Lächeln. Kein Mitleid. Einfach nur nett.
„Weißt du, das ist überhaupt nicht schlimm“, sagte sie leise. „Ich hab das schon bei ganz vielen Kindern gemacht. Und auch bei Erwachsenen. Du brauchst dich wirklich nicht zu schämen.“
Aber ich schämte mich trotzdem. So sehr.
Ich starrte zur Decke, als könnte ich mich dort festhalten.
Ich wollte das alles nicht.
Nicht fühlen. Nicht da sein.
„So, gleich ist alles sauber“, sagte die Schwester freundlich. Ihre Stimme blieb ruhig.
Nicht so wie früher, wenn jemand wütend wurde.
Trotzdem war es mir unangenehm. Alles an mir war verlegen und unsicher.
Sie machten mich sauber, ganz vorsichtig. Zogen mir eine frische Windel an.
Ich spürte alles. Und doch wollte ich am liebsten nichts spüren.
Dann nahm die Schwester eine kleine Zahnbürste. Sie hatte sie wohl schon vorbereitet.
Ganz sanft strich sie mir über die Zähne. Ich machte den Mund auf, obwohl ich es nicht mochte.
Es fühlte sich komisch an, wenn jemand Fremdes das machte.
Aber sie war vorsichtig. Und es ging schnell.
Zum Schluss wusch sie mir mit einem feuchten Tuch Gesicht, Arme und Hals.
Es war kalt. Und klamm. Ich mochte das Gefühl nicht.
Es war fremd. So fremd wie alles gerade.
Alles – außer Annette.
Sie war da.
Sie hielt mich – mit ihrer Stimme, mit ihren Augen, mit ihrer Nähe.
Und vielleicht … vielleicht konnte ich deshalb einfach liegen bleiben.
Auch wenn sich alles in mir so unsicher anfühlte.
Weil ich wusste:
Bei ihr bin ich … vielleicht … sicher.
Ich hörte Schritte. Lauter als sonst. Schneller. Nicht wie die Schwestern, die leise gehen und leise sprechen. Das hier war anders. Ich musste meine Augen gar nicht aufmachen, um zu wissen: Da waren neue Leute im Raum. Viele. Ich konnte es spüren.
Dann war Annette da. Ihre Hand strich mir über den Kopf, dann über meine Wange. Immer wieder, ganz ruhig. So wie in der Nacht. Das half.
Ich war nicht allein.
Aber in meinem Bauch war trotzdem dieses komische Gefühl. So, als würde alles ein bisschen zu schnell gehen. Als wäre etwas nicht richtig. Ich mochte das nicht. Die Stimmen waren fremd, sie redeten schnell, und ich verstand kaum ein Wort.
Ohne groß nachzudenken, steckte ich mir wieder den Daumen in den Mund. Ich brauchte das einfach jetzt. Es half ein bisschen gegen das Kribbeln im Bauch und gegen die Angst, die ich nicht genau erklären konnte. So war’s besser. Ruhiger.
Ich konzentrierte mich auf das Streicheln von Annette und versuchte, mich ganz klein zu machen. Still. Vielleicht merkten sie mich dann nicht so sehr.
Ich blinzelte ganz leicht mit den Augen. Ich sah nicht viel – nur weiße Kittel, viele Erwachsene. Manche hatten so Dinger um den Hals hängen. Einer von ihnen war alt, sehr alt. Er hatte graue Haare und ganz viele Falten, und er sagte nichts. Aber alle ließen ihm Platz, als er ans Bett trat. An mein Bett.
Eine Frau sprach. Nicht zu mir, sondern zu den anderen. Ihre Stimme war ruhig, irgendwie klug. Ich verstand kaum etwas, aber ich hörte hin. Vielleicht konnte ich irgendwas erkennen.
„Florian Brock 7 Jahre, Einlieferung am Samstag nach mutmaßlicher Einnahme von GHB, vermutlich unbemerkt verabreicht. Erste Reanimationsmaßnahmen durch Angehörige, stabile Rückgewinnung des Kreislaufs vor Eintreffen des Notarztes. Intubation und kontrollierte Beatmung noch am Einsatzort. Übergabe an die Notaufnahme um 13:25 Uhr, Verlegung auf die Intensivstation gegen 15:30 Uhr.“
Ich wusste nicht, was GHB war. Oder intubiert. Aber ich wusste: Das alles ging um mich. Um das, was passiert war. Und ich mochte nicht, dass alle so auf mich schauten.
Annette beugte sich ein wenig näher zu mir. Ihre Hand blieb an meiner Wange, ganz weich. Ich nuckelte weiter. Ganz ruhig. Einfach atmen. Nur atmen.
Die Frau redete weiter.
„Sedierung über Nacht, insgesamt stabile Kreislaufverhältnisse. Extubation am Sonntag gegen Mittag, Spontanatmung seither ohne Komplikationen. Sättigungswerte konstant, neurologisch vollständig ansprechbar.“
Ich verstand kaum ein Wort. Aber niemand klang aufgeregt. Niemand klang böse. Das war gut, oder?
„Aktuell guter Allgemeinzustand. Keine Hinweise auf Hypoxie-bedingte Spätschäden. Heute Morgen weiter wach, orientiert, reagiert adäquat. Wir empfehlen Verlegung auf die pädiatrische Normalstation zur weiteren Überwachung und Abklärung eventueller Spätfolgen.“
Pädiatrisch. Dieses Wort kannte ich auch nicht.
Aber Verlegung bedeutete, dass ich irgendwo anders hinmusste. Ich wollte das nicht. Nicht ohne Annette.
Ich drückte meinen Daumen ein wenig fester gegen den Gaumen, als ob ich damit alles festhalten könnte, was sich gut anfühlte.
Annette war da. Ihre Hand war da. Ihre Nähe.
Ich wusste nicht genau, was da alles über mich gesagt wurde – aber ich wusste, dass ich gerade sicher war.
Der alte Mann trat näher, er bewegte sich langsam, aber bestimmt. So, als hätte er alles im Blick. Keiner der anderen sagte etwas – alle warteten nur darauf, was er tun oder sagen würde.
Er schaute erst zu Annette, dann zu mir. Sein Blick war nicht streng. Und auch nicht fremd. Irgendwie ruhig. Als ob er wusste, dass ich gerade nicht viel aushalte.
Dann sprach er.
„Also, Florian“, sagte er mit einer Stimme, die tief war, aber nicht laut. „Heute bekommst du ein anderes Zimmer. Auf der Kinderstation. Da ist es ein bisschen ruhiger, ein bisschen heller – und nicht mehr so viele Geräte um dich herum.“
Ich nuckelte weiter an meinem Daumen. Ich traute mich nicht, was zu sagen, aber ich hörte genau zu.
Er klang nicht wie jemand, der böse Nachrichten brachte. Mehr wie jemand, der wusste, was als Nächstes kommt.
„Dort kannst du dich besser erholen“, fuhr er fort. „Du bekommst ein anderes Bett, und deine Mama ist die ganze Zeit bei dir. Sie schläft direkt neben dir. Und wenn du dich wohlfühlst, darfst du dort auch ein bisschen malen oder ein Buch anschauen. Es gibt sogar ein Spielzimmer.“
Ein Spielzimmer.
Ich konnte mir das nicht so richtig vorstellen, aber es klang … besser. Nicht so unheimlich wie hier.
Ich nickte ganz vorsichtig. Es war komisch, so viele Leute im Raum zu haben, die über mich redeten. Aber er hatte es ruhig erklärt. So, dass ich es verstanden habe.
Und nichts davon klang schlimm.
Dann sprach er leise mit Annette. Ich verstand nur „Verlegung“ und „gegen neun Uhr“. Ich hörte nicht mehr richtig hin.
Ich war zu sehr damit beschäftigt, mir vorzustellen, wie das neue Zimmer wohl aussieht. Ob es Fenster hat. Ob da auch so ein komisches Piepsgerät steht. Und ob Annette wirklich ganz nah bei mir bleibt.
Ihre Hand war noch immer an meiner Wange. Und ich ließ den Daumen einfach im Mund. Nur für jetzt. Nur, bis alles wirklich gut war.
Die Stimmen wurden leiser, die Schritte entfernten sich. Einer nach dem anderen verließ das Zimmer, bis nur noch die Schwester da war. Die mit dem freundlichen Gesicht. Es wurde ein kleines bisschen ruhiger. Nur ein kleines bisschen.
Sie sprach mit Annette, aber dabei schaute sie zu mir.
„Wir nehmen jetzt erstmal die Sensoren ab“, sagte sie leise. „Und dann darf Florian bestimmt ein bisschen was trinken. Du hast bestimmt schon Durst, oder?“
Ich sah sie nur kurz an, dann wieder weg. Mein Mund war ganz trocken, meine Lippen klebten ein bisschen zusammen. Ich wollte trinken. Ganz dringend sogar. Aber ich konnte nichts sagen. Irgendwie war meine Stimme weg. Oder vielleicht war da einfach diese Angst, die alles festhielt.
Ich wollte nicht stören. Nicht falsch sein. Vielleicht war es noch nicht erlaubt. Vielleicht war das etwas, was nur Erwachsene wissen durften. Ich hätte es Annette sagen können – aber ich brachte es nicht über die Lippen.
Also blieb ich still.
Die Schwester kam näher an mein Bett. Ich spürte, wie sich alles in mir wieder ein bisschen zusammenzog. Ich wusste, dass sie nichts Böses wollte. Sie war nett, das hatte ich schon gemerkt. Aber trotzdem war es komisch, wenn jemand etwas mit mir machte und ich nicht genau wusste, was passiert.
Sie sagte nichts Lautes, bewegte sich ganz ruhig.
Dann schob sie langsam meine Decke zur Seite. Es war nicht kalt im Zimmer, aber ohne die Decke fühlte ich mich plötzlich so … offen. So, als würde jeder mich sehen können. Ich schaute nicht hin. Ich konzentrierte mich nur auf das Streicheln von Annette und darauf, ganz still zu sein.
Jetzt machte die Schwester etwas an meiner Hand. Ich spürte es sofort: dieser kleine Clip, der wie eine Klammer an meinem Finger hing und immer rot geleuchtet hatte. Ich kannte ihn. In der Nacht war er mal abgegangen, als ich versucht hatte aufzustehen. Und da hatte es gepiept. Ganz laut.
Auch jetzt piepte es wieder, sobald sie ihn abnahm.
Das Geräusch kam plötzlich – schrill und durchdringend.
Ich zuckte zusammen.
Obwohl ich es kannte, erschreckte es mich. Für einen Moment dachte ich, ich hätte wieder etwas falsch gemacht. Oder dass mit mir etwas nicht stimmte.
Aber die Schwester blieb ganz ruhig.
„So, das ist ab“, sagte sie leise – und drückte einen Knopf am Gerät. Das Piepen hörte sofort auf.
„So, mein kleiner Mann – jetzt ist endlich wieder Ruhe“, sagte sie mit einem Lächeln in der Stimme. „Die ganzen Geräte bist du bald los.“
Dann griff sie vorsichtig nach meinem Oberteil – nach diesem dünnen Hemd, das ich im Krankenhaus bekommen hatte. Ich wusste nicht, wie das heißt. Sie hob es ein Stück hoch, sodass mein Bauch frei war.
Ich spürte die Luft auf der Haut. Sie war nicht kalt, aber fremd.
„Ich mach jetzt die Sensoren ab, ja?“ sagte die Schwester leise, fast so, als wollte sie mich nicht erschrecken. „Das kann ein bisschen ziepen, aber ich mach’s ganz vorsichtig.“
Ich nickte kaum merklich, obwohl ich gar nicht wusste, wie sich „ziepen“ genau anfühlt. Vielleicht wie ein Pflaster. Vielleicht schlimmer.
Ihre Finger waren warm und ganz weich. Sie löste die kleinen runden Klebedinger von meinem Bauch, eins nach dem anderen. Erst rechts, dann in der Mitte, dann links.
Es zog tatsächlich kurz – so ein kleines Ziehen, wie wenn man einen Aufkleber zu schnell abmacht. Ich zuckte ein bisschen, aber sie war wirklich vorsichtig.
„So ist’s gut“, murmelte sie mehr zu sich selbst, aber ich hörte es trotzdem. Es war beruhigend. Fast wie ein Lob. Als hätte ich was geschafft.
IIch schaute auf meinen Bauch.
Und dann sah ich es.
Da war ein großer dunkler Fleck. Nicht einfach nur rot, sondern irgendwie… lila und blau und fast schwarz an den Rändern. Wie ein riesiger blauer Fleck, nur größer. Und dicker.
Ich schluckte.
Das war da also die ganze Zeit?
Deshalb tut’s immer weh, wenn ich mich bewege?
Es sah fremd aus. Als würde das gar nicht zu mir gehören. Mein Bauch – der sollte doch normal aussehen. Nicht so… kaputt. Ich wollte es nicht länger ansehen. Mein Kopf fühlte sich komisch an, als ich das angeschaut hab. Irgendwie leer. Und gleichzeitig zu voll.
Ich drehte den Kopf weg. Ganz schnell. Ich wollte nicht, dass da was so Seltsames an mir dran war. Ich wollte einfach wieder vergessen, dass es das überhaupt gibt. Ich wollte einfach nur, dass es vorbei war. Dass ich wieder unter die Decke konnte. Dass Annette mich wieder zudeckte, ganz fest. So wie vorher. So wie sicher.
Dann fragte sie: „Möchtest du einen kleinen Schluck trinken? Nur ganz langsam. Wir fangen vorsichtig an, ja?“
Ich sah zu Annette. Sie nickte und lächelte mich an. Ihre Hand war wieder an meiner Wange. Ich fühlte mich ein kleines bisschen mutiger.
Die Schwester holte einen Becher – er war durchsichtig, mit einem bunten Trinkhalm. Sie hielt ihn für mich fest.
Ich hob meinen Kopf ein Stück. Es war anstrengender, als ich gedacht hatte. Mein Nacken zitterte ein bisschen. Aber Annette half mir, sie stützte mich mit einem Arm ganz vorsichtig von hinten.
Ich nahm den ersten Schluck. Nur ein ganz kleiner. Das Wasser war kühl. Es tat meinem Hals gut. Alles fühlte sich gleich ein bisschen weniger trocken an.
„Ganz langsam“, sagte die Schwester. „Nur, wenn du möchtest.“
Ich nahm noch zwei kleine Schlucke, dann schüttelte ich ganz leicht den Kopf. Mehr ging nicht. Mein Bauch war komisch – nicht schlecht, aber irgendwie voll, obwohl ich fast nichts getrunken hatte.
„Das hast du super gemacht, Florian“, sagte sie freundlich und legte den Kopf leicht zur Seite. „Für den Anfang ist das völlig ausreichend. Wir geben dir trotzdem noch eine Infusion, damit dein Körper genug Flüssigkeit bekommt, ja?“
Ich wusste nicht so genau, was eine Infusion war, aber ich nickte trotzdem. Die Schwester hatte das ganz ruhig gesagt, und ich wollte nichts falsch machen.
Sie ging kurz raus und kam dann mit einem Beutel zurück, in dem eine durchsichtige Flüssigkeit war. Der Beutel wackelte ein bisschen, als sie ihn trug, und sie hängte ihn oben an so einen Ständer mit Haken – wie ein dünner Baum aus Metall.
Dann kam sie zu meinem Arm. Da war noch dieses kleine Ding dran – unter einem Pflaster. Es war schon die ganze Zeit da. Ich wusste nicht, wie das heißt.
Sie machte einen Schlauch an den Beutel und steckte ihn dann ganz vorsichtig an das Ding in meinem Arm. Ich spürte ein kurzes Ziehen, so wie wenn jemand kurz am Ärmel zupft. Es tat nicht weh. Es war nur komisch.
Ich schaute kurz zu dem Schlauch. Die Flüssigkeit lief ganz langsam nach unten, Tropfen für Tropfen. Es sah irgendwie friedlich aus.
„So, das läuft jetzt langsam ein“, sagte sie. „Du musst nichts tun. Einfach weiter ausruhen.“
Ich ließ mich wieder ins Kissen sinken. Mein Kopf fühlte sich schwer an. Aber nicht auf eine schlechte Art. Ich war einfach müde. Und satt. Nicht im Bauch – aber im Kopf. So viel war passiert.
Annette war da. Sie streichelte weiter meinen Kopf. Und ich dachte an das neue Zimmer. Und an das Spielzimmer.
Ich lag einfach nur da. Ganz still. Ich war zu müde zum Denken, zu schlapp zum Reden. Die Flüssigkeit aus dem Beutel tropfte langsam durch den dünnen Schlauch in meinen Arm. Es fühlte sich nicht komisch an. Eher … ruhig. So, als würde mein Körper das einfach annehmen. Wie Wasser, das man ganz langsam trinkt, ohne den Mund zu benutzen.
Annette saß neben mir. Sie hatte ein Buch auf dem Schoß, das sie mit beiden Händen hielt. Ihre Stimme war leise und warm, sie sprach jedes Wort so, als wäre es wichtig. Nicht hastig, nicht nur so dahin. Sie ließ sich Zeit. Und ich mochte das.
„…und der kleine Dachs tappte mit seinen Pfoten durch den frischen Schnee. ‚Wo sind denn alle hin?‘, fragte er verwundert. Doch dann entdeckte er kleine Spuren, die von seinem Bau wegführten. Er folgte ihnen neugierig – und plötzlich sah er sie alle: den Hasen, das Reh, den Igel… und sie alle riefen: ‚Überraschung! Wir haben auf dich gewartet!‘“
Ich sah zu Annette, wie ihre Lippen sich bewegten. Ich mochte, wie sie las. Als wäre sie selbst ein bisschen in der Geschichte drin.
„Der kleine Dachs blieb stehen und blinzelte gegen das Licht. Überall im Wald hingen kleine Lichter – in den Bäumen, zwischen den Ästen, sogar im Schnee. ‚Ist das alles… für mich?‘, fragte er leise. Der Igel nickte und piekste ihn sanft mit der Nase. ‚Natürlich. Du gehörst doch zu uns.‘“
Ich spürte, wie mein Herz ein bisschen schneller schlug. Nicht so, dass es wehtat. Sondern so, wie wenn man etwas hört, das man gern glauben will.
Du gehörst doch zu uns.
Ich fragte mich, wie das wohl ist, wenn jemand auf einen wartet.
Einfach so. Ohne dass man was tun muss. Ohne dass man etwas leisten muss. Nur weil man da ist.
Ich wusste nicht, ob ich das jemals so gehabt hatte. Vielleicht jetzt. Vielleicht bei Annette.
Ich schloss kurz die Augen. Ich hörte weiter ihre Stimme, wie sie von Lichtern im Schnee erzählte, vom warmen Bau und dem kleinen Feuer, an dem die Tiere saßen.
Und für einen kleinen Moment war es, als würde ich auch dazugehören.
Nach einer Weile kam die Schwester wieder. Sie lächelte, und irgendwie fühlte sich das gut an. Nicht so wie bei Leuten, die nur so tun, als ob – sondern richtig. Echt. Ich mochte das.
„Ich nehme dir jetzt die Infusion ab, Florian“, sagte sie freundlich. „Das dauert nur einen Moment. Später bekommst du nochmal eine neue.“
Ich schaute auf meinen Arm. Da war dieser durchsichtige Schlauch dran, der in so ein kleines Plastikding an meiner Haut gesteckt war. Ich wusste nicht, wie das hieß. Es sah ein bisschen aus wie ein winziges Türmchen, aus dem was rauskommen konnte.
Die Schwester schraubte den Schlauch vorsichtig ab – es machte ein leises Knack. Dann holte sie ein kleines Teil aus ihrer Tasche, so etwas wie ein Stöpsel, und drehte es oben auf dieses Ding an meinem Arm.
„So, jetzt ist es zu“, sagte sie ruhig. „Das bleibt noch dran, damit wir später nicht nochmal pieksen müssen.“
Sie wischte nochmal mit was Kaltem drüber und klebte ein frisches Pflaster drauf. Ich spürte das Plastikding fast gar nicht mehr. Aber irgendwie war es trotzdem seltsam zu wissen, dass da noch was in mir drin war.
Sie richtete sich auf, warf einen Blick zur Tür und sagte leise:
„Jetzt geht’s bald los. Wir bringen dich gleich auf die Kinderstation.“
Kurz danach kam ein anderer Erwachsener herein. Er war groß und trug so komische blaue Sachen – wie alle hier. Er schob ein Bett vor sich her, das etwas kleiner aussah als meins, aber irgendwie gemütlich wirkte. Die Decke war bunt gestreift. Der Mann sagte nichts, nur ein leises „Guten Morgen“, und schaute dann zur Schwester.
Sie trat einen Schritt näher an mein Bett.
„So, Florian. Jetzt ziehst du auf dein neues Bett um“, sagte sie.
Ich nickte und wollte mich schon aufrichten, um selbst rüberzuklettern. Aber da hielt sie mich sanft zurück.
„So war das nicht gemeint“, sagte sie ruhig und wandte sich an Annette. „Wollen Sie, oder soll ich?“
Annette lächelte. „Ich nehme ihn.“
Sie trat näher, beugte sich über mich und hob mich ganz vorsichtig hoch – einen Arm unter meinen Rücken, den anderen unter meine Beine. Es ging so schnell, dass ich kaum nachdenken konnte. Und trotzdem fühlte es sich gut an. Sicher. Geborgen. Dann legte sie mich in das neue Bett und zog mir die bunte Decke bis zur Brust.
Ich wäre am liebsten bei ihr geblieben. Ganz nah. Für immer. Aber sie blieb neben mir stehen, und das war fast genauso gut.
Die Schwester sagte leise:
„Wir fahren jetzt los, Florian. Gleich sind wir da.“
Das Bett rollte langsam durch den Flur. Ich hörte das leise Rumpeln der Räder und das Knarzen irgendwo hinter mir. Der große Mann schob das Bett vorsichtig, als wollte er nicht stören. Annette ging neben mir. Ihre Hand lag auf meinem Arm. Ich wollte, dass sie da bleibt – und sie blieb.
Dann kamen wir zum Fahrstuhl. Die Tür öffnete sich mit einem leisen „Bing“.
Der war so groß, das mein ganzes Bett rein passte. Annette trat mit ein. Die Schwester auch. Es war eng, aber nicht schlimm. Die Tür schloss sich leise, und dann spürte ich, wie wir langsam nach oben fuhren. Nicht schnell. Aber ich merkte es. In meinem Bauch. So, wie wenn man auf einem Spielplatz auf dem Karussell ist, das sich ganz langsam dreht.
Keiner sagte etwas. Nur das Summen des Aufzugs war zu hören.
Dann machte es wieder „Bing“ und die Tür ging auf. Es wurde sofort heller. Ganz anders als vorher. Vorher war alles irgendwie grau und still, so wie in einem Raum, wo man flüstern muss und keiner lachen darf.
Jetzt roch es plötzlich anders. Nicht mehr so komisch wie vorher – nicht mehr wie diese kalte, scharfe Luft, die in der Nase kitzelt und ein bisschen nach Metall schmeckt. Hier war es wärmer.
Vielleicht roch es nach Papier. Oder nach dieser runden Seife, die mal in Annette und Markus’ Badezimmer lag. Oder nach irgendwas, das man in einer Kiste mit Spielsachen finden könnte.
Ich wusste nicht genau, was es war. Aber es war besser. Irgendwie freundlicher. Fast ein bisschen wie Zuhause.
„Da sind wir“, sagte Annette.
Ich schaute zu Ihr. Sie lächelte. Genauso wie vorhin. Dieses Lächeln, das sagt: Es ist alles gut.
Das neue Zimmer war kleiner, aber schön. An der Wand war ein Bild mit einem Löwen und einem Elefanten, die aussahen, als würden sie gerade etwas Lustiges erzählen. Neben meinem Bett war ein großer, dunkler Sessel. Und ein zweites Bett. Für Annette.
„Das ist jetzt unser Zimmer“, sagte sie leise.
Und auf einmal fühlte sich mein Bauch nicht mehr so eng an.
Es war immer noch neu. Und fremd.
Aber mit Annette da…
war es ein bisschen weniger fremd.
Und ein kleines bisschen wie ankommen.
Jetzt war es wieder ganz still im Zimmer. Nur das leise Summen von irgendeinem Gerät war zu hören. Annette saß neben meinem Bett, in dem großen, dunklen Sessel, der ein bisschen aussah wie aus einem Bilderbuch. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, die Hände auf dem Schoß gefaltet, und schaute einfach nur zu mir.
Sie war da. Ganz ruhig. Das war gut.
Ich lag einfach nur da und starrte zur Decke. Mein Bauch fühlte sich irgendwie komisch an. Nicht schlimm. Aber so, als würde etwas passieren. Dann kam dieses Ziehen. Ganz kurz, ganz plötzlich. Und ich wusste sofort, was es bedeutete.
Ich wollte was sagen, mich irgendwie melden, aber es war zu spät.
Es lief schon. Einfach so. Ganz warm.
In meine Windel.
Ich hielt den Atem an, ganz kurz. Dann kam ein leiser Seufzer.
Nicht, weil es wehtat. Sondern weil ich es nicht wollte. Immer noch nicht. Auch wenn ich wusste, dass ich nichts dafür konnte. Auch wenn Annette immer sagte, dass es nicht schlimm ist.
Annette merkte wohl, dass sich etwas verändert hatte.
„Ist alles gut, mein Schatz?“ Ihre Stimme war ganz leise, ganz nah.
Ich sah zu ihr.
„Ich hab… gepullert“, flüsterte ich.
Es war mir peinlich. Eigentlich.
Aber bei ihr war es nicht so schlimm. Bei ihr durfte ich sowas sagen. Ohne dass jemand böse wurde oder komisch guckte.
Sie lächelte sanft. Nicht dieses Erwachsene-„Ist-nicht-so-schlimm“-Lächeln, sondern ein echtes.
„Und geht’s dir jetzt besser?“
Ich nickte. Einmal.
„Mhm.“
„Müssen wir gleich wechseln, oder geht’s noch ein bisschen?“ fragte sie vorsichtig.
Ich überlegte. Es fühlte sich warm an. Aber nicht nass. Noch nicht unangenehm.
„Geht noch“, murmelte ich.
Dann sah ich sie an.
„Darf ich zu dir? Auf deinen Schoß?“
Ich wollte bei ihr sein. Ihre Nähe spüren. Weg von der Decke, weg vom Bett. Einfach bei ihr.
Annette sah mich kurz an – erst überrascht, dann ganz weich.
Sie stand auf, rückte ihren Sessel näher ans Bett, setzte sich auf die Kante und streckte die Arme nach mir aus.
Ich schob mich langsam in ihre Richtung, und sie half mir vorsichtig, hob mich an, so wie sie es immer machte – mit beiden Armen, ganz behutsam. Ich ließ mich in ihren Schoß sinken, meinen Kopf an ihre Bauch. Da war es warm. Da war es schulter. Ich konnte ihr Herz hören, leise unter ihrem Pulli. Es klang wie ein langsamer Takt, der sagte: Du bist sicher.
Sie legte ihre Arme um mich, hielt mich und Pandi, der noch immer auf meinem Schoß lag, und ich schloss die Augen für einen Moment. Alles war gut.
Da ging die Tür auf.
Ich zuckte leicht zusammen und öffnete die Augen wieder.
Eine Frau kam ins Zimmer. Sie trug ein buntes Oberteil mit einem blauen Elefanten und einer gelben Ente darauf. Ihre Hose war hellblau. Sie sah aus wie jemand, der in einer Kita arbeitet, nicht wie jemand aus dem Krankenhaus.
Sie kam näher zu uns und lächelte.
„Hallo, ihr zwei. Ich bin Schwester Laura.“
Dann schaute sie mich an.
„Und wer bist du?“
Ich senkte den Kopf und kuschelte mich fester an Annette. Ich wollte jetzt nicht reden. Nicht schon wieder jemand Neues. Nicht jetzt.
Aber sie lächelte trotzdem weiter.
„Du bist bestimmt noch ganz schön müde, hm? Und musst erst mal ein bisschen auftauen. Vielleicht verrätst du mir später deinen Namen. Ich warte gern.“
Dann sah sie zu Annette.
„Ich bringe Ihnen gleich noch Ihr Frühstück. Sie waren ja vorhin nicht da.“
„Das ist sehr lieb, danke“, sagte Annette ruhig.
„Und für dich, kleiner Mann“, sagte Schwester Laura wieder an mich gewandt, „gibt’s nachher eine Portion Schonkost. Leichte Sachen, damit dein Bauch sich wieder dran gewöhnt.“
Schonkost?, dachte ich. Ich wusste nicht, was das war. Aber ich hatte sowieso keinen Hunger.
Mein Bauch war zwar leer, aber nicht so, dass ich was essen wollte.
Ich spürte, wie es schon wieder warm wurde in meiner Windel. Ich sagte nichts. Ich wollte nur hierbleiben. Ganz still.
Mein Daumen zuckte. Ich hätte ihn so gerne in den Mund genommen. Einfach zum Festhalten.
Aber ich traute mich nicht. Nicht jetzt. Nicht vor ihr.
Vielleicht später. Wenn es wieder nur Annette und mich gab. Und Pandi.
Schwester Laura kam nach ein paar Minuten wieder ins Zimmer. Diesmal hatte sie ein Tablett in den Händen. Ich sah, wie sie es vorsichtig auf einen kleinen Tisch an der Wand stellte. Darauf stand eine weiße Tasse, und daneben lag irgendwas, aber es war alles mit einem Deckel oder so abgedeckt. Ich konnte nicht sehen, was es war. Nur die Tasse – und die dampfte ein bisschen.
„Wenn Sie noch etwas brauchen, geben Sie einfach Bescheid“, sagte Schwester Laura freundlich.
Annette schaute kurz zu ihr.
„Könnte ich bitte eine frische Windel für ihn bekommen?“
Ich hielt die Luft kurz an. Nicht, weil sie etwas Falsches gesagt hatte. Sondern weil ich das Wort noch immer nicht mochte. Auch wenn ich wusste, dass ich sie brauche. Auch wenn ich wusste, dass es normal ist – für mich.
Aber Schwester Laura reagierte ganz ruhig. Sie lächelte, fast so, als hätte Annette gefragt, ob sie ein Glas Wasser haben dürfte.
„Hier unten im Wickeltisch sind Windeln in verschiedenen Größen“, sagte sie freundlich und zeigte auf einen weißen Schrank mit Klapptür an der Wand – so einen, wie ich ihn mal in einem Badezimmer gesehen hatte, wo man Babys drauflegt. „Bedienen Sie sich einfach. Und wenn mal etwas fehlt, sagen Sie einfach Bescheid.“
„Danke“, sagte Annette.
Schwester Laura nickte nochmal in unsere Richtung, dann ging sie leise hinaus. Die Tür schloss sich sanft hinter ihr.
Ich hob vorsichtig den Kopf von Annettes Bauch, schaute sie an. Sie sah mich direkt an und lächelte – irgendwie ein besondere Lächeln, das irgendwie nur mir gehörte.
„Wollen wir die Windel schnell frisch machen?“ fragte sie sanft.
Ich nickte.
Dann schaute ich kurz zu dem Wickelschrank an der Wand – und bevor ich drüber nachdenken konnte, rutschte es mir heraus:
„…aber bitte nicht auf dem Baby-Wickeltisch!“
Annette lachte leise, ganz liebevoll.
„Nein, mein Schatz“, sagte sie. „Das machen wir natürlich auf dem Bett. Da passt du ja gar nicht mehr drauf, mein Großer.“
Ich musste auch ein kleines bisschen grinsen. Sie sagte das so, dass ich mich nicht schämte – sondern fast ein bisschen stolz war. Dass ich eben kein Baby war. Sondern einfach ich. Und dass sie das genau verstand.
Sie half mir, mich vorsichtig hinzulegen, holte eine frische Windel aus dem Schrank und deckte mich langsam auf. Ich hielt Pandi fest an mich gedrückt und sah zur Decke.
Es fühlte sich immer noch komisch an. Aber es war okay.
Weil Annette da war.
Und bei ihr fühlte sich fast alles ein bisschen besser an. Selbst das hier.
Die frische Windel fühlte sich gut an. Warm. Sauber. Und irgendwie… sicher. Ich fühlte mich gleich viel wohler, auch wenn ich es immer noch nicht mochte, dass ich überhaupt eine brauchte. Aber bei Annette war es okay.
„Willst du im Bett bleiben, während ich schnell etwas esse?“ fragte sie leise.
„Oder möchtest du mit an den Tisch?“
Ich zögerte keine Sekunde.
„Mit an den Tisch. Zu dir“, sagte ich.
Annette nickte, ihr Blick wurde ganz weich.
„Hintragen? Oder wollen wir versuchen, dass du hinläufst?“
Ich überlegte. Ich war gern auf ihrem Arm. Da war es immer warm, weich und alles fühlte sich leichter an. Aber irgendwie… wollte ich jetzt selbst.
Selber laufen. Wie ein großer Junge.
„Selber laufen?“ fragte ich leise, ich war mir selbst nicht sicher.
Annette nickte sofort.
„Na dann komm“, sagte sie und kniete sich vor mich. „Aber zuerst ziehen wir dir noch Schuhe an, damit du nicht ausrutschst.“
Sie nahm zwei weiche Schuhe, die man einfach reinschlüpfen konnte. Keine Schnürsenkel, kein Klett – einfach rein mit den Füßen. Ich ließ sie machen. Erst den einen, dann den anderen. Ihre Hände waren warm und vorsichtig.
Dann hob sie mich vorsichtig vom Bett. Als meine Füße den Boden berührten, fühlte sich alles irgendwie wackelig an. Meine Beine zitterten ein bisschen. Nicht vor Angst – eher wie Pudding.
Aber Annette hielt meine Hand ganz fest. Nicht zu fest. Genau richtig.
Ich machte den ersten Schritt. Dann noch einen. Es fühlte sich komisch an. Und anstrengend. Viel anstrengender, als ich gedacht hatte. Jeder Schritt war ein bisschen wie durch weichen Sand laufen.
Aber ich schaffte es.
Und ich war richtig froh, als ich endlich auf dem Stuhl saß.
Jetzt roch ich es auch.
Den Kaffee. Den Duft von frischem Brötchen. Es war irgendwie gemütlich.
Annette hob den Deckel vom Tablett. Darunter lagen zwei Brötchen, eine Scheibe Wurst, ein paar kleine Plastikpackungen mit Bildern drauf – eine mit Erdbeeren, eine mit Pflaumen. Und winzig kleine Butterstücke. So klein, dass sie aussahen wie Spielzeug. Wie für Puppen.
Ich musste fast grinsen.
„Es riecht lecker“, sagte ich. Und dann:
„Darf ich… darf ich auch ein Brötchen essen?“
Annette sah mich überrascht an, fast ein bisschen traurig – aber sie lächelte trotzdem.
„Oh, Florian… das geht leider noch nicht. Du darfst heute nur ganz leichte Sachen essen.“
Ich sah sie an.
„Aber… du hast Hunger, während ich dir hier was voresse. Ich lass das Tablett stehen, bis dein Mittagessen kommt, okay?“
Sie deckte das Tablett wieder vorsichtig zu.
Ich schaute zum Tisch.
„Aber ein Brötchen ist doch gar nicht schwer“, sagte ich. Es war doch ganz leicht.
Annette lächelte wieder.
„Das stimmt, mein Schatz. Es ist nicht schwer zum Tragen“, erklärte sie. „Aber wenn die Ärzte sagen, du sollst nur etwas Leichtes essen, dann meinen sie damit, dass dein Bauch das gut verdauen kann. Also dass es für deinen Körper nicht zu anstrengend ist.“
Ich dachte kurz nach.
Dass der Bauch nicht so viel arbeiten muss, dachte ich. Vielleicht war das wie bei einer Pause, wenn man nicht gleich rennen soll, sondern erstmal langsam macht.
„Also nur Essen, das für den Bauch wie Urlaub ist?“ fragte ich.
Annette lachte leise.
„Ja, genau. Urlaub für den Bauch.“
Ich schaute nochmal zum Tablett – aber dann war es nicht mehr so schlimm. Wenn mein Bauch Urlaub hatte, dann durfte er das. Und ich auch.
Als ich mit Annette vom Tisch aufstand, hielt sie meine Hand fest. Ganz warm. Ganz sicher. Meine Beine zitterten immer noch ein bisschen, aber nicht mehr so doll wie vorhin. Wir gingen langsam zurück zum Bett.
Ich war fast schon da, da blieb ich stehen. Mein Blick wanderte zum Fenster.
„Da ist ein Baum“, murmelte ich.
Annette folgte meinem Blick.
„Willst du schauen gehen?“ fragte sie leise.
Ich nickte. Sie hob mich hoch, ohne zu zögern, ganz vorsichtig. Ich lehnte mich an sie und schaute hinaus.
„Ein Vogel!“ flüsterte ich. „Der sitzt da im Baum!“
Er war klein, aber flink. Mit einem runden Bauch und einer hellen Brust. Sein Kopf war dunkel, fast wie eine Mütze. Ich konnte sehen, wie er an der Rinde pickte.
„Das ist ein Kleiber“, sagte Annette ruhig. „Der bleibt auch im Winter hier. Die fliegen nicht weg.“
Ich sah sie an.
„Wieso nicht? Ist ihm nicht kalt?“
Sie lächelte.
„Er kommt gut zurecht. Und weiß genau, wo er was zu essen findet.“
Ich schaute wieder zum Vogel.
Er hüpfte jetzt kopfüber den Baum hinunter.
„Der kann rückwärts laufen!“, staunte ich.
Annette lachte leise.
„Ja, das können Kleiber wirklich. Fast als würden sie die Welt ein bisschen anders herum sehen.“
Ich war ganz still. Und dann hörte ich es – ein leises Martinshorn in der Ferne. Es wurde lauter. Dann fuhr ein Krankenwagen am Fenster vorbei. Das blaue Licht blitzte schnell auf dem Dach.
„Ein Krankenwagen“, sagte ich ehrfürchtig.
„Mhm“, machte Annette.
Ich sah zu ihr.
„Bin ich auch mit so einem hergekommen?“
Sie nickte.
„Ja, mein Schatz. Mit Blaulicht und Martinshorn. Damit die Leute wussten, dass es ganz schnell gehen muss.“
Ich staunte.
„Wirklich mit Blaulicht?“
„Ja“, sagte sie. „Ganz schnell, damit dir geholfen werden kann. Und es hat geklappt.“
Ich sagte nichts mehr. Ich schaute dem Blaulicht nach, bis es nicht mehr zu sehen war. Dann legte ich meinen Kopf wieder gegen Annettes Schulter.
„Komm, wir gehen zurück ins Bett“, flüsterte sie.
Sie trug mich ganz ruhig zurück, setzte mich vorsichtig auf die Matratze und deckte mir liebevoll die Füße zu. Ich spürte ihre Hände. Wie sie wusste, was ich brauchte, noch bevor ich es selbst wusste.
Dann griff sie nach einer Tasche. Ich beobachtete, wie sie kurz darin wühlte, dann holte sie etwas hervor. Zwei kleine Autos. Eins gelb, das andere weiß-blau.
„Schau mal“, sagte sie mit einem leisen Lächeln. „Die hat Markus noch mit eingepackt. Die gehören Sebastian. Die mochte er früher ganz besonders.“
Ich sah auf die Autos. Sie sahen nicht neu aus. Am gelben Jeep fehlte ein bisschen Farbe am Dach, und das Polizeiauto hatte einen kleinen Kratzer an der Seite. Aber sie waren trotzdem… toll. Nicht perfekt. Aber echt. Und irgendwie stark.
Ich nahm sie vorsichtig in die Hände.
„Darf ich…?“ fragte ich leise.
Annette nickte.
„Natürlich. Sie gehören jetzt dir – wenn du möchtest.“
Ich musste lächeln. Die Autos sahen toll aus. Ich ließ die Autos über die Decke rollen. Der Jeep rumpelte ein bisschen, als würde er wirklich über Hügel fahren. Das Polizeiauto fuhr geradeaus, ganz schnell. Ich ließ sie ein bisschen umeinanderkreisen, dann nebeneinander stehen. Wie Freunde.
Ich mochte sie. Auch wenn sie, schon ein bisschen beschädigt waren. Vielleicht… gerade deshalb. Weil sie etwas waren, das jemand anders mal gern hatte. Und jetzt gehörten sie zu mir.
Aber dann spürte ich, wie meine Augen langsam schwer wurden. Alles fühlte sich auf einmal weich an. Die Decke. Die Autos. Ich selbst.
Ich sah zu Annette.
„Darf ich mich ein bisschen ausruhen?“ flüsterte ich.
Sie strich mir liebevoll über die Stirn.
„Natürlich, mein Schatz.“
Dann griff sie noch einmal in die Tasche – und holte meinen Nuckel hervor. Als ich ihn sah, wurde mein Herz ganz ruhig. Ich sagte nichts, sondern nahm ihn entgegen, steckte ihn in den Mund und kuschelte mich tief in die Decke.
Pandi lag an meiner Seite.
Der Jeep stand neben dem Polizeiauto, ganz still.
Meine Finger hielten noch den Jeep ganz locker fest.
Und als der Nuckel sich warm und vertraut in meinem Mund anfühlte, war plötzlich alles gut.
Und ich schlief ein. Einfach so.
Annette:
Nachdem mein kleiner Schatz eingeschlafen war, blieb ich noch eine Weile ganz still sitzen. Ich betrachtete sein Gesicht – entspannt, friedlich, mit seinem Nuckel im Mund und Pandi fest im Arm. Er sah so klein aus, so verletzlich. Und gleichzeitig so stark.
Ich streichelte ihm noch einmal sacht über die Stirn, dann stand ich leise auf, nahm das Telefon zur Hand und ging ein paar Schritte zur Seite, damit ich ihn nicht weckte. Ich wählte Markus’ Nummer. Es dauerte nur einen Moment, dann hörte ich seine Stimme.
„Hallo, mein Schatz. Wie geht es Florian?“
Ich sah zu Florian und lächelte.
„Es geht ihm gut. Wir sind jetzt auf der Kinderstation. Die ganzen Sensoren und Geräte ist er endlich los. Jetzt schläft er.“
Ich hörte, wie Markus leise durchatmete, fast so, als hätte er die Luft bis eben angehalten.
„Dann kommen wir euch nachher besuchen.“
Ich zögerte einen Moment.
„Ich glaube, das könnte ihm zu viel werden“, sagte ich vorsichtig. „Er hat ein paar Schritte gemacht – nur vom Bett bis zum Tisch und zurück– und war danach so erschöpft, dass er kurz drauf wieder eingeschlafen ist. Ich bin mir sicher, er würde sich freuen, euch zu sehen… aber vielleicht ist es besser, wenn wir das auf morgen oder übermorgen verschieben. Er braucht jetzt erst mal Zeit.“
Markus schwieg kurz, dann sagte er ruhig:
„Okay, das verstehe ich. Vielleicht können wir ja nachher mal telefonieren, wenn er wach ist?“
„Ja, ich denke, das wäre ein guter Kompromiss.“
Ich lehnte mich an die Wand, warf einen kurzen Blick zu Florian. Er regte sich nicht. Nur sein Atem hob und senkte ganz gleichmäßig die Decke.
„Wie geht es Sebastian? Und wie kommt er jetzt nach München?“ fragte ich leise.
Markus’ Stimme wurde weicher.
„Er schläft gerade. Er war gestern Abend nochmal bei einer Freundin in Hof. Aber er hat gesagt, er will die Woche über hierbleiben. Wenn wir nachher telefonieren, kannst du am besten selbst mit ihm sprechen.“
Ich lächelte.
„Ja. Gib ihm bitte einen Kuss von mir. Und… wir telefonieren nachher nochmal, ja?“
„Okay“, sagte Markus. „Bis später. Ich liebe dich. Und sag Florian, dass wir uns riesig freuen, dass es ihm besser geht.“
„Ich liebe dich auch“, flüsterte ich. „Und das sage ich ihm. Ganz bestimmt.“
Ich legte auf – und blieb noch einen Moment einfach so stehen.
Dann kehrte ich leise zurück ans Bett und setzte mich wieder zu meinem kleinen Sohn. Ich nahm seine kleine Hand in meine.
Und wartete mit ihm auf den nächsten Augenblick.
Ich saß immer noch an Florians Bett. Ganz nah. Meine Hand ruhte auf seiner Decke, und manchmal fuhr ich ganz sacht mit den Fingern über den Stoff, als müsste ich mich vergewissern, dass er wirklich da war. Dass er atmete. Dass er schlief.
Ich war müde. Aber nicht unruhig. Einfach nur… froh, hier zu sein. Bei ihm.
Da öffnete sich leise die Tür. Schwester Laura trat ein. Ich sah sofort, wie ihr Blick zuerst zu Florian wanderte – und wie sie, kaum dass sie ihn schlafen sah, automatisch langsamer wurde. Ihre Schultern entspannten sich, ihr Lächeln wurde weich.
„Ich wollte eigentlich nochmal kurz nach ihm sehen“, sagte sie leise, fast flüsternd. „Aber es ist gut, dass er schläft.“
Ich nickte und sah kurz zu Florian hinüber.
„Er ist vom Tisch bis zurück zum Bett gelaufen“, sagte ich leise. „Ganz langsam, mit meiner Hilfe. Danach hat er ein paar Minuten mit zwei Autos gespielt… und dann ist er einfach eingeschlafen.“
Schwester Laura lächelte, trat einen Schritt näher ans Bett und sah Florian liebevoll an.
„Das überrascht mich nicht“, meinte sie sanft. „Er hat ja auch keine Reserven.“
Ich nickte wieder.
„Er ist erst seit kurzem bei uns… Florian ist unser Pflegesohn.“
Sie hob leicht die Brauen, nickte dann verstehend.
„Das erklärt die unterschiedlichen Nachnamen in der Akte“, sagte sie ruhig.
Ich zögerte kurz, dann sprach ich weiter.
„Er hat schon einiges hinter sich“, murmelte ich. „Wie man sehen kann – starkes Untergewicht. Und trotzdem… trotzdem hat er vorhin gefragt, ob er ein Brötchen haben darf. Ich konnte es nicht. Ich hab mein Frühstück aufgeschoben. Ich hab’s nicht übers Herz gebracht, vor seinen Augen zu essen, während er Hunger hat.“
Schwester Laura sah mich aufmerksam an. Ihr Blick war ruhig, warm, verständnisvoll.
„Ach, da hätten Sie ruhig was sagen dürfen“, meinte sie sanft. „Wir sehen das hier nicht so streng mit den Essenszeiten. Wenn ein Kind Hunger hat – oder ein Erwachsener –, dann kümmern wir uns darum.“
Dann schaute sie wieder auf Florian.
„Und in seinem Fall sowieso. Er braucht ja erstmal wieder Energie, um zu Kräften zu kommen.“
Sie machte eine kurze Pause, dann lächelte sie mich noch einmal an.
„Ich spreche gleich mit der Küche. Wir lassen ihm etwas bringen – leicht verdaulich, aber sättigend. Dann muss er nicht mehr lange warten.“
Ich schluckte kurz – aus Rührung.
„Danke“, flüsterte ich.
Schwester Laura nickte nur, ganz ruhig. Dann verließ sie das Zimmer leise.
Florian:
„Florian… mein Schatz… wach langsam auf.“
Ich blinzelte. Erst ganz vorsichtig. Dann etwas mehr. Die Decke war noch über mir, Pandi lag in meinem Arm, und Annette saß neben meinem Bett, ganz nah. Sie lächelte mich an – so, wie nur sie es konnte.
Ich war noch müde, aber ihr Lächeln machte es leichter, wach zu werden.
Sie streckte ihre Hand aus und nahm mir vorsichtig den Nuckel aus dem Mund. Ich ließ es zu, ohne was zu sagen. Aber kaum war er weg, fühlte es sich leer an. So, als hätte jemand das Fenster ein Stück geöffnet und die Wärme wäre rausgeflogen. Der Nuckel hatte alles ruhig gemacht. In meinem Kopf. In meinem Bauch. Jetzt war es wieder ein bisschen durcheinander.
Aber ich sagte nichts. Ich wollte nicht klein wirken. Ich war ja schon groß.
„Es gibt jetzt etwas zu essen“, sagte Annette sanft.
Mein Bauch meldete sich sofort. Nicht laut. Aber spürbar. Und plötzlich wusste ich ganz genau, was ich fühlte.
„Ich hab Hunger“, sagte ich leise.
Annette lächelte noch mehr.
„Das ist schön. Das Essen steht schon auf dem Tisch. Möchtest du selbst laufen oder soll ich dich hintragen?“
Ich sah sie an. Ich wollte zu ihr auf den Arm. Wirklich. Da war es so warm, so leicht, so sicher. Aber… ich wollte es noch mal alleine versuchen.
„Ich… ich will selber laufen“, murmelte ich.
Annette nickte liebevoll, legte ihre Hand an meinen Rücken, als ich mich vorsichtig aufrichtete. Meine Beine fühlten sich noch weich an, fast wie aus Gummi. Aber ich schob sie langsam über die Bettkante, bis meine Füße den Boden berührten.
Annette stützte mich, hob mich ein kleines Stück an und stellte mich vorsichtig auf die Beine. Ich hielt mich erst kurz an ihrem Arm fest.
Alles wackelte ein bisschen. Nicht so, wie wenn die Erde bebt – aber so, wie wenn man sich vorher ganz schnell im Kreis gedreht hat und dann versucht, geradeaus zu laufen. Ich ging langsam, Schritt für Schritt, und Annette ließ meine Hand dabei nicht los. Ihre Nähe war wie ein Seil, das mich hielt, wenn ich kippen würde.
Endlich war ich am Tisch. Der Stuhl war weich, die Lehne hoch, und als ich mich setzte, fiel fast alles von mir ab. Meine Beine hörten auf zu zittern. Mein Kopf war noch ein bisschen schwer. Aber mein Bauch wusste genau, was er wollte: Essen.
Und ich war froh, dass ich es bis hierher geschafft hatte. Ganz allein.
Naja – fast.
Annette nahm gerade den Deckel von meiner Schale. Da kam so ein leichter Dampf hoch – ein bisschen wie bei Suppe, aber nicht stark. Es roch… irgendwie warm, aber nicht nach viel. Nicht so, dass mir sofort das Wasser im Mund zusammenlief.
Ich hatte Hunger, wirklich. Mein Bauch hat schon vorher leise geknurrt. Aber das da war nicht ganz das, was ich mir vorgestellt hatte. Keine richtige Suppe mit Gemüse oder so. Nur klare Brühe mit ein paar kleinen Nudeln drin. Die schwammen darin wie vergessene Würmchen.
Ich nahm den Löffel und probierte vorsichtig. Es war nicht heiß, nur noch ein bisschen warm. Und schmecken tat es… na ja. Nicht schlimm, aber auch nicht richtig gut. Eher wie Wasser mit einem Hauch irgendwas. Ich konnte nicht sagen, dass ich es mochte. Aber ich aß trotzdem weiter, Löffel für Löffel. Weil ich wusste, dass es besser war als gar nichts.
Ich dachte daran, wie es früher war. Zu Hause. Da war ich manchmal froh, wenn überhaupt was auf dem Teller lag. Manchmal war’s nur trockenes Brot, und selbst das hab ich mir dann eingeteilt, als wär’s was Besonderes. Da beschwert man sich nicht.
Annette saß mir gegenüber und biss gerade in ihr Brötchen. Es roch nach Salami, glaube ich. Mein Magen machte nochmal so ein Geräusch. So ein Brötchen hätte ich jetzt lieber gehabt. Aber ich wusste ja, dass ich das nicht durfte.
Also aß ich weiter. Auch wenn’s eigentlich nicht schmeckte.
Nach der halben Schale war mein Bauch plötzlich irgendwie voll. Nicht, weil es nicht schmeckte – daran hatte ich mich fast schon gewöhnt – sondern einfach, weil ich nicht mehr konnte. Es fühlte sich an, als wäre da kein Platz mehr. Nicht schmerzhaft, aber so… voll eben. Als hätte mein Magen beschlossen: „Reicht.“
Ich legte den Löffel zur Seite. Ganz leise, damit er nicht klappert. Dann lehnte ich mich zurück in den Stuhl. Die Lehne war hart, aber es war trotzdem gut, ein bisschen zu verschnaufen. Ich atmete durch und schaute zu Annette rüber.
Sie biss gerade in ihr zweites Brötchen. Der Duft davon lag noch immer in der Luft. Mein Magen machte keinen Mucks mehr. Der war ja jetzt satt. Oder einfach müde.
„Magst du nicht mehr, mein Schatz?“ fragte Annette mit diesem weichen Ton, den sie immer hatte, wenn sie mich meinte. Sie legte ihr Brötchen kurz ab und schaute mich an. Nicht streng, nur ein bisschen besorgt.
Ich schüttelte den Kopf.
„Mein Bauch ist voll“, murmelte ich leise.
Sie nickte nur, ganz langsam, und sagte nichts weiter. Und das war gut. Manchmal war es schön, wenn einfach niemand etwas sagt. Wenn alles so bleiben darf, wie es gerade ist.
Es war still im Zimmer, nur draußen im Flur hörte man ab und zu Schritte oder das Quietschen von Rädern. Ich saß noch immer am Tisch, die halbe Schale Brühe vor mir, als plötzlich ein Geräusch durch den Raum schnitt.
Ein Klingelton. Nicht laut, aber so, dass man gleich wusste: das ist wichtig.
Annette sah auf. Ihr Gesicht veränderte sich ein kleines bisschen – so, als wäre sie gerade aus einem Traum aufgewacht. Sie stand auf und ging zu dem kleinen Tisch neben dem Bett, wo ihr Handy lag. Sie nahm es in die Hand, schaute kurz aufs Display und dann zu mir.
„Hallo Elke…“, sagte sie, und hielt sich das Handy ans Ohr.
Ich beobachtete sie. Sie stand ganz gerade da, fast so, als müsste sie sich anspannen, damit sie nicht umfällt. Ihre Schultern waren hochgezogen, ihr Rücken ganz steif. Sie sagte nichts, hörte nur zu. Ich wusste nicht, was Elke vom Jugendamt wollte, aber irgendwas an dem Gespräch machte sie nervös.
Dann sagte sie plötzlich mit einem Ton, der anders klang – ein bisschen wie ein Aufatmen:
„Danke… du glaubst gar nicht, wie groß der Stein ist, der mir gerade vom Herzen gefallen ist.“
Ich konnte sehen, wie sich etwas in ihr löste. Ihre Schultern sanken ein Stück, sie atmete tiefer, und als sie wieder zu mir schaute, war da ein kleines Lächeln. Nicht so ein breites, sondern eher so eins, das sich leise anschleicht.
„Ja, ihm geht’s schon besser“, sagte sie ins Telefon. „Wir sind seit heute Morgen auf der Kinderstation. Er hat gerade etwas gegessen, ist aber noch schnell erschöpft.“
Ich tat so, als würde ich gerade nichts hören, aber ich hörte jedes Wort. Und irgendwie war es schön, dass sie „ihm“ sagte – und damit mich meinte. Es fühlte sich an, als wäre ich wichtig.
Annette sprach weiter am Telefon, während ich still am Tisch saß und die Suppenschale anstarrte. Ich hörte ihre Stimme, aber ich verstand nicht alles. Manches klang wie aus der Ferne, obwohl sie ganz nah war.
„Ja, er soll jetzt noch weiter beobachtet werden…“, sagte sie ruhig. „Sobald sich etwas ergibt, melde ich mich. Nein, von da haben wir noch nichts gehört…“
Ich schaute zu ihr hoch. Ihre Stirn war leicht gerunzelt, aber sie redete nicht mehr so angespannt wie vorher.
„Okay… dann sprechen wir später. Und danke für deinen Anruf“, sagte sie noch, bevor sie auflegte.
Sie legte das Handy zurück auf den kleinen Tisch, drehte sich zu mir um und kam langsam zurück. Dann beugte sie sich ein bisschen zu mir herunter und strich mir sanft über den Kopf. Ihre Hand war warm und weich, und ich mochte es, wie vorsichtig sie dabei war – so, als könnte ich zerbrechen, wenn sie zu fest drückt.
„Elke vom Jugendamt hat gesagt, dass du weiter bei uns bleiben kannst“, sagte sie mit einem kleinen Lächeln.
Ich nickte langsam. Einfach so. Ohne nachzudenken.
Aber in meinem Kopf war plötzlich ein ganz anderer Gedanke:
Ich wusste gar nicht, dass ich vielleicht nicht dort bleiben darf…
Mein Magen zog sich ein bisschen zusammen, es tat ein bisschen weh. Ich hatte geglaubt, das mit Annette und Markus war jetzt einfach so. Wie ein neues Zuhause. Ein echtes. Aber jetzt wusste ich, dass jemand anderes das entscheidet. Jemand, der nicht bei uns am Tisch sitzt.
Ich sagte erst nichts. Aber in meinem Bauch war so ein komisches Gefühl, wie wenn man etwas nicht versteht und gleichzeitig wütend und traurig ist. Ich sah zu Annette hoch, sie wollte gerade wieder auf ihren Platz zurückgehen.
„Warum…“, murmelte ich, erst ganz leise, dann ein bisschen lauter. „Warum dürfen immer andere sagen, wo ich wohnen soll? Warum darfst du das nicht entscheiden? Oder… warum fragt mich keiner?“
Annette blieb stehen. Ihre Hand war noch halb in der Bewegung, sie sah mich an. Nicht erschrocken, nicht böse – nur ruhig. Ich wusste, dass sie mir zuhört. Das war wichtig.
„Ich will gar nicht woanders hin“, sagte ich. „Ich weiß, dass ich manchmal nicht weiß, was richtig ist… wenn man mich fragt, ob ich A oder B will oder was ich anziehen soll oder so… Aber wenn mich jemand fragt, wo ich leben will, dann weiß ich das sofort.“
Meine Stimme zitterte ein bisschen. Nicht, weil ich gleich weinen musste. Es war nur… viel. Zu viel im Kopf auf einmal.
Annette ging in die Hocke, damit sie mit dem Gesicht auf meiner Höhe war. Sie legte ihre Hand ganz leicht auf meine.
„Florian“, sagte sie sanft, „ich versteh dich gut. Ganz ehrlich. Ich finde auch, dass du schon ganz genau weißt, wo du hingehörst. Und ich wünsche mir auch, dass du bei uns bleibst. Aber das Jugendamt ist im Moment sozusagen dein Vormund. Das heißt, die Menschen dort passen auf, dass es dir gut geht – und sie entscheiden viele Sachen, auch wenn ich gerne mehr selbst entscheiden würde. Als Pflegemama darf ich nicht alles allein bestimmen.“
Ich runzelte die Stirn. Das war so ein Erwachsenenwort – Vormund. Ich mochte das nicht. Es klang wie jemand, der über einem steht. Wie ein Chef, den man nicht kennt.
„Aber ich pass doch besser zu euch als zu denen…“, flüsterte ich.
Annette nickte. „Das finde ich auch“, sagte sie leise. „Und weißt du was? Ich sag ihnen das auch. Jedes Mal, wenn sie mich fragen. Und ich verspreche dir: ich bleibe bei dir, so lange ich darf. Und wenn sie mich fragen, ob du bei uns bleiben sollst, dann sag ich ganz klar Ja.“
Ich nickte. Ganz langsam. In meinem Bauch war immer noch dieses Ziehen, aber es war nicht mehr so scharf wie vorher. Es fühlte sich besser an, zu wissen, dass wenigstens sie mich nicht einfach wegschicken würde.
Ich stocherte mit dem Löffel noch einmal in der Brühe herum, obwohl ich längst satt war. Irgendwie wollte ich nicht, dass es einfach vorbei war. Ich wollte, dass jetzt etwas passierte. Irgendwas. Etwas, das nicht Suppe, Bett oder Stille war.
„Was können wir jetzt machen?“ fragte ich und schaute zu Annette rüber.
Sie war gerade dabei, ihr Geschirr auf dem Tablett zusammenzuräumen – die Tasse, den kleinen Teller. Ganz ruhig, wie sie das immer machte. Nichts klapperte, nichts ging schnell. Alles ordentlich und still. Dann hob sie den Blick und lächelte leicht.
„Jetzt ruhen wir uns noch ein bisschen aus, ja?“ sagte sie sanft.
Ich verzog das Gesicht. „Aber ich bin nicht müde! Ich will nicht schlafen!“
Meine Stimme war ein bisschen zu laut, ich merkte es selbst. Es war nicht so gemeint, aber ich hasste das Gefühl, wieder einfach nur ins Bett gesteckt zu werden. Ich hatte den ganzen Vormittag geschlafen. Oder zumindest gelegen.
Annette beugte sich leicht zu mir rüber, ihre Stimme blieb ruhig.
„Ich weiß, mein Schatz. Aber du bist noch nicht ganz fit. Dein Körper braucht Pausen, auch wenn du dich gerade wach fühlst.“
Ich schaute weg. Ich wollte nicht Pause. Ich wollte nicht ans Bett gefesselt sein wie auf der anderen Station. Ich war hier doch auf der Kinderstation. Da sollte man doch auch was machen dürfen.
„Können wir nicht in das Spielzimmer?“ fragte ich leise, fast ein bisschen hoffnungsvoll.
Annette zögerte, nur ganz kurz. Dann schüttelte sie sanft den Kopf. „Ich glaube nicht, dass das jetzt schon eine so gute Idee ist“, sagte sie vorsichtig. „Du bist doch noch schnell erschöpft, und wenn du da bist, willst du bestimmt alles ausprobieren – und dann ist es vielleicht zu viel auf einmal.“
Ich presste die Lippen zusammen. Ich verstand es. Ich verstand es wirklich. Aber ich wollte es nicht hören. Nicht wahrhaben. Ich wollte spielen. Nicht rumsitzen. Nicht „ausruhen“. Nicht „später“. Ich wollte jetzt.
Aber ich sagte nichts mehr. Ich drehte nur den Löffel in der Brühe, ganz langsam. Es war kein richtiger Trotz. Es war eher… Enttäuschung. So ein Gefühl, das in den Bauch rutscht und sich dort breitmacht wie ein Stein.
Annette schob den Stuhl ein Stück näher an mich her.
„Vielleicht nachher. Wenn der Arzt sagt, dass es in Ordnung ist. Versprochen.“
Ich nickte nur, ohne sie anzusehen. Ich wollte nicht trotzig sein. Ich wollte einfach nur nicht mehr im Krankenhaus sein.
„Weißt du was?“ sagte Annette und stellte die Tabletts vorsichtig aufeinander. „Du kannst doch ein bisschen mit den Autos am Tisch spielen. Was hältst du davon?“
Ich sah kurz zu ihr rüber und nickte. Nicht unbedingt fröhlich, aber schon einverstanden. Es war auf jeden Fall besser, als wieder ins Bett zu müssen und an die Decke zu starren. Ich war wach, nicht richtig fit, aber wach genug zum Spielen.
Annette ging zum kleinen Tisch neben dem Bett, wo sie heute Morgen die beiden Autos hingelegt hatte. Die, die sie mir von Sebastian mitgebracht hatte. Sie nahm sie in die Hand und kam zu mir zurück an den Esstisch, an dem ich gerade saß. Dann stellte sie die beiden Wagen nebeneinander vor mich hin. Einfach so. Ohne viele Worte.
Ich griff sofort nach dem gelben Jeep und schob ihn langsam über die Tischplatte. Die war hell und glatt, perfekt für kleine Autos. Er machte ein leises surr, wenn ich ihn schob, auch wenn es nur in meinem Kopf so klang. Ich ließ ihn enge Kurven fahren, dann einmal quer über den Tisch – direkt auf Annette zu.
Sie saß mir gegenüber, fing das Auto mit einer Hand auf und grinste ein bisschen.
„Kollision verhindert“, sagte sie leise, und schob ihn mir wieder zurück.
Ich lachte kurz. Nur ganz leise. Dann nahm ich das Polizeiauto und stellte es so hin, dass es den Jeep beobachten konnte. Oder begleiten. Oder verfolgen. Ich wusste noch nicht genau, wie ich heute spielen wollte. Es war irgendwie beides.
Ich ließ den Jeep wieder los. Er rollte auf Annette zu, langsam und gerade. Sie fing ihn wieder auf, wie vorhin. Ganz ruhig. Dann schickte sie ihn zurück zu mir, genau in meine Hände.
Und plötzlich war ich nicht mehr in diesem Krankenhauszimmer.
Ich war im Wohnzimmer bei Diana. Ich saß auf dem Teppich, ganz still, und spielte auch da mit Autos. Und dann war sie gekommen – Annette. Zum ersten Mal. Sie hatte sich nicht gleich neben mich gesetzt, sondern nur zugesehen. Dann hatte sie sich irgendwann ein Auto genommen, es mir zurückgerollt. Ohne zu reden, ohne zu fragen. Einfach so. Genauso wie jetzt.
Damals hatte ich sie nicht gekannt. Aber irgendwas in mir hatte gespürt: Die meint es gut.
Und jetzt war sie wieder hier. Und machte genau das – ohne viel zu sagen, einfach nur da sein. Mit mir spielen. Das Auto zurückrollen. Und plötzlich war das Krankenhaus gar nicht mehr so kalt und fremd.
Ich ließ beide Autos gleichzeitig auf sie zurollen. Sie fing sie beide auf, lachte leise und schickte sie nacheinander zurück.
Und in diesem Moment war alles gut. Nicht perfekt, aber gut genug, um sich sicher zu fühlen.
Es klopfte kurz an der Tür, und dann kam die Schwester von heute früh wieder herein. Ich erkannte sie sofort. Sie hatte diese ruhige Art, bei der man nicht gleich Angst bekam. Ich glaubte, sie hieß Laura.
„Na, kleiner Mann, wie geht es dir?“ fragte sie freundlich.
Ich sah kurz zu ihr, dann sofort wieder zu Annette. Meine Finger hielten das Polizeiauto fest, obwohl es gerade gar nicht fuhr. Einfach so, zum Festhalten.
Annette lächelte mich an, ihr Blick war warm, wie eine Decke, die man über die Schultern gelegt bekommt.
„Du kannst der Schwester ruhig antworten“, sagte sie sanft.
Ich zögerte, dann sagte ich leise, ohne zu Laura hinzusehen: „Gut.“
„Na, das klingt doch gut“, antwortete sie direkt, aber auch leise. Nicht so, als ob sie mich ausfragen wollte, sondern eher so, als würde sie sich über die Antwort wirklich freuen.
Dann beugte sie sich ein wenig vor, aber nicht zu nah. „Verrätst du mir jetzt deinen Namen?“
Ich sah sie nur ganz kurz an. Ihre Augen waren freundlich. Nicht neugierig. Dann schaute ich wieder zu Annette, als müsste ich bei ihr ablesen, ob es in Ordnung war.
Annette nickte kaum merklich.
„Florian“, sagte ich. Wieder leise.
„Hallo, Florian“, sagte die Schwester. Sie klang dabei, als würde sie sich den Namen wirklich merken wollen. Nicht so, wie manche Erwachsenen, die das sagen und ihn dann gleich wieder vergessen.
Irgendwas an ihrer Stimme war… gut gelaunt. Nicht übertrieben fröhlich, sondern einfach angenehm. Wie jemand, der gern da ist. Und das mochte ich.
Ich drehte das Polizeiauto langsam in der Hand, während sie weiter sprach.
„Darf ich mich ein bisschen zu euch setzen?“ fragte Schwester Laura. Ihre Stimme war freundlich, nicht so laut. Ich nickte ganz leicht, sagte aber nichts.
Sie zog einen kleinen Hocker heran und setzte sich schräg zu mir an den Esstisch. Nicht direkt vor mich – das war gut. Ich mochte das nicht, wenn jemand so nah vor mir saß.
„Ich wollte mal sehen, wie’s dir geht“, sagte sie zu Annette. „wie hat er gegessen und getrunken?“
„Ein paar Löffel Brühe, das ging ganz gut“, antwortete Annette. „Nur ein bisschen Wasser bisher. Auf der Intensivstation hat er heute früh ein paar Schlucke geschafft.“
Laura nickte. „Das ist schon was. Auf dem Flur stehen Wasser und Tee – wenn du magst, kannst du dir später was holen. Er sollte auf jeden Fall noch ein bisschen trinken heute.“
Annette nickte. Ich auch ein bisschen.
Dann schaute Laura wieder zu mir.
„Florian, darf ich dich kurz untersuchen? Es tut nicht weh, versprochen.“
Ich sah zu Annette. Sie nickte mir zu. Also ließ ich das Polizeiauto los und legte meine Hand vorsichtig auf den Tisch.
Laura kramte etwas aus ihrer Tasche und hielt mir ein kleines Gerät hin.
„Das hier ist ein Pulsoxymeter“, erklärte sie ruhig. „Das setze ich dir gleich an den Finger. Es misst, wie viel Sauerstoff in deinem Blut ist. Also sozusagen, wie gut dein Körper atmet. Und es sieht ein bisschen aus wie eine kleine Taschenlampe – es leuchtet gleich rot, aber das tut überhaupt nicht weh.“
Ich streckte ihr meinen Zeigefinger hin. Sie steckte das Gerät darauf. Es klickte leise, und dann fing es an zu leuchten – von innen ganz rot. Ich schaute es mir neugierig an. Es sah wirklich ein bisschen aus wie Technik aus einem Roboterfilm.
Nach ein paar Sekunden nahm Laura das Gerät wieder ab.
„Alles sieht prima aus“, sagte sie freundlich.
„Und jetzt messen wir noch Fieber – das mache ich im Ohr, das geht ganz schnell.“
Ich beugte den Kopf zur Seite, sie schob das kleine Thermometer vorsichtig hinein, es piepste – und schon war sie fertig.
„Du machst das richtig gut“, sagte sie und lächelte mich an.
Ich sah zu Annette. Etwas in mir wollte es ganz genau wissen. Also fragte ich leise:
„Heißt das… ich darf ins Spielzimmer?“
Laura hatte es gehört, obwohl ich sie gar nicht direkt angesprochen hatte. Sie beugte sich ein kleines bisschen vor und sagte leise:
„Wenn du mir versprichst, dass du heute noch genug trinkst und dich wirklich gut fühlst – dann darfst du heute bestimmt für eine halbe Stunde ins Spielzimmer. Nicht zu wild, ja? Und morgen dann bestimmt schon ein bisschen länger.“
Ich nickte sofort. Nicht zu schnell, aber bestimmt. Mein Bauch fühlte sich ganz warm an. Vielleicht, weil ich wusste, dass ich das schaffen konnte. Vielleicht auch, weil ich mich zum ersten Mal seit Tagen auf etwas freute.
Nachdem Schwester Laura das Zimmer verlassen hatte, stand Annette auf und ging zur Tür. „Ich hol uns schnell einen Tee, ja?“ sagte sie.
Ich nickte. Nicht, weil ich Durst hatte – eigentlich gar nicht – sondern weil ich wusste: Wenn ich ins Spielzimmer wollte, musste ich trinken. Das hatte Laura gesagt, und ich wollte das wirklich.
Annette kam mit einem kleinen Becher zurück, aus dem Dampf aufstieg. Sie pustete kurz, bevor sie ihn mir reichte. Ich nahm ihn mit beiden Händen. Der Tee war warm und roch ein bisschen süßlich. Ich trank langsam, in kleinen Schlucken. Jeder Schluck fühlte sich groß an. Mein Bauch sagte: „Reicht“, aber mein Kopf sagte: „Mach weiter.“
Als ich fertig war, stellte ich den Becher ab. Er war leer. Ich war stolz – auch wenn es anstrengend war.
Annette lächelte. „Super. Dann können wir ja jetzt mal schauen, dass wir dir wieder was anderes anziehen.“
Sie half mir vorsichtig vom Stuhl hoch und führte mich zum Bett. Ich ließ mich auf die Bettkante setzen, ihre Hände stützten mich dabei. Dann drehte sie sich zur Tasche und begann, ein paar Sachen herauszuholen.
Sie beugte sich zu mir, öffnete die Druckknöpfe von dem komischen Hemd, das ich noch von der anderen Station anhatte. Ich war froh, dass es endlich wegkam – das kratzte irgendwie und fühlte sich nie richtig an. Als sie es mir auszog und ich nur noch in der Windel auf dem Bett saß, wurde mir plötzlich ein bisschen komisch. Nicht kalt, aber… irgendwie nackt. Ich war froh, dass nur Annette da war. Bei ihr war das okay.
Sie nahm ein T-Shirt und zog es mir vorsichtig über den Kopf. Bei meinem rechten Arm, da wo das komische Ding unter dem Verband steckte, war sie besonders behutsam. Ich mochte das – dass sie immer aufpasste.
Dann griff sie in den kleinen Schrank und holte eine frische Windel heraus. „Leg dich bitte kurz hin, die machen wir auch gleich frisch.“
Ich runzelte die Stirn. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass sie schon wieder voll war. Aber als ich mich hinlegte, fühlte ich es dann doch. Nicht schlimm – nur etwas warm. Ich sagte nichts. Sie wusste es sowieso.
Nachdem Annette mir die frische Windel angezogen hatte, griff sie gleich zu einer dunkelblauen Jogginghose. Sie war weich, ich kannte sie – sie war aus der Tasche, wo meine Sachen drin waren. Sie zog sie mir vorsichtig über die Beine. Danach kamen noch die Strümpfe. Die waren hellgrau mit kleinen Streifen am Bund.
Dann holte sie auch meine Schuhe – die zum Reinschlüpfen. Ich mochte die. Man musste keine Schleifen binden, und sie fühlten sich trotzdem gut an. Annette hielt erst meinen einen Fuß, dann den anderen, und half mir rein. Es ging ganz leicht.
Als ich fertig angezogen war, setzte ich mich wieder auf. Es fühlte sich gut an. Nicht mehr so fremd. Das komische Hemd war weg, das, was immer offen stand und so Krankenhaus-mäßig roch. Jetzt war ich wieder richtig angezogen. So, wie Kinder eben sind. Das war besser. Viel besser.
Annette hob mich vorsichtig vom Bett runter und lächelte, dann nahm sie meine Hand.
„Na, dann gehen wir mal ein bisschen schauen.“
Ich nickte. Mein Herz schlug ein bisschen schneller, aber ich wollte ja ins Spielzimmer.
Wir gingen zur Tür, und Annette öffnete sie. Dann traten wir gemeinsam auf den Flur hinaus. Ich hielt ihre Hand ganz fest.
Es war heller als ich dachte. Und voller.
Ein paar Schwestern liefen umher, die ähnlich aussahen wie Schwester Laura – in diesen blauen oder grünen Sachen, alle mit so Namensschildern. Sie sprachen leise oder schauten auf Zettel, und eine von ihnen lachte, aber nicht laut, sondern nur so ein bisschen, wie Erwachsene eben lachen, wenn sie trotzdem gestresst sind.
Dann sah ich einen Mann. Er war ziemlich groß und hatte Tattoos auf dem Arm, viele schwarze Linien, die sich kringelten und schlangenförmig auf der Haut bewegten. Ich zuckte ein bisschen zusammen. Er sah irgendwie streng aus. Aber er hatte ein kleines Mädchen an der Hand – das war noch kleiner als ich. Und sie sah zu ihm hoch und grinste, als wäre er ihr Lieblingsmensch auf der ganzen Welt. Ich schaute nochmal hin. Vielleicht war er doch nicht gefährlich. Aber zu nah wollte ich ihm trotzdem nicht kommen.
Ein größerer Junge stand an einem Wagen mit Bechern. Er drückte langsam auf einen Knopf, und Wasser lief in einen Plastikbecher. Er wirkte schon fast wie ein Erwachsener, so sicher stand er da.
Ein Stück weiter sah ich eine Frau, die ein Kind auf dem Arm trug. Der Junge war ungefähr so groß wie ich, aber er sah müde aus und hatte einen Verband um den Kopf. Ich fragte mich, was mit ihm passiert war.
Aus manchen Zimmern hörte man Stimmen – manche Kinder lachten, andere weinten. Aus einem Zimmer kam Musik, leise und fröhlich. Alles war durcheinander. Alles war viel.
Plötzlich lief eine Schwester an uns vorbei, ziemlich schnell. Ihr Schritt klang laut auf dem Boden, obwohl sie eigentlich nicht rannte. Ich zuckte zusammen. Es war, als wäre ich in einen Strudel geraten – aus Lichtern, Stimmen, Füßen, Türen, Rädern.
Ich hielt mich fester an Annettes Hand. Mein Bauch fühlte sich plötzlich gar nicht mehr so sicher an. Ich wollte nicht mehr ins Spielzimmer. Ich wollte zurück. Jetzt sofort.
Ich zog an Annettes Hand, ganz fest. Sie blieb stehen und sah mich an. Ihre Augen wurden sofort weich. Sie sagte nichts, aber ich sah, dass sie es verstand. Einfach so. Sie beugte sich runter, nahm mich hoch und drückte mich sanft an sich.
Ich vergrub mein Gesicht an ihrer Schulter. Ihre Arme hielten mich fest. Ich atmete ihren Geruch ein – vertraut, warm, nicht nach Krankenhaus. In diesem Moment war es wieder ein kleines bisschen gut. Nicht ruhig. Nicht leise. Aber sicher. Und das war das Wichtigste.
Auch wenn draußen alles zu laut und zu viel war – bei ihr war es okay.
Mein Kopf lag an ihrer Schulter, ich hörte alles, aber ich sagte nichts. Es war einfach zu viel gewesen da draußen. Die ganzen Stimmen, die schnellen Schritte, die Menschen, die ich nicht kannte.
Sie lief mit mir auf dem Arm ein Stück den Flur entlang, langsamer jetzt. Dann blieb sie bei einer Schwester stehen, die gerade einen Wagen mit Bechern vor sich herschob. Die Schwester sah freundlich aus, sie hatte kurze braune Haare und ein Namensschild mit einem Schmetterling drauf.
„Entschuldigen Sie“, sagte Annette leise, „können Sie mir sagen, wo das Spielzimmer ist? Und ob es da auch so voll ist wie hier draußen? Mein Kleiner hat es nicht so mit Trubel.“
Die Schwester blieb stehen und lächelte. „Klar. Den Gang runter, dann links – es steht auch an der Tür. Aber ja, um die Uhrzeit ist es meistens ziemlich voll.“
Ich spitzte die Ohren. Der Gang runter? Ich wollte gucken – aber auch nicht. Es war so ein Zwischending in meinem Bauch.
„Und wann ist es nicht so voll?“ fragte Annette weiter. „Er kommt gerade von der Intensivstation, er ist noch sehr schnell überfordert.“
Die Schwester nickte verständnisvoll. „So ab siebzehn Uhr wird’s meistens ruhiger. Viele sind dann beim Abendessen oder schlafen schon. Und wenn Sie Glück haben, ist’s sogar ganz leer.“
Annette nickte. „Wird der Raum denn irgendwann abgeschlossen?“
„Nein, nein“, sagte die Schwester. „Wir haben auch Kinder mit anderem Tagesrhythmus – zum Beispiel nach OPs oder mit Schmerzen. Aber ab achtzehn Uhr darf nur noch leise gespielt werden, damit niemand gestört wird.“
Ich drückte mich ein kleines bisschen fester an Annette. Ihre Hand strich mir sanft über den Rücken, ganz ruhig.
„Dann lass uns zurück auf unser Zimmer gehen und da sehen wir weiter“, sagte Annette leise, fast so, als wolle sie nicht stören, obwohl sie ja nur mit mir sprach.
Ich sagte nichts. Ich konnte nichts sagen. Ich blieb einfach so, wie ich war – mit dem Kopf auf ihrer Schulter, die Augen halb geschlossen. Ihre Wärme war da, ihr Herz schlug ruhig, nicht zu schnell, nicht zu langsam. Ich hörte es, ganz nah an meinem Ohr. Bumm… bumm… bumm… Wie ein Lied, das ich kannte.
Ich wollte gerade nichts entscheiden. Wollte nicht überlegen, ob ich stark bin oder schwach, ob ich spielen will oder nicht. Ich wollte einfach nur sein. So, wie ich jetzt war. In ihren Armen. Getragen.
Die Stimmen auf dem Flur wurden leiser, je weiter sie mit mir ging. Ich hörte noch das Quietschen eines Wagens, ein leises Kinderlachen irgendwo hinter einer Tür, dann wieder Schritte. Aber es war alles weiter weg. Als hätte ich einen Schal um den Kopf gewickelt, durch den alles nur noch dumpf klang.
Annette sagte nichts. Und das war gut. Manchmal war nichts sagen das Beste.
Ich spürte, wie sie die Tür öffnete. Es roch wieder nach dem Zimmer – leicht nach Tee und nach der Decke, die ich vorher hatte. Alles war bekannt. Nicht schön vielleicht, aber sicher.
Sie setzte sich mit mir auf die Bettkante und hielt mich weiter. Ich dachte an gar nichts. Ich brauchte keine Gedanken. Ich hatte ja sie.
Nach einer Weile, in der sie mich einfach nur hielt und mir immer wieder langsam über den Rücken strich, fragte sie leise:
„Ist es jetzt besser?“
Ich hob langsam meinen Kopf von ihrer Schulter. Die Welt war immer noch da draußen, aber sie war nicht mehr so laut. Nicht mehr so groß. Ich nickte.
„Danke“, murmelte ich.
Annette lächelte, ihr Blick war warm.
„Aber doch nicht dafür, mein Schatz.“
Doch. Ich meinte es so. Ich war froh, dass sie mich verstanden hatte – ohne dass ich alles sagen musste. Dass sie nicht gefragt oder gedrängt hatte, sondern einfach geblieben war. Dass sie mich beschützt hatte, ohne dass es wie „beschützen“ aussah. Mehr wie… da sein.
Sie strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, dann flüsterte sie:
„Wollen wir uns das Buch, das ich dir vorgelesen habe, nochmal zusammen anschauen? Vielleicht gemeinsam lesen?“
Ich dachte kurz nach. Die Geschichte kannte ich. Sie hatte sie mir vorgelesen, mit dieser ruhigen Stimme, bei der ich irgendwann einfach zugehört und nichts mehr drumherum wahrgenommen hatte. Aber die Bilder kannte ich nicht. Diese jetzt zu sehen – das klang irgendwie gut. Wie ein neues Stück von etwas, das ich schon mochte.
Aber selber lesen? Ich spürte, wie mein Bauch sich ein bisschen zusammenzog. Ich mochte das nicht. Die Buchstaben wollten oft nicht das sagen, was ich dachte. Sie sprangen manchmal, oder sie machten plötzlich keinen Sinn mehr.
„Muss ich lesen?“ fragte ich leise.
Annette sah mir in die Augen. Ganz ruhig. Kein Druck, kein „Du musst“, kein „Jetzt bist du dran“. Nur sie. Und ihr Lächeln.
„Ein bisschen“, sagte sie sanft. „So weit du kommst. Ich helfe dir. Und hier sind wir ganz allein und ungestört. Du wirst sehen – je öfter du liest, umso besser wird es.“
Ich nickte. Ganz leicht. Ich war nicht überzeugt, das stimmte. Aber ich vertraute ihr. Und wenn sie das sagte, dann wollte ich es wenigstens versuchen. Nur ein kleines bisschen.
Annette beugte sich zur Tasche, die sie neben dem Schrank abgestellt hatte, und holte das Buch heraus. Es war etwas dicker und hatte einen festen Einband. Ich erkannte die Farben – braun, grün, weiß – wie Wald im Winter. Ich wusste, es war die Geschichte vom kleinen Dachs. Die, die sie mir vorgelesen hatte.
„So“, sagte sie leise, „dann machen wir’s uns gemütlich. Aber vorher geh ich noch einmal schnell aufs WC, ja? Ich bin gleich wieder da.“
Sie legte das Buch auf die Bettdecke, strich mir über die Schulter und verschwand durch die kleine Tür im Zimmer.
Ich blieb sitzen. Schaute dem Buch nach. Und dann kamen sie, die alten Gedanken. Ganz leise. Nicht schlimm. Aber sie waren da.
Früher war es schwierig. Ich musste immer früh genug auf Toilette gehen – nicht dann, wenn ich merkte, dass ich muss. Dann war’s nämlich oft schon zu spät. Ich musste vorher. Immer vorher. Und besser war’s, wenn ich einfach gar nichts trinke. Oder nur ganz wenig. Dann musste ich auch nicht los. Dann konnte nichts passieren.
Denn wenn doch was passierte… dann war es schlimm. Nicht das Nasse. Sondern das Danach. Die Blicke. Das Meckern. Das wissen, etwas falsch gemacht zu haben, nicht richtig zu sein.
Jetzt war das anders.
Ich spürte, dass meine Windel nicht mehr ganz trocken war. Der Tee von vorhin war wohl schon wieder draußen. Oder zum Teil jedenfalls. Aber es war nicht schlimm. Nicht kalt, nicht nass wie früher in der Hose. Es war einfach nur warm. Und ein bisschen dicker. Weicher vielleicht sogar, aber nicht unangenehm. Es störte nicht.
Und ich musste mich nicht beeilen. Keine Angst haben. Kein komisches Gefühl im Bauch. Ich wusste, dass Annette das merkt, wenn’s nötig ist. Und dass sie mich nicht schimpft. Nie.
Als sie wieder aus der Tür kam und sich neben mich setzte, waren diese Gedanken schon fast wieder weg. Sie lächelte, nahm das Buch vom Bett und klopfte sanft auf ihren Oberschenkel.
„Komm her, mein Schatz.“
Ich kletterte zu ihr auf den Schoß, drehte mich ein wenig seitlich und lehnte mich an sie. Ihr Arm kam wie von selbst um mich, warm und vertraut. Das Buch lag vor uns, sie schlug es auf.
Auf der ersten Doppelseite war ein kleiner Dachs, gezeichnet mit großen, dunklen Knopfaugen. Er stand im Schnee, seine Pfoten hinterließen Spuren. Der ganze Wald war weiß und still.
Ich schaute eine Weile auf das Bild, dann versuchte ich, die Zeile zu lesen.
„U-und… der kl-kleine… D-dachs… ta… ta…“ Ich stockte. Die Buchstaben verschwammen leicht. Manche sahen gleich aus. Ich wollte nicht aufgeben, aber sie machten es mir nicht leicht.
„Tappte“, half Annette leise. „‚Der kleine Dachs tappte mit seinen Pfoten…‘“
„…mit seinen P-po-ten durch… durch den… Schnee“, beendete ich, ein bisschen stolzer als vorher.
„‚Frischen Schnee‘“, flüsterte sie nach. „Ganz toll machst du das.“
Ich atmete durch und versuchte es weiter.
„‚Wo sind… d-denn alle h-hin?‘, f-fra… fragte er… ver… verwun…“
„Verwundert“, sagte Annette sanft. Sie zeigte mit dem Finger mit, ohne zu drängen.
So ging es weiter. Ich kämpfte mich durch die Zeilen, Annette half, wenn ich nicht mehr weiterwusste. Manchmal las sie einfach vor, wenn ich schwieg, aber nie so, dass es sich wie aufgeben anfühlte. Nur wie: Wir machen das zusammen.
Und dann kam die Stelle, die mir besonders gefiel – auch wenn ich sie nicht lesen konnte, ließ ich sie sich entfalten wie einen Film in meinem Kopf:
„Doch dann entdeckte er kleine Spuren, die von seinem Bau wegführten.
Er folgte ihnen neugierig – und plötzlich sah er sie alle: den Hasen, das Reh, den Igel… und sie alle riefen: ‚Überraschung! Wir haben auf dich gewartet!‘“
Ich sah auf das Bild dazu. Lichter in den Bäumen, kleine Tieraugen, die leuchteten. Schnee, der funkelte.
„Der kleine Dachs blieb stehen und blinzelte gegen das Licht. Überall im Wald hingen kleine Lichter – in den Bäumen, zwischen den Ästen, sogar im Schnee.
‚Ist das alles… für mich?‘, fragte er leise.
Der Igel nickte und piekste ihn sanft mit der Nase. ‚Natürlich. Du gehörst doch zu uns.‘“
Ich lehnte mich ein bisschen fester an Annette. Ich sagte nichts, aber ich fühlte es. Genau das.
Ich war nicht allein.
Ich gehörte auch irgendwo hin.
Ich saß ruhig auf Annettes Schoß. Das Buch lag offen vor uns, ihre Hände hielten es an den Seiten fest. Ich sah auf die Bilder, aber sie verschwammen ein bisschen, nicht weil ich müde war, sondern weil in meinem Kopf so viele andere Dinge waren. Ich lehnte mich seitlich an sie, spürte die Wärme durch ihr T-Shirt. Sie war da. Einfach da.
Und ich?
Ich war in Gedanken ganz woanders.
Nicht mehr bei dem kleinen Dachs. Sondern bei mir. Früher. Zuhause. Nicht hier, sondern da, wo ich vorher war. Bei meinen Eltern.
Dort war alles anders gewesen. Ich hatte gelernt, leise zu sein. Ganz leise. Nicht stören. Nicht auffallen. Nicht im Weg stehen. Wenn sie schon schlecht gelaunt waren, durfte ich nichts sagen. Kein Mucks. Nur hoffen, dass sie mich vergessen.
Oft gab es Streit. Laut, böse, manchmal mit Dingen, die durch den Raum flogen. Manchmal Schläge. Und manchmal auch einfach gar nichts. Keine Worte, kein Blick, nur Kälte. Ich wusste nie, was schlimmer war.
Essen gab’s auch nicht immer. Manchmal war was da, manchmal nicht. Ich hab nicht gefragt, weil das sowieso nichts gebracht hat. Manchmal haben sie gesagt, ich hätte schon gegessen, dabei stimmte das gar nicht. Aber ich hab genickt. Damit es keinen Ärger gibt.
Ich dachte immer, das ist normal. Dass ich einfach nicht so viel wert bin. Dass ich nicht gut genug bin. Ich hab so viel falsch gemacht. Immer. Ich wusste gar nicht, wie man es richtig macht. Irgendwas war immer. Ich war das Problem. Ich hab ihnen Ärger gemacht. Ich war zu laut, zu ungeschickt, zu dumm. Wenn ich weinte, war das falsch. Wenn ich nichts sagte, auch.
Und jetzt?
Jetzt war da Annette.
Sie wurde nicht laut. Auch nicht, wenn ich langsam war. Oder wenn ich nicht wusste, wie ein Wort ausgesprochen wird. Sie hat mich nie gehauen. Nicht einmal angeschrien. Wenn ich Angst hatte, hat sie mich in den Arm genommen.
Ich verstand das nicht. Ich wusste nicht, warum sie so anders war. Was ich jetzt anders mache. Oder warum sie so lieb zu mir ist, obwohl ich doch noch immer ich bin – mit all den Fehlern. Vielleicht war sie einfach so. Oder ich war nicht mehr so schlimm wie früher. Ich wusste es nicht.
Aber was ich wusste, war: Bei ihr fühlte sich alles leichter an. Nicht wie ein Stein im Bauch. Eher wie eine warme Decke, in die man sich einwickeln kann, wenn alles außen zu kalt ist.
Und trotzdem… war da diese Angst. Ganz leise, aber sie ging nicht weg.
Die Angst, dass es vielleicht irgendwann doch kippt. Dass sie eines Tages sagt: Jetzt reicht’s. Du bist zu viel. Du machst alles falsch. So wie früher. Dass sie merkt, wie anstrengend ich bin, wie schwierig, wie wenig ich wert bin. Und dass sie mich dann nicht mehr will.
Ich wollte das nicht glauben. Ich wollte glauben, dass es diesmal anders ist.
Aber ich wusste noch nicht, wie das geht. Dieses „Vertrauen“. Ich hatte es nie gelernt.
Und so blieb ein Teil von mir immer wachsam. Nur für den Fall. Nur falls alles doch wieder so wird wie früher.
Annette blätterte um. Die nächste Seite im Buch zeigte den kleinen Dachs zwischen lauter Tieren mit bunten Mützen. Es war ein fröhliches Bild, aber ich reagierte nicht. Ich starrte nur auf die Seite, ohne sie wirklich zu sehen. Die Gedanken in meinem Kopf waren lauter als alles andere.
„Alles in Ordnung, mein Schatz?“ fragte Annette leise.
Ich hörte es, aber ich sagte nichts. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich konnte gar nicht so schnell von dem, was in meinem Kopf war, zu dem Bild mit den Mützen springen.
„Florian?“ Ihre Stimme war noch ein bisschen sanfter als vorher. „Ist was nicht in Ordnung?“
Ich zuckte mit den Schultern. Ganz klein. Ich konnte nicht sagen ja, aber auch kein richtiges nein.
Annette ließ das Buch langsam sinken. Ihre Stimme war ruhig, wie ein weiches Kissen:
„Du kannst mir sagen, was dich beschäftigt. Wenn du magst. Du musst es nicht sofort in Worte fassen. Du musst dich nicht schämen. Du kannst einfach anfangen, wie’s dir einfällt. Ganz egal wie.“
Ich biss mir auf die Lippe. Ich wollte reden. Irgendwie. Aber ich wusste nicht wie. Es war so viel in meinem Kopf, wie eine Wolke aus Sachen, die ich nicht richtig greifen konnte.
„Ich… ich weiß nicht, wie ich das sagen soll“, flüsterte ich schließlich.
„Das ist okay“, sagte Annette. Sie streichelte mir jetzt doch ganz leicht über den Rücken, mit ihrer freien Hand. „Manchmal fängt man einfach irgendwo an. Ich hör dir zu. Ohne Druck, ja?“
Ich sagte erstmal nichts. Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Ich atmete durch, spürte ihr Shirt an meiner Wange, hörte, wie draußen jemand über den Flur lief. Und dann kam es. Ganz leise.
„Es ist alles so anders… bei dir.“
Annette sagte nichts. Sie wartete. Ich hörte, wie sie ein bisschen tiefer einatmete, aber sie blieb ganz still.
„Ich… ich hab dich so lieb“, sagte ich, noch leiser. „Und ich hab Angst, dass du mich irgendwann nicht mehr magst.“
Ich hielt die Luft an. Für einen Moment sagte keiner von uns etwas. Ich hatte das Gefühl, mein Herz klopft so laut, dass sie es hören musste.
Ich wusste nicht, warum ich das gesagt hatte. Oder doch – weil es wahr war. Weil ich das jeden Tag dachte, auch wenn ich es niemandem zeigte. Weil ich wusste, dass Menschen einen lieb haben können… aber dass das manchmal trotzdem nicht reicht. Weil sie es sich anders überlegen. Oder weil man zu schwierig ist.
Ich hatte Angst, dass es wieder so wird. Auch wenn es sich bei ihr so schön anfühlte.
Annette schwieg erst einen Moment. Ich spürte, wie sie das, was ich gesagt hatte, nicht einfach weglächeln wollte. Sie ließ es da stehen. Ganz ruhig. Und dann antwortete sie – leise, aber so deutlich, dass ich jedes Wort hören konnte.
„Florian… du kannst bei mir nichts falsch machen.“
Ich hob langsam den Kopf und sah sie an. Ihre Stimme war ruhig, ihre Augen auch. Nicht streng. Nicht traurig. Nur ernst – aber nicht so ein schlimmes Ernst, das einem Angst macht. Sondern das andere. Das, wo man merkt, dass jemand es wirklich so meint.
„Eltern – und auch Pflegeeltern – lieben ihre Kinder bedingungslos. Weißt du, was das heißt?“
Ich schüttelte langsam den Kopf. Das Wort kannte ich, aber so richtig verstanden hatte ich es nie.
„Das heißt: Du musst nichts leisten, um geliebt zu werden. Du musst nicht immer brav sein. Du musst nicht alles richtig machen. Du darfst Fehler machen. Du sollst sogar Fehler machen – weil man nur so lernen kann, was gut für einen ist. Und genau dafür bin ich da. Um dir zu helfen. Dich zu begleiten. Und ja… ich werde auch mal mit dir schimpfen.“
Ich zuckte zusammen. Ganz leicht. Schimpfen. Das klang nach Gefahr. Nach Schreien. Nach kaltem Blick und harter Stimme. Mein Bauch wurde eng, mein Kopf ganz still. Hatte ich doch schon was falsch gemacht?
Aber dann sprach sie weiter, ganz sanft:
„Aber ich schimpfe nicht, weil ich dich nicht lieb hab, sondern gerade weil ich dich so sehr lieb hab. Weil ich möchte, dass es dir gut geht. Dass du dich sicher fühlst. Und stark wirst. Und deinen Weg findest. Schimpfen heißt nicht, dass ich böse bin. Es heißt, dass ich mich kümmere. Dass du mir wichtig bist.“
Sie legte ihre Hand ganz ruhig auf meine. Warm. Sicher. Kein Druck. Nur da.
„Du kannst dir ganz sicher sein, dass ich dich lieb hab. Wirklich lieb. Mehr, als ich je gedacht hätte, dass ich jemanden so schnell lieb haben kann.“
Ich schluckte schwer. Irgendwas in mir wurde ganz weich. So weich, dass es fast ein bisschen wehtat. Aber es war kein schlimmer Schmerz. Mehr so… als würde da drinnen etwas auftauen.
Annette lächelte, ganz sanft.
„Darf ich fragen, was denn bei uns so anders ist? Als das, was du vorher erlebt hast?“
Ich zögerte. Nicht weil ich es nicht wusste – sondern weil es so viel war. Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Aber dann kamen die Worte, ganz langsam, wie Tropfen.
„Bei euch… ist es ruhig. Und es schreit keiner. Und… es gibt was zu essen. Jeden Tag. Und ich darf reden. Und spielen. Und du wirst nicht sauer, wenn ich was nicht kann.“
Ich atmete durch. Es tat gut, das zu sagen. Auch wenn es leise war.
„Und du bist einfach da“, fügte ich noch hinzu. „Nicht nur, wenn ich was gemacht hab.“
Ich lehnte mich wieder an sie. Fester. Und in meinem Bauch war zum ersten Mal nicht nur Wärme, sondern auch ein kleines bisschen Platz. Für etwas Neues.
Für Hoffnung.
Annette sagte nichts mehr. Sie nahm das Buch zur Seite, ganz vorsichtig, als wolle sie den Moment nicht zerbrechen. Dann schlang sie langsam beide Arme um mich und drückte mich sanft an sich. Nicht fest, nicht zu eng – genau richtig. Ich lehnte meinen Kopf gegen ihre Schulter, spürte ihren Atem, ruhig und gleichmäßig.
Nach einer kleinen Weile fragte sie leise, so als würde sie mir die Entscheidung überlassen:
„Möchtest du mir mehr darüber erzählen? Über das, was früher war?“
Ich hob langsam den Kopf und schaute sie an. Ihre Augen waren ruhig, nicht neugierig, sondern… offen. Warm. Und trotzdem konnte ich es nicht richtig glauben.
„Willst du das wirklich wissen?“ fragte ich. Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Ich erwartete, dass sie vielleicht zögert. Dass sie sagt: Nur wenn du willst. Oder: Nicht, wenn’s zu schlimm ist. Aber sie sah mich einfach an und sagte ruhig:
„Ja, ich möchte es wirklich wissen. Aber nur, wenn du es erzählen willst. Es muss jetzt nicht sein. Es muss überhaupt nicht sein – außer du willst es.“
Sie legte ihre Hand ganz leicht auf mein Knie, ihre Stimme war weich wie Watte.
„Das gilt für immer, Florian. Du darfst immer zu mir kommen. Wenn dich etwas aus deiner Vergangenheit beschäftigt. Oder wenn du dir Sorgen machst. Oder über etwas lange nachdenkst. Oder wenn du nicht schlafen kannst, weil dich etwas im Kopf festhält. Dafür bin ich da. Das ist meine Aufgabe – aber vor allem: Ich will das. Weil du mir wichtig bist.“
Ich sagte nichts. Noch nicht.
Ich wusste nicht genau, warum ich es jetzt erzählen wollte. Vielleicht, weil sie es gesagt hatte. Dass ich darf. Immer. Vielleicht auch, weil es jetzt einfach rauswollte, wie ein Luftballon, der zu lange aufgepustet war.
Ich saß noch immer auf ihrem Schoß, eingekuschelt, und sprach leise. Ganz langsam.
„Meine Mama und mein Papa… die haben oft gestritten. Ganz laut.“
Ich wartete, ob Annette etwas sagte. Aber sie schwieg. Sie war einfach da. Also redete ich weiter.
„Ich hab mich dann in meinem Zimmer versteckt. Hinter dem Schrank. In der Ecke. Da war es dunkel… aber irgendwie besser.“
Ich sah sie nicht an. Ich sah auf ihre Hand, die noch immer auf meinem Bein lag. Warm und ruhig.
„Manchmal… ging’s im Streit auch um mich“, sagte ich noch leiser. „Dann hat einer mit mir geschimpft. Oder… manchmal auch…“ Ich stockte. Die Worte wollten nicht mehr weiter. Als hätte mein Mund plötzlich zu viele Steine darin.
Ich schluckte. Dann kamen die Tränen. Erst ein paar. Dann viele. Ich konnte sie nicht zurückhalten. Ich presste mein Gesicht an Annettes Brust und schluchzte.
Sie hielt mich fester, aber ganz vorsichtig. Ihr Kopf neigte sich ein Stück zu mir. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch.
„Du bist jetzt hier, mein Schatz. Du bist in Sicherheit. Und niemand… wirklich niemand… wird dich hier anschreien. Oder dir weh tun. Nicht bei mir. Nicht in deinem neuen Zuhause.“
Ich zitterte ein bisschen. Nicht vor Kälte, sondern weil alles in mir gerade so viel war. Aber ich spürte ihre Arme. Ihren Körper. Ihre Stimme. Und Stück für Stück beruhigte sich mein Atem wieder. Nicht ganz. Aber genug, um zu merken:
Ich bin nicht mehr allein in der Ecke hinter dem Schrank. Ich bin jetzt bei ihr.
Und hier war es… anders.
Fortsetzung folgt….

Autor: michaneo | Eingesandt via Mail

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Windelspiel
Windelspiel
Gast
16/05/2025 04:57

Hallo Michaneo, wirklich schön geschrieben, nur fand ich ich das Kapitel sehr lang und dadurch schon etwas anstrengend… Vielleicht wäre ein früherer Cut besser gewesen ?
LG von Windelspiel

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Michaneo
Michaneo
Gast
Antwort an  Windelspiel
16/05/2025 13:30

Hallo windelspiel,
vielen Dank für deinen Kommentar – schön zu hören, dass dir die Geschichte im Großen und Ganzen gefallen hat.
Du hast recht, die Kapitel sind inzwischen wirklich lang. Ich tue mich oft schwer damit, sie am Ende noch zu kürzen oder zu straffen. Für meine nächste Geschichte habe ich mir aber vorgenommen, mit weniger Details zu arbeiten, die Kapitel kürzer zu halten und die Handlung zügiger voranzutreiben.
In der aktuellen Geschichte jetzt den Stil zu ändern, würde sich jedoch nicht richtig anfühlen – daher bleibt es vorerst bei der bisherigen Erzählweise
.

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Windelspiel
Windelspiel
Gast
Antwort an  Windelspiel
16/05/2025 17:50

Zum Beispiel an der Stelle, wo Er von der IC auf die Kinder Station verlegt wurde…
VG

0
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Windelspiel
Windelspiel
Gast
Antwort an  Windelspiel
16/05/2025 22:44

Du solltest den Stil nicht weniger detailliert ändern, das kannst Du doch gerade so gut – aber ein früherer Cut und deshalb paar Kapitel mehr, ist doch die einfachste Lösung !
LG von Windelspiel

3
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Gast_User69
Gast_User69
Gast
Antwort an  Windelspiel
16/05/2025 22:52

Ich finde es ehrlich gesagt genau richtig ich finde Geschichten mit vielen Details Viel besser besonders weil’s dem ganzen etwas mehr uff jetzt weiß ich nicht wie ich das erklären soll es macht die Geschichte Lebendig so daß es sich wie eine Echte Geschichte anfühlt daher fände ich kürzen keine gute Idee ich hoffe du bleibst bei den Längeren Geschichten Michaaneo

3
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MiRa
MiRa
Gast
Antwort an  Windelspiel
17/05/2025 04:49

Das schöne am geschriebenen Wort ist doch, dass man jederzeit unterbrechen kann. Die sehr detaillierte Beschreibung der Gedanken der einzelnen Charaktere macht die Faszination der Geschichte aus.

4
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Windelspiel
Windelspiel
Gast
Antwort an  MiRa
22/05/2025 05:10

Hallo Micha wo,
ich erlaube mir mal zusammen zu fassen, daß fasl Alle der Meinung sind du solltest nicht (viel) stärker kürzen, sondern einfach den Cut früher ziehen, um es nicht zu lang werden zu lassen !
Das war auch genau das, was ich anfänglich sagen wollte…
LG von Windelspiel

1
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Michaneo
Michaneo
Gast
Antwort an  Windelspiel
24/05/2025 11:26

Hallo zusammen,
ich habe mir euer Feedback zu Herzen genommen und den nächsten Teil etwas kürzer gehalten – allerdings ohne auf Details zu verzichten. Ich habe das Kapitel einfach früher enden lassen.
Der Text ist bereits beim Korrekturleser und wird hoffentlich bald erscheinen.
Vielen Dank für eure Rückmeldungen – ich freue mich schon sehr auf eure Kommentare zum nächsten Te
il!

0
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Pamperspopo
Pamperspopo
Gast
18/05/2025 01:55

Wunderschöner Teil. Anette ist so Toll wie sie einfach für ihn da ist und ihm die Ruhe und Wärme und Liebe entgegen bringt die er braucht Es ist einfach nur schön Danke

1
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Michaneo
Michaneo
Gast
Antwort an  Pamperspopo
24/05/2025 11:27

Vielen Dank, es freut mich sehr, dass dir die Geschichte weiterhin gefällt.

0
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Parkin
Parkin
Gast
19/05/2025 12:52

Der arme Florian ist so traumatisiert und tut mir so Leid. Ich hoffe es geht ihm bald besser und dass er sich auch mental etwas erholt, bzw auch lernt zu vertrauen.

1
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Michaneo
Michaneo
Gast
Antwort an  Parkin
24/05/2025 11:30

Vielen Dank für deinen Kommentar.
Florian bekommt viel Unterstützung von seiner neuen Familie – ich bin zuversichtlich, dass er das alles gut übersteht und mit der Zeit auch mehr Vertrauen fassen kann.

0
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Diaperwinni
Diaperwinni
Gast
25/05/2025 20:35

Ja, Michaneo, auch dieser Teil ist wunderbar geschrieben. ************** hat Mut gefasst und sich Anette zaghaft aber entschlossen geöffnet. Bin gespannt auf die hoffentlich bald folgende Fortsetzung.

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