Florians Schatten (12)
Windelgeschichten.org präsentiert: Florians Schatten (12)
Nachdem Diana mich im Auto angeschnallt hatte, schloss sie die Tür und ging nach vorne auf den Fahrersitz. Sie schnallte sich an, holte ihr Handy heraus und schaute mich kurz an. „Ich muss kurz mit Frau Peters vom Jugendamt telefonieren, Florian. Es dauert nicht lange.“
Ich nickte stumm, drückte Pandi fest an mich und sah aus dem Fenster, während sie die Nummer wählte.
„Hallo, Elke. Ich war mit Florian wie besprochen beim Kinderarzt“, sagte Diana ruhig. „Ja, soweit alles wie erwartet. Sie hat mir eine Überweisung zum Urologen wegen seiner Blasenprobleme gegeben… Ja, das wollten wir ursprünglich, aber wir sind zufällig gleich dran gekommen… Nein, das nicht, aber wir haben jetzt eine Überweisung für die Radiologie. Der Arzt hat eine Anomalie an seiner Wirbelsäule festgestellt, die dringend abgeklärt werden muss… Wir brauchen etwa zwanzig Minuten bis ins Krankenhaus… Ja, das wäre super. Dann treffen wir uns dort. Bis gleich.“
Diana legte das Telefon zur Seite und drehte sich zu mir um. Ihre Augen waren sanft, aber ich konnte sehen, dass sie besorgt war.
„Frau Peters kommt ins Krankenhaus, weil für diese Untersuchung die Zustimmung deines Vormunds notwendig ist“, erklärte sie mir. „Aber keine Sorge, ich bin die ganze Zeit bei dir.“
Ich nickte langsam, aber mein Herz schlug wild in meiner Brust. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus, wie ein schwerer Stein, der immer größer wurde. Die Angst kroch durch meinen ganzen Körper. Die Vorstellung, ins Krankenhaus zu gehen, machte mir noch mehr Angst als vorher. Alles war unbekannt und fremd, und jetzt kam auch noch Frau Peters dazu. Was, wenn etwas wirklich nicht in Ordnung war?
Ich drückte Pandi noch fester an mich, als könnte er die Angst wegdrücken. Die Fahrt zum Krankenhaus würde nicht lang sein, aber ich wünschte, sie würde ewig dauern.
Diana schnallte mich ab, half mir aus dem Auto und nahm meine Hand. Ich drückte Pandi fest an mich und spürte, wie mein Herz in meiner Brust hämmerte. Vor dem Eingang des Krankenhauses wartete schon Frau Peters. Sie lächelte mir zu, aber in ihrem Blick lag auch etwas Besorgtes.
„Hallo Florian“, sagte sie leise. „Du fährst heute ja von einem Arzt zum anderen.“
Ich nickte nur stumm und ließ mich von Diana ins Krankenhaus führen. Die Türen glitten leise zur Seite, und wir betraten einen hellen, stillen Empfangsbereich. Es roch ein bisschen nach Desinfektionsmittel, aber nicht unangenehm. Der Boden glänzte, und die Stimmen der wenigen Leute um uns herum waren gedämpft.
Diana ging zum Empfangstresen, wo ein Mann in einem blauen Hemd saß. Er schaute freundlich auf.
„Guten Tag, wir haben eine Überweisung für die Radiologie“, sagte Diana.
Der Mann nahm den Zettel entgegen, sah kurz darauf und nickte. „Gehen Sie bitte den Flur entlang bis zur Glastür. Dahinter nehmen Sie den Aufzug in den zweiten Stock. Die Radiologie ist ausgeschildert.“
„Vielen Dank“, sagte Diana, drückte meine Hand sanft und führte mich weiter.
Der Flur war lang und still. Meine Schritte hallten ein wenig, und ich spürte, wie sich ein Knoten in meinem Bauch zusammenzog. Alles war sauber und ordentlich, aber es fühlte sich kalt an. Ich sah Türen, hinter denen sich unbekannte Räume verbargen. Meine Finger krallten sich in Pandi, während wir weitergingen.
Vor der Aufzugstür blieb Diana kurz stehen und drückte den Aufzugsknopf. Die Türen öffneten sich mit einem leisen „Ping“, und wir traten ein. Der Aufzug fuhr nach oben, und ich spürte ein Kribbeln im Bauch.
Als sich die Türen im zweiten Stock öffneten, sah ich ein Schild, das zur Radiologie zeigte. Diana ging zielstrebig voran, und ich folgte mit zitternden Beinen. Der Flur hier war ebenfalls still und hell. Alles war so sauber, dass ich das Gefühl hatte, jedes Geräusch wäre zu laut.
Diana öffnete die Tür zur Radiologie, und wir traten in den kleinen Warten bereich. Am Empfang saß eine junge Krankenschwester, die uns freundlich ansah.
„Guten Tag, wie kann ich helfen?“, fragte sie mit einem höflichen Lächeln.
Diana trat vor und sagte: „Wir haben eine Überweisung vom Urologen für ein MRT für Florian.“
Die Krankenschwester nickte und lächelte verständnisvoll. „Ja, der Urologe hat uns bereits informiert. Wir schieben Florian gleich zwischen zwei Patienten dazwischen.“
Sie sah zur Tür des Untersuchungs Raums und fügte hinzu: „Gerade ist noch ein Patient im MRT, aber es dauert nicht mehr lange. Nehmen Sie doch bitte kurz Platz.“
Diana führte mich zu den Stühlen an der Wand. Ich ließ mich darauf sinken, mein Herz schlug etwas schneller. Diana setzte sich neben mich und legte sanft ihre Hand auf meine Schulter.
„Nach einer kleinen Weile öffnete sich die Tür, und eine ältere Frau kam aus dem Raum. Sie stützte sich beim Gehen auf einen kleinen Wagen und bewegte sich langsam in Richtung Ausgang.
Die Krankenschwester am Empfang sah zu uns herüber und sagte: „Ihr könnt jetzt reingehen.“
Diana nahm meine Hand, und zusammen mit Frau Peters gingen wir in den Raum. Dort saß ein älterer Mann in einem weißen Kittel und mit einer Brille auf der Nase. Er sah freundlich zu mir herüber und lächelte.
„Du bist bestimmt Florian“, sagte er sanft. „Ich bin Dr. Lehmann.“
Diana und ich setzten uns auf die Stühle vor dem Schreibtisch. Frau Peters blieb daneben stehen. Mein Herz klopfte wild, und ich drückte Pandi noch fester.
„Herr Peters hat mir schon erklärt, warum ihr hier seid“, sagte Dr. Lehmann und schaute mich an. „Wir machen gleich ein MRT, damit wir uns deine Wirbelsäule genauer anschauen können.“
Ich nickte, auch wenn ich kaum verstand, was genau ein MRT war. Meine Hände waren feucht, und mein Magen fühlte sich an wie ein Stein.
„Ein MRT ist ein Gerät, das Bilder von deinem Körper macht. Es tut nicht weh“, erklärte Dr. Lehmann freundlich. „Du wirst dich auf eine Liege legen, und die fährt dann langsam in das Gerät hinein. Das dauert ein paar Minuten, und du musst ganz still liegen. Dein Panda darf natürlich mitkommen und bei dir bleiben.“
Er lächelte aufmunternd und fügte hinzu: „Es wird allerdings ziemlich laut im MRT. Damit es für dich angenehmer ist, bekommst du Kopfhörer, über die du Musik hören kannst. Was möchtest du gerne hören?“
Ich zuckte unsicher mit den Schultern. Mir wurde klar, dass ich gar nicht wusste, was ich hören wollte. Ich hatte keinen Musikplayer, und die Lieder aus dem Musikunterricht mochte ich nicht besonders.
Dr. Lehmann nickte verständnisvoll. „Wenn du keine Lieblingstitel hast, können wir einfach Kinderlieder spielen. Die kennst du bestimmt aus dem Kindergarten.“
Diana räusperte sich und sagte ruhig: „Auch wenn Florian sehr jung wirkt, er geht schon in die zweite Klasse.“
Dr. Lehmann schaute nochmals auf seine Unterlagen und nickte. „Ja, stimmt, du bist ja schon 7 Jahre alt. Dann spielen wir einfach die aktuellen Top 40. Das gefällt den meisten Kindern in deinem Alter.“
Ich atmete erleichtert auf und war froh, dass Diana gesagt hatte, dass ich kein Kindergartenkind mehr bin. Ich fühlte mich ein kleines bisschen größer und drückte meinen Panda fest an mich.
Dr. Lehmann schaute zu Frau Peters. „Ich brauche noch Ihre Unterschrift für die Einverständniserklärung.“
Frau Peters nahm den Bogen in die Hand und überflog ihn kurz, bevor sie den Stift ansetzte. Ich beobachtete, wie ihre Hand ruhig über das Papier glitt. Jeder Strich und jede Bewegung ihres Stifts fesselten meine Aufmerksamkeit – alles war besser, als über das MRT nachzudenken.
„Gut, dann kommt mal mit“, sagte Dr. Lehmann und stand auf. „Bist du bereit, Florian?“
Nicht wirklich. Aber ich nickte trotzdem. Diana nahm meine Hand und führte mich in einen anderen Raum. Es war kühl dort, und ich spürte den Boden kalt durch meine Schuhe. In der Mitte des Raums stand ein riesiges, weißes Ding. Es sah aus wie ein großer, runder Tunnel, der irgendwie unheimlich war. Der Tunnel war an beiden Enden offen, aber innen wirkte er und geheimnisvoll.
Davor befand sich eine schmale Liege, die aussah, als könnte sie sich bewegen. An der Seite gab es Knöpfe und kleine Bildschirme mit Lichtern, die stum blinkten. Alles sah sauber und fremd aus. Mein Magen zog sich zusammen, und die Angst kribbelte in meinen Fingerspitzen.
Ich drückte Pandi fester an mich. Dieses große Gerät machte mir Angst, obwohl ich nicht einmal wusste, was es genau tat. Der Raum war still, und das weiße, runde Ding wirkte so riesig, dass es mich verschlucken könnte. Ich wollte zurücklaufen, aber Dianas Hand hielt mich sanft fest.
Dr. Lehmann beugte sich zu mir herunter. „Florian, das Gerät macht Bilder von dir, während du ganz ruhig liegen bleibst. Es wird sich langsam bewegen, und du kannst die Augen schließen, wenn du willst.“
Ich schaute zu Diana. Sie lächelte mir aufmunternd zu. „Ich bin die ganze Zeit hier, Florian.“
Dr. Lehmann lächelte freundlich und fragte: „Hast du irgendwelche metallischen Gegenstände bei dir? Schlüssel, Münzen oder etwas anderes aus Metall?“
Ich schüttelte den Kopf. Er nickte und fügte hinzu: „Du musst deine Hose ausziehen, weil der Hosenknopf aus Metall die Bilder stören könnte.“
Meine Wangen wurden heiß, aber ich zog langsam meine Hose aus. Dabei wurde sichtbar, dass ich eine Windel trug. Mir war es furchtbar peinlich, und ich wollte am liebsten im Boden versinken. Doch Dr. Lehmann sagte nichts dazu und blieb genauso freundlich wie vorher.
„Sehr gut, Florian“, lobte Dr. Lehmann mich und lächelte aufmunternd. Dann half er mir, mich auf die Liege zu legen. Die Oberfläche war kühl, und mein Herz klopfte so schnell, dass ich dachte, es könnte gleich aus meiner Brust springen.
Er nahm ein Paar Kopfhörer und setzte sie mir behutsam auf die Ohren. „Du schaffst das“, sagte er sanft. „Und dein Panda ist ja bei dir.“
Ich drückte meinen Panda fest an mich und nickte. Irgendwie halfen seine Worte ein wenig. Ich schloss die Augen und versuchte, ruhig zu bleiben.
„Du schaffst das“, sagte Dr. Lehmann sanft. „Und dein Panda ist ja bei dir.“
Nur still liegen. Nur still liegen, sagte ich mir immer wieder.
Diana legte ihre Hand sanft auf mein Bein. „Ich bin hier“, flüsterte sie.
Ich schloss die Augen ganz fest und hoffte, dass alles schnell vorbeigehen würde.
Ich lag auf der schmalen Liege, Pandi fest an mich gedrückt. Ich spürte, wie mein Herz immer schneller schlug. Meine Finger klammerten sich so fest um Pandi, dass sie wehtaten. Diana hatte gesagt, dass sie da sein würde, aber jetzt fühlte ich mich allein. Allein in diesem großen Raum mit dem riesigen, weißen Tunnel.
Langsam bewegte sich die Liege in den Tunnel hinein. Die Wände waren nah an meinem Gesicht, und ich fühlte mich wie eingesperrt. Die Decke des Geräts schwebte knapp über mir, und mein Atem ging schneller. Mein Brustkorb hob und senkte sich, während ich versuchte, ruhig zu bleiben. Nur still liegen, sagte ich mir. Einfach still liegen.
Dann begann das Geräusch.
Zuerst hörte ich Musik aus den Kopfhörern. Eine fröhliche Melodie, die kurzzeitig versuchte, mich abzulenken. Doch plötzlich wurde die Musik von einem lauten, dröhnenden Pochen und Klopfen übertönt. Das Geräusch durchdrang die Kopfhörer mühelos und erfüllte den gesamten Tunnel. Es war so laut, dass es in meinem Kopf vibrierte. Es fühlte sich an, als würde ein riesiger Hammer immer wieder auf Metall schlagen: BUMM-BUMM-BUMM-BUMM.
Mein Herz schlug im gleichen Takt, und ich spürte, wie meine Beine zu zittern begannen. Ich wollte weglaufen, weg von diesem Lärm, weg von dieser Enge.
Ich biss mir auf die Lippe und versuchte, nicht zu weinen. Mein Hals fühlte sich zugeschnürt an. Ich schloss die Augen ganz fest, aber das machte es nicht besser. In der Dunkelheit fühlte sich alles noch bedrohlicher an. Das Dröhnen war überall – es drückte gegen meine Ohren, meinen Kopf, meine Brust.
Trotz der Musik, die leise im Hintergrund weiterlief, konnte ich das Pochen nicht ignorieren. Ich klammerte mich an meinen Panda, als könnte er mich beschützen, und hoffte, dass es bald vorbei sein würde.
Die Zeit zog sich wie Kaugummi. Jede Sekunde fühlte sich an wie eine Minute. Das Pochen und Klopfen hörte einfach nicht auf. Meine Gedanken rasten: Wann hört das endlich auf? Wie lange muss ich hier noch liegen?
Ich versuchte, an etwas anderes zu denken, aber das Geräusch ließ keinen Platz für schöne Gedanken. Es war, als würde der Lärm alle anderen Gefühle wegdrücken. Mein Körper spannte sich an, und ich hatte Angst, dass ich mich bewege und alles falsch mache.
Ich spürte Tränen in meinen Augen brennen. Nicht weinen, nicht jetzt, sagte ich mir. Aber es war so schwer. Der Tunnel fühlte sich immer enger an, der Lärm immer lauter.
Das Dröhnen ging weiter, aber ich kämpfte mit aller Kraft dagegen an. Gegen die Angst, gegen die Tränen. Ich wollte stark sein. Nur noch ein bisschen durchhalten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde das Dröhnen leiser, und die Liege bewegte sich langsam zurück aus dem Tunnel. Licht flutete in meine Augen, und ich blinzelte vorsichtig. Der Lärm verstummte, und plötzlich war es wieder still. Mein Herz hämmerte immer noch wild, und meine Hände zitterten.
Diana war sofort da. Sie strich mir sanft über die Stirn. „Du hast das super gemacht, Florian“, sagte sie leise.
Ich konnte nichts sagen, ich war einfach nur erleichtert, dass es vorbei war. Eine einzelne Träne lief über meine Wange, und Diana wischte sie vorsichtig weg. Ich drückte Pandi fest an mich und atmete tief durch. Es war geschafft. Endlich.
Beim Aufstehen spürte ich, wie es wieder warm in der Windel wurde. Es war mir egal. Ich war einfach nur froh, aus diesem Ding heraus zu sein. Meine Beine fühlten sich wackelig an, und ich drückte Pandi ganz fest an mich.
Dr. Lehmann betrat den Raum und lächelte uns an. „Kommt bitte kurz in das Zimmer nebenan. Ich bin gleich bei euch.“
Diana nahm meine Hand, und wir gingen zusammen in einen kleinen Raum. In der Mitte stand ein kleiner Glastisch, umgeben von ein paar Stühlen. Es war ruhig hier. Durch ein großes Fenster konnte ich nach draußen schauen. Ich sah ein paar kahle Bäume und beobachtete, wie kleine Schneeflocken langsam zu Boden schwebten. Der Schnee wurde dichter, und die Flocken fielen immer schneller. Ich starrte fasziniert hinaus. Es war, als würde die Welt draußen langsamer werden, während der Schnee alles zudeckte. Irgendwie hatte das etwas Beruhigendes. Für einen Moment konnte ich die Angst vergessen.
Diana und Frau Peters setzten sich auf die Stühle und unterhielten sich leise. Ich hörte nicht zu, ihre Worte rauschten nur an mir vorbei. Meine Gedanken waren beim Schnee und bei den wirbelnden Flocken, die sich sanft auf den Boden legten.
Nach einer Weile öffnete Dr. Lehmann die Tür und kam zu uns. „Könnt ihr bitte mitkommen?“ fragte er freundlich.
Wir gingen einen langen Flur entlang in einen größeren Raum. An der Wand hing ein Fernseher, und daneben stand ein Computer. Dr. Lehmann schob ein Gerät in den Computer, und kurz darauf erschien ein seltsames Bild auf dem Bildschirm. Es war schwarz-weiß und zeigte etwas, das aussah wie Knochen und Linien. Es machte mir ein bisschen Angst, weil ich nicht verstand, was es bedeutete.
Dr. Lehmann schaute mich, dann Diana und Frau Peters an. „Hat Florian in den letzten zwei Jahren einen Unfall gehabt?“
Diana und Frau Peters sahen fragend zu mir. Ich schüttelte den Kopf. „Ich kann mich an keinen Unfall erinnern“, murmelte ich leise.
Frau Peters antwortete: „Wir haben keine genauen Informationen. Florian wurde erst letzte Woche aus seiner Familie genommen.“
Dr. Lehmann kniete sich zu mir herunter. „Florian, kannst du dich daran erinnern, ob du mal schlimm auf den Rücken gefallen bist? Vielleicht von einem Fahrrad gestürzt oder von einem Baum gefallen?“
Ich spürte, wie meine Hände feucht wurden. Ich schüttelte den Kopf. „Ich hatte kein Fahrrad. Ich bin noch nie Fahrrad gefahren.“
Ein kleiner Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich dachte an meine Mitschüler, die immer von ihren Fahrradtouren erzählten. Ich hatte sie immer darum beneidet.
Dr. Lehmann richtete sich wieder auf und zeigte mit dem Finger auf eine bestimmte Stelle auf dem Bild. „Hier sieht man eine Engstelle an der Wirbelsäule. Es handelt sich um eine Stauchung oder Quetschung. Dieses Narbengewebe hier deutet darauf hin, dass die Verletzung mindestens ein halbes Jahr alt ist – vermutlich sogar noch älter.“
Frau Peters sah besorgt aus. „Wie kann so etwas passieren, wenn kein Unfall bekannt ist?“ fragte sie.
Dr. Lehmann schaute ihr in die Augen. Seine Stimme war ernst. „Alternativ kann so etwas auch durch äußere Gewalteinwirkung entstehen.“
Mein Herz zog sich zusammen, und ich drückte Pandi so fest an mich, dass es wehtat. Die Worte schwebten im Raum, schwer und unangenehm. Ich verstand nicht alles, aber ich wusste, dass es nichts Gutes bedeutete. Mein Kopf fühlte sich plötzlich ganz leer an, und ich wollte einfach nur Weg. Zu Annette. In ein Bett, das warm und sicher war. Weg von all den fremden Menschen und den beängstigenden Bildern.
Diana kniete sich neben mich und legte einen Arm um meine Schultern. „Wir sind hier, Florian. Du bist nicht allein.“
Aber in mir drin fühlte ich mich ganz klein und einsam.
Frau Peters kniete sich vor mich hin, sodass ihre Augen auf meiner Höhe waren. Ihr Blick war warm und vorsichtig, aber ich konnte spüren, dass sie etwas Wichtiges sagen wollte. Sie atmete tief ein und sprach leise, fast als wollte sie mich nicht erschrecken:
„Florian, ich weiß, dass es bei dir zu Hause oft nicht gut war. Ich weiß, dass du geschlagen wurdest.“ Sie hielt kurz inne, sah mich prüfend an. „Aber gab es einen Moment, der besonders schlimm war? Eine Situation, bei der du vielleicht verletzt wurdest?“
Ihre Stimme war sanft, aber die Worte schnitten in meinem Kopf wie kleine Messer. Ich drückte Pandi fester an mich und schaute auf den Boden. Mein Herz begann zu rasen, und es fühlte sich an, als würde der Boden unter mir zittern.
Ich wollte nicht daran denken. Ich wollte es einfach vergessen. Aber ihre Worte öffneten eine Tür in meinem Kopf, die ich so fest verschlossen hatte. Ein kalter Schauer lief über meinen Rücken, und plötzlich waren die Erinnerungen da – scharf und schmerzhaft.
„Gab es vielleicht eine Situation, bei der dein Rücken sehr wehgetan hat?“ fragte sie noch sanfter.
Ich sah das Gesicht meines Papas vor mir, rot vor Wut. Ich hörte seine laute Stimme, spürte die Angst, die mir damals das Atmen schwer gemacht hatte. Es war der Tag, an dem meine Lehrerin diesen Brief geschrieben hatte. Sie wollte mit meinen Eltern sprechen. Mein Papa hatte den Brief gelesen, und ich wusste sofort, dass es Ärger geben würde.
Sein Blick war so kalt gewesen. Dann kamen die Schläge – hart und schnell. Ich spürte, wie mein Körper bei jedem Schlag zuckte, bis er mich schließlich packte und vor den Schrank stieß. Mein Rücken prallte gegen die harte Kante, ein stechender Schmerz schoss durch mich hindurch. Mir wurde sofort schwarz vor Augen, als ob jemand das Licht ausgeschaltet hätte.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich in meinem Zimmer. Es war dunkel. Alles tat weh. Mein Rücken brannte wie Feuer, und ich konnte mich kaum bewegen. Meine Eltern waren plötzlich ganz vorsichtig mit mir gewesen. Sie sagten, ich dürfe ein paar Tage nicht zur Schule gehen. Es war das einzige Mal, an das ich mich erinnere, dass sie sich um mich zu kümmern schienen.
Aber dann kam die Warnung. Ich musste versprechen, niemandem davon zu erzählen. „Sonst passiert etwas Schlimmes“, hatten sie gesagt. Diese Worte hatten sich in meinem Kopf eingebrannt, und ich hatte geschworen, nichts zu sagen. Nie.
Meine Augen brannten, und die Tränen liefen über meine Wangen. Ich biss mir auf die Lippe, versuchte, die Tränen zurückzuhalten, aber es ging nicht. Alles kam hoch wie eine Welle, die zu groß war, um sie aufzuhalten.
Ich spürte, wie Frau Peters’ Hand sanft meine berührte. „Florian, du bist hier sicher. Es kann dir nichts mehr passieren“, flüsterte sie.
Ich konnte nichts sagen. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Der Raum verschwamm vor meinen Augen, und ich fühlte mich wieder wie damals – klein, hilflos und allein. Ich drückte Pandi so fest an mich, dass es wehtat.
Diana kniete sich zu mir, legte einen Arm um meine Schultern und zog mich vorsichtig an sich. „Du musst nichts sagen, Florian. Du bist nicht allein“, sagte sie leise.
Aber es fühlte sich an, als würde der Schmerz von damals nie verschwinden. Ich konnte nur da sitzen und weinen, während die Erinnerungen mich fest im Griff hatten.
Frau Peters sah den Arzt an, ihre Stimme war ruhig, aber ich spürte ihre Besorgnis. „Was bedeutet das jetzt für Florian? Ist das die Ursache für seine Blasenprobleme? Gibt es eine Möglichkeit, ihn zu heilen?“
Der Arzt seufzte und sah mich einen Moment lang an, bevor er antwortete. Seine Stimme war ernst, aber auch traurig. „Es ist einfach unglaublich, was manche Eltern ihren Kindern antun können.“
Frau Peters nickte und sagte leise: „Ja, leider kommt so etwas öfter vor, als man denkt.“
Der Arzt fuhr fort: „Ja, es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass diese Verletzung die Ursache für seine Blasenprobleme ist. Die Nervenbahnen an der Wirbelsäule können durch die Stauchung oder Quetschung beeinträchtigt sein. Dennoch…“ Er zögerte kurz und fuhr dann fort: „Er hatte, wenn man das so nennen kann, noch Glück. Eine solche Verletzung hätte leicht zu einer Querschnittslähmung führen können – oder noch Schlimmerem.“
Mein Herz schlug schwer in meiner Brust, während ich versuchte, die Worte zu verstehen.
Der Arzt sah Frau Peters und Diana an. „Eine vollständige Heilung ist unwahrscheinlich. Eine Operation in diesem Bereich ist extrem riskant, und die Erfolgsaussichten sind leider gering.“
Ich spürte, wie mein Magen sich zusammenzog. Was bedeutete das für mich?
„Er sollte in seinem Leben schwere körperliche Arbeiten vermeiden“, fuhr der Arzt fort. „Auch bei Sportarten, die den Rücken belasten, muss er vorsichtig sein. Eine Physiotherapie, die seine Rückenmuskulatur stärkt, wäre ratsam. Das könnte helfen, die Beschwerden zu lindern, aber das zugrunde liegende Problem wird bleiben.“
Seine Stimme klang mitfühlend, und seine Augen waren traurig. „Das ist etwas, das Florian wohl für den Rest seines Lebens mit sich tragen muss.“
Diana drückte sanft meine Schulter. Ich fühlte mich plötzlich ganz klein und zerbrechlich. Tränen liefen unkontrolliert über meine Wangen, während ich versuchte zu verstehen, was all das bedeutete. Es war, als würde eine unsichtbare Last auf meinem Rücken liegen, schwerer als je zuvor. Mein Körper zitterte leicht, und ich spürte die Erschöpfung, die all die Angst und der Schmerz hinterlassen hatten.
Frau Peters’ Stimme war leise, aber fest: „Wir werden alles tun, um ihm zu helfen.“
Mit zitternder Stimme und Tränen, die über meine Wangen liefen, fragte ich leise: „Heißt das… heißt das, dass ich nicht schuld bin, dass ich immer in die Hose mache?“ Meine Stimme brach, und ich spürte, wie mein ganzer Körper bebte. Es war mir so wichtig zu wissen, dass man mir glaubt, dass ich es nicht absichtlich mache, dass ich es einfach nicht halten kann, wenn es passiert.
Dianas Umarmung wurde fester, warm und beschützend. „Nein, Florian“, sagte sie mit sanfter, bestimmter Stimme. „Du bist nicht schuld. Du kannst wirklich gar nichts dafür.“
Ihre Worte umhüllten mich wie eine Decke, und für einen Moment fühlte ich mich ein kleines bisschen leichter, auch wenn die Tränen weiter kullerten.
Dr. Lehmann nickte verständnisvoll und sagte: „Ich werde einen Arztbrief für den Kinderarzt verfassen, mit allen wichtigen Informationen. So stellen wir sicher, dass Florian die Hilfe bekommt, die er braucht. Ihr könnt jetzt erst einmal nach Hause fahren.“
Frau Peters zog eine kleine Karte aus ihrer Tasche und reichte sie dem Arzt. „Hier ist meine Karte. Könnten Sie bitte eine Kopie des Arztbriefs auch an diese Adresse senden? Ich brauche das für Florians Akte. Es wird später auch für rechtliche Schritte wichtig sein.“
Dr. Lehmann nahm die Karte entgegen und nickte ernst. „Selbstverständlich, das lässt sich einrichten. Es ist wichtig, dass alles gut dokumentiert wird.“
Dann schaute er zu mir und lächelte sanft. „Ich wünsche dir alles Gute, Florian. Du bist ein tapferer Junge.“
Ich konnte nichts sagen, aber ich nickte leicht und drückte Pandi fest an mich. Diana stand auf und nahm meine Hand. Es war endlich Zeit zu gehen, und obwohl ich immer noch Angst hatte, fühlte ich mich ein kleines bisschen sicherer, weil sie bei mir war.
Als wir das Krankenhaus verließen, machte sich eine bisschen Erleichterung in mir breit. Die kalte Luft draußen fühlte sich frisch an, und ich atmete tief ein. Es war, als könnte ich wieder ein bisschen besser denken, jetzt, wo wir diesen beängstigenden Ort hinter uns gelassen hatten.
Diana drehte sich zu Frau Peters. „Wie machen wir jetzt weiter?“ fragte sie leise.
Frau Peters überlegte kurz und lächelte dann. „Lass uns erst einmal etwas zum Mittagessen gehen. Was hältst du davon, Florian?“ Sie schaute mich an und fügte hinzu: „Magst du Pizza?“
Ich sah zu ihr hoch und nickte vorsichtig. Pizza klang gut, auch wenn mein Magen sich noch etwas komisch anfühlte. Aber die Idee, irgendwo zu sitzen und nicht mehr an das Krankenhaus denken zu müssen, war beruhigend.
„Dann lasst uns hier vorne einkehren“, schlug Frau Peters vor und deutete auf ein kleines Restaurant mit großen Fenstern. „Die Pizza hier ist echt lecker. Außerdem können wir uns da in Ruhe unterhalten.“
Wir liefen ein kleines stück über den Gehweg. Der Schnee rieselte immer noch leise vom Himmel, und ich schaute den Flocken nach, wie sie auf meinen Jackenärmel fielen und sofort schmolzen. Schließlich erreichten wir das Restaurant. Es war warm dort, und der Duft von frischem Teig und geschmolzenem Käse lag in der Luft.
Diana öffnete die Tür für mich, und ein Glöckchen klingelte leise. Innen war es gemütlich. An den Wänden hingen Bilder von Straßen am Meer, und es roch nach Tomaten und Kräutern. Wir gingen zu einem Tisch am Fenster, und ich setzte mich auf einen Stuhl. Meine Füße baumelten ein Stück über dem Boden. Ich drückte Pandi noch kurz an mich, bevor ich ihn neben mir auf die Bank legte.
Diana und Frau Peters setzten sich ebenfalls, und ich sah hinaus auf die Straße. Die Schneeflocken tanzten weiter, und drinnen war es warm und sicher. Ein bisschen von der Anspannung ließ nach, während ich den Geräuschen des Restaurants lauschte – dem Klirren von Tellern, dem Lachen anderer Leute, dem Summen von Gesprächen.
Eine freundliche Frau kam zu uns an den Tisch und fragte: „Was möchtet ihr bestellen?“
Frau Peters lächelte mich an. „Welche Pizza möchtest du, Florian? Es gibt viele verschiedene Sorten.“
Ich überlegte kurz und sagte leise: „Salami, bitte.“
„Eine gute Wahl“, sagte die Frau freundlich und notierte die Bestellung. Diana und Frau Peters bestellten ebenfalls, und bald war die Frau wieder verschwunden.
Ich schaute aus dem Fenster und spürte, wie sich die Wärme langsam in mir ausbreitete.
Diana unterhielt sich leise mit Frau Peters, während ich weiter nach draußen starrte. Ich hörte nur mit einem Ohr zu, bis ich Annettes Namen hörte.
„Annette war jeden Tag bei uns“, sagte Diana. „Gestern waren wir zusammen im Zoo. Annette hat zu Florian eine Bindung aufgebaut, wie ich sie noch nie in so kurzer Zeit erlebt habe. Florian scheint ihr sehr zu vertrauen.“
Frau Peters sah zu mir und lächelte sanft. „Ist das so, Florian? Magst du Annette?“
Ich hob den Blick und nickte sofort. „Ja“, sagte ich leise. „Wann kommt Annette heute?“
Frau Peters und Diana tauschten ein Lächeln aus. „Das klären wir gleich“, sagte Frau Peters. „Aber du wirst sie heute auf jeden Fall noch sehen.“
Der Gedanke daran ließ ein warmes, freudiges Kribbeln in meinem Bauch entstehen. Ich vermisste Annette schon. Ihre sanfte Stimme, ihre warmen Umarmungen – bei ihr fühlte ich mich sicher.
Frau Peters wandte sich wieder an Diana. „Es freut mich, dass es so gut passt. Von Amtswegen ist schon alles geklärt. Wenn es für Annette passt, können wir jederzeit loslegen.“
Diana seufzte und sah zu mir. „Ich denke, das wird das Beste für ihn sein, auch wenn es mir schwerfallen wird. Wenn ich doch nur jünger wäre.“ Ihre Stimme klang ein wenig traurig. „Es fühlt sich so an wie damals, als Nathanael und Anna-Lena zu uns kamen.“
Frau Peters nickte verständnisvoll. „Ja, das glaube ich dir. Aber ich bin sicher, ihr werdet Kontakt halten. So schätze ich Annette zumindest ein.“
„Ja, das denke ich auch“, antwortete Diana leise.
Frau Peters nahm ihr Handy zur Hand. „Ich rufe Annette jetzt kurz an, um zu fragen, ob sie schon bereit ist.“ Damit stand sie auf und ging mit dem Telefon in der Hand ein paar Schritte weg vom Tisch.
Diana sah mich an. Irgendwie anders als sonst. Ihre Augen wirkten weich, aber auch ein bisschen traurig. Sie lächelte, und ich spürte, dass sie etwas sagen wollte, aber vielleicht nicht wusste, wie.
Ich schaute sie an und fühlte ein seltsames Ziehen in mir. Es war ein komisches Gefühl – ein bisschen wie Freude, weil ich bald bei Annette sein würde, aber auch ein wenig Traurigkeit, weil ich wusste, dass ich Diana verlassen würde.
„Du wirst es gut haben bei Annette“, sagte sie leise. „Und ich bin immer für dich da, egal was passiert.“
Ich nickte und spürte, wie sich Tränen in meinen Augen sammelten. Ich wollte stark sein, aber es war schwer. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also drückte ich einfach Pandi fest an mich und hoffte, dass das alles gut werden würde.
Die Frau von vorhin kam zurück an den Tisch und stellte drei Gläser ab. Eines davon schob sie zu mir. „Einmal Apfelschorle, wie bestellt.“
Ich blinzelte überrascht. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass etwas zu trinken bestellt wurde. Vorsichtig nahm ich das Glas und trank einen Schluck. Die Apfelschorle war kühl und prickelte angenehm auf meiner Zunge. Sie schmeckte süß und erfrischend.
Frau Peters setzte sich wieder zu uns und nahm ebenfalls einen Schluck von ihrem Getränk. Sie sah zu Diana und sagte mit sanfter Stimme: „Annette ist soweit vorbereitet. Ich würde sagen, wir fahren nach dem Essen zu ihr. Und wenn du möchtest…“ Sie schaute mich an. „…kannst du heute das erste Mal bei Annette schlafen.“
Ich riss meine Augen auf. Ein warmes, überwältigendes Gefühl durchströmte mich, und ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Die Freude war so groß, dass es sich anfühlte, als würde mein Herz hüpfen. „Ja!“ sagte ich freudig, fast ein bisschen zu laut. „Kann ich mir dann auch den Bauernhof ansehen?“ fragte ich aufgeregt.
Diana lächelte, aber ich konnte sehen, dass es ihr schwerfiel. Ihre Augen glänzten ein wenig, und sie atmete tief durch. „Bestimmt“, sagte sie leise. „Annette wird dir alles zeigen.“
Ich konnte kaum still sitzen. Der Gedanke, auf Annette’s Bauernhof zu sein und dort schlafen zu dürfen, ließ mein Herz schneller schlagen. Endlich fühlte es sich an, als ob etwas Gutes passierte. Ich konnte es kaum erwarten.
Jetzt kam die Pizza, und der leckere Duft von gebackenem Teig, Tomatensoße und geschmolzenem Käse stieg mir in die Nase. Ich konnte es kaum erwarten, bis das erste Stück auf meinem Teller lag. Der Käse zog lange Fäden, als ich es in die Hand nahm.
Ich wollte sofort hineinbeißen, doch als ich näher kam, spürte ich die Hitze. Vorsichtig pustete ich ein paar Mal darauf, bevor ich einen kleinen Bissen wagte. Es war immer noch warm, aber richtig lecker – der herzhafte Geschmack von Käse und Tomatensoße ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Nach zwei Stücken war ich schon satt. Mein Bauch fühlte sich voll an, aber auf eine gute Art. Diana und Frau Peters aßen noch weiter, während ich an meiner Apfelschorle nippte. Schluck für Schluck trank ich das Glas leer. Das Prickeln auf meiner Zunge war angenehm und half, meine Aufregung ein wenig zu beruhigen.
Trotzdem konnte ich es kaum erwarten, endlich zu Annette zu fahren. Meine Gedanken drehten sich nur darum, sie wiederzusehen und vielleicht sogar den Bauernhof zu erkunden. Aber ich wollte nicht, dass Diana denkt, ich hätte es eilig, von ihr wegzukommen. Also sagte ich nichts und schaute einfach aus dem Fenster.
Draußen schneite es immer noch. Die Flocken tanzten langsam durch die Luft und legten sich wie eine weiße Decke über alles. Ein großes Streufahrzeug rollte gerade über die Straße, seine Räder fuhren auf dem frischen Schnee. Ein Mann auf dem Gehweg schob mit einer seltsamen, breiten Schaufel den Schnee zur Seite. Ich beobachtete fasziniert, wie er den Gehweg freimachte und kleine Schneehaufen an den Rand schob.
Der Schnee wirkte irgendwie beruhigend, wie ein gleichmäßiger Rhythmus, der alles langsamer und leiser machte. Ich lehnte meinen Kopf an die Fensterscheibe und spürte die Kälte von draußen. Es war schön, einfach dazusitzen und zu schauen.
Hinter mir hörte ich Diana und Frau Peters reden, aber ich bekam kaum mit, was sie sagten. Mein Kopf war voller Bilder von Annette, dem Bauernhof und der Hoffnung, dass ich vielleicht wirklich da bleiben könnte.
„Florian, wir wollen los“, riss mich Dianas Stimme aus meinen Gedanken. Ich blinzelte und sah sie an. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Diana und Frau Peters schon fertig waren. Meine Gedanken waren irgendwo zwischen dem Schnee und der Vorstellung von Annette und dem Bauernhof hängen geblieben.
Schnell stand ich auf. Diana half mir in meine Jacke und zog den Reißverschluss zu. Die warme Jacke umhüllte mich, und ich drückte Pandi fest an mich. Zusammen gingen wir nach draußen, wo uns die kalte Luft empfing. Der Schnee fiel immer noch leise, und meine Schuhe knirschten bei jedem Schritt auf der weißen Schicht.
Frau Peters öffnete die Tür ihres Autos. Ich kletterte auf die Rückbank und setzte mich auf die Sitzerhöhung. Hier hinten fühlte ich mich sicherer. Mit beiden Händen zog ich den Gurt und klickte ihn fest. Es war ein gutes Gefühl, etwas selbst zu schaffen, ohne Hilfe. Ich schaute zu Diana, die mir ein aufmunterndes Lächeln schenkte, bevor sie die Tür schloss.
Während das Auto startete und wir losfuhren, schaute ich aus dem Fenster. Die Schneeflocken wirbelten vorbei, und die Welt draußen sah friedlich aus. Mein Herz schlug schneller vor Aufregung – bald würde ich Annette sehen.
Während das Auto durch die verschneiten Straßen fuhr, schaute ich zu Diana, die auf dem Beifahrersitz saß. Meine Stimme war leise, aber die Frage brannte mir auf der Seele: „Kommt Nathanael und Leni auch mit zu Annette?“
Diana drehte sich leicht zu mir um und lächelte sanft. „Nein, Florian, die beiden bleiben bei mir. Aber ihr könnt uns bestimmt besuchen kommen oder wir euch. Nathanael und Leni würden einen Ausflug auf den Bauernhof sicher toll finden.“
Der Gedanke, dass die beiden nicht mitkommen würden, machte mich ein bisschen traurig. Es wäre schön gewesen, sie dabeizuhaben. Aber Diana hatte recht – sie würden uns bestimmt mal besuchen kommen. Das tröstete mich ein wenig.
Nach einer Weile fragte ich vorsichtig: „Kann ich dann morgen trotzdem in die Schule?“
Diana zögerte kurz und sagte dann: „Das weiß ich nicht, ob das morgen schon klappt, aber auf jeden Fall noch diese Woche.“
Frau Peters drehte sich leicht zu mir um und fügte hinzu: „Ich denke schon, dass du morgen wieder in die Schule kannst. Ich würde dich sogar hinbringen, falls Annette keine Zeit dafür hat. Ich muss außerdem noch mit deiner Lehrerin und der Direktorin sprechen.“
Annette:
Wir hatten den heutigen Vormittag genutzt, um uns um den Hof zu kümmern. Erik hatte heute und morgen frei, also lag die Arbeit bei Markus und mir. Am Morgen hatte ich mich um die Milchabgabe gekümmert. Der Milchtankwagen kommt alle zwei Tage, und heute war wieder Abholung. Markus hatte das Futter für die Tiere reingefahren, und ich hatte es in den Ställen verteilt. Wir waren ein eingespieltes Team. Zum Glück mussten die Felder im Moment nicht bearbeitet werden, also konnten wir uns auf die Tiere konzentrieren.
Elfi kümmerte sich wie immer liebevoll um unsere älteren Tiere. Sie hat ein unglaubliches Auge dafür, wenn etwas nicht stimmt, und erkennt Probleme rechtzeitig. Danach ging ich zu unseren Hühnern. Die halten wir nicht für den Verkauf, sondern nur für unseren Eigenbedarf und für die Abholautomaten. In acht Orten rund um unseren Hof stehen Automaten, in denen wir einige unserer Erzeugnisse anbieten. Das war Markus’ Idee, und sie hat sich bewährt. Im Sommer hielten immer wieder Kunden direkt bei uns am Hof an, um frische Produkte zu kaufen.
Während ich gerade in der Küche das Mittagessen vorbereitete, klingelte plötzlich das Festnetztelefon. Mein Herz schlug schneller, als ich die Nummer erkannte – Elke Peters vom Jugendamt. Ich wischte mir die Hände an einem Tuch ab und nahm sofort ab.
„Hallo Elke, ist alles gut bei Florian?“ fragte ich, meine Stimme zitterte leicht. Ich hatte mich nach dem Mittagessen fertigmachen wollen, um zu ihm zu fahren.
„Ja, Florian geht es soweit gut“, antwortete Elke beruhigend, „auch wenn die Arztbesuche heute einige nicht so schöne Dinge ans Licht gebracht haben.“
Ich spürte, wie sich mein Körper anspannte. Meine Hand krampfte sich um den Telefonhörer. „Was wurde denn bei Florian gefunden?“ fragte ich besorgt. Die Vorstellung, dass ihm etwas fehlte, schnürte mir die Kehle zu. Ich wollte sofort losfahren, um bei ihm zu sein.
„Keine Sorge“, sagte Elke sanft, „nichts, was im Moment akut ist. Aber er hat in der Vergangenheit Verletzungen davongetragen, die ihn vermutlich ein Leben lang begleiten werden. Es scheint, dass er zu Hause wesentlich mehr körperliche Misshandlungen erfahren hat, als wir angekommen haben. Aber darüber reden wir später.“
Ich schluckte schwer. Mir war klar gewesen, dass Florian einiges durchgemacht hatte, sonst wäre er jetzt kein Pflegekind. Aber zu hören, dass es so schlimm gewesen war, traf mich tief. Warum musste ein Kind so etwas erleben?
„Ich fahre nach dem Mittagessen zu ihm“, sagte ich mit belegter Stimme. „So hatte ich es mit Diana abgesprochen.“
„Deshalb rufe ich an“, erklärte Elke. „Wir essen gleich eine Kleinigkeit in Hof, und anschließend könnten wir mit Florian zu euch kommen – sofern es für euch passt. Falls er möchte, könnte er dann gleich bei euch bleiben.“
Mir blieb kurz die Luft weg. So schnell? Ich hatte gedacht, dass es noch ein paar Tage dauern würde. Aber dann dachte ich an gestern, an Markus’ Einsatz, um Florians Zimmer fertig zu bekommen. Wir hatten alles vorbereitet – bis auf einen Kindersitz, aber das ließe sich schnell regeln. Sonst war alles bereit. Hoffentlich.
Ich holte tief Luft. „Von uns aus sehr gerne“, antwortete ich, bemüht, meine Aufregung zu verbergen.
„Super“, sagte Elke. „Wir sind in etwa anderthalb Stunden da.“
„Danke, Elke“, sagte ich leise, verabschiedete mich und legte auf. Ich blieb einen Moment stehen, atmete tief durch und ließ die Nachricht sacken. Florian würde heute zu uns kommen.
Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, während mir Tränen in die Augen stiegen. Freude, Erleichterung, aber auch ein tiefes Mitgefühl für diesen kleinen Jungen, der so viel durchgemacht hatte. Ich wischte mir über die Augen und machte mich auf den Weg zu Markus. Er musste die Neuigkeiten erfahren. Unser Leben würde sich heute verändern – und ich hoffte, dass es für Florian ein neues, besseres Kapitel sein würde.
Markus war in der großen Halle, wo er sich im Winter immer um die Maschinen kümmerte. Wir hatten zwei Traktoren, mehrere Geräte für die Feldbearbeitung und diverse Anhänger. Natürlich war noch nicht alles abbezahlt, aber wir konnten uns nicht beschweren.
Markus war ein wahrer Alleskönner. Egal ob Reparaturen oder Wartungen – er machte alles selbst oder holte sich Rat von Leuten, die es konnten. Ich fand ihn beim Ölwechsel am alten Traktor. Der war schon über zwanzig Jahre alt und die letzte Anschaffung meiner Großeltern. Er hatte seine Macken, aber Markus hielt daran fest: „Den behalten wir, bis er auseinanderfällt.“ Vor fünf Jahren hatten wir sicherheitshalber einen neuen Traktor gekauft, um im Notfall nicht ohne dazustehen. Ich fuhr lieber den neuen – er war leichter zu bedienen und hatte eine Klimaanlage für die heißen Sommertage.
Ich trat neben Markus, der gerade konzentriert unter der Haube hantierte. Ohne aufzusehen sagte er: „Ich komme gleich zum Essen.“
Ich lächelte und antwortete: „Deswegen bin ich nicht hier.“
Jetzt hatte ich seine volle Aufmerksamkeit. Er richtete sich auf, schaute mich fragend an. Ich atmete tief durch und sagte mit einem Lächeln: „Florian ist in anderthalb Stunden hier. Wir sind ab heute wieder zu dritt im Haus.“
Markus’ Gesicht hellte sich auf, und ohne zu zögern zog er mich in eine feste Umarmung. Ich spürte, wie auch er sich freute. Mein Herz wurde warm bei seinem ehrlichen Lächeln, auch wenn ich wusste, dass ich jetzt bestimmt Traktoröl an meiner Kleidung hatte.
„Das sind wunderbare Neuigkeiten“, murmelte er.
Ich nickte und drückte ihn noch einmal. Es fühlte sich gut an zu wissen, dass wir gemeinsam diesen neuen Abschnitt beginnen würden.
„Und das Essen ist auch gleich fertig“, fuhr ich mit einem breiten Grinsen fort. Markus nickte und sagte: „Ich bin in 15 Minuten drin.“ Ich wusste, dass seine „15 Minuten“ in Wahrheit eher eine halbe Stunde bedeuteten, aber daran hatte ich mich längst gewöhnt.
Auf dem Weg zurück in die Küche begegnete mir Elfi. Sie musterte meine ölverschmierte Kleidung mit einem schmunzelnden Blick. „Na, hast du versucht, den Traktor zu umarmen, oder hat Markus dich als Ersatzteil verwendet?“
Ich lachte und schüttelte den Kopf. „Nein, Markus musste nur kurz seiner Freude Ausdruck verleihen.“
Elfi hob eine Augenbraue. „Freude? Na, wenn das seine Art ist, sich zu freuen, ziehe ich mir beim nächsten Mal eine Schutzbrille auf!“
Ich konnte nicht anders, als wieder zu lachen. „Florian kommt heute zu uns. Er wird bei uns einziehen.“
Elfi hielt kurz inne, und ein warmes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Ach, Annette, das sind ja wunderbare Nachrichten. Du strahlst ja wie ein frisch polierter Traktor!“
Ich grinste. „Na, hoffentlich läuft bei mir nicht genauso schnell das Öl aus!“
Elfi lachte herzlich und tätschelte mir die Schulter. „Ach, solange du nicht anfängst zu quietschen, kriegen wir das schon hin.“
Ihr Humor tat gut. Mit diesem kleinen Scherz im Rücken fühlte ich mich gleich ein bisschen entspannter. Jetzt konnte ich mich voll und ganz darauf freuen, Florian endlich willkommen zu heißen.
Ich nahm eine Gemüsesuppe aus dem Gefrierschrank und stellte sie zum Auftauen auf den Herd. Es war mir zur Gewohnheit geworden, immer auf Vorrat zu kochen und einzufrieren. Das sparte jede Menge Zeit, besonders an Tagen wie heute, wenn alles drunter und drüber ging.
Während die Suppe langsam warm wurde, breitete sich der vertraute Duft von Gemüse und Kräutern in der Küche aus. Es war beruhigend zu wissen, dass ich für solche Momente vorbereitet war. Im Sommer hatten wir durch die Photovoltaikanlage auf der großen Halle meist genug Strom, um den Gefrierschrank ohne schlechtes Gewissen laufen zu lassen.
Ich rührte in der Suppe und stellte mir vor, wie bald ein kleiner Junge mit am Tisch sitzen würde. Der Gedanke erfüllte mich mit Wärme und einer Freude, die ich schon lange nicht mehr gespürt hatte. Mein Leben würde sich wieder wie das einer richtigen Mama anfühlen – mit all den Aufgaben und Herausforderungen, die dazu gehören, auch denjenigen, an die ich bisher noch gar nicht gedacht hatte. Doch anstatt mich zu erschrecken, machte es mich glücklich. Die Vorstellung, für Florian da zu sein, ihm ein Zuhause zu geben und gemeinsam den Alltag zu meistern, ließ mein Herz höher schlagen.
Nach dem Essen ging ich schnell noch einmal duschen. Ich wollte heute nicht nach Stall riechen. In Zukunft würde sich das wohl nicht immer vermeiden lassen – es gehörte einfach zum Leben auf dem Hof dazu. Aber heute nicht. Heute wollte ich frisch und sauber sein, wenn Florian ankommt.
Ich freute mich darauf, ihm sein Zimmer zu zeigen, mit ihm über den Hof zu gehen und ihm alles zu erklären. Es war ein besonderes Gefühl, ihm sein neues Zuhause zu zeigen, einen Ort, an dem er hoffentlich Sicherheit und Geborgenheit finden würde. Die Vorstellung, seine staunenden Augen zu sehen, wenn er all die Tiere und die weiten Flächen entdeckte, ließ mein Herz vor Freude hüpfen.
Florian:
Ich saß auf der Rückbank und schaute aus dem Fenster. Der Schnee fiel immer noch in dichten Flocken vom Himmel und legte sich wie eine weiche Decke über alles. Die Straßen in der Stadt waren grau und nass, der Schnee wurde sofort zu Matsch, wenn Autos darüber fuhren. Überall waren Häuser, Ampeln und Menschen mit dicken Jacken, die hastig durch die Kälte liefen.
Je weiter wir aus der Stadt heraus fuhren, desto ruhiger wurde es. Die Gebäude wurden weniger, und bald sah ich nur noch schneebedeckte Felder und Wiesen. Die Straßen waren schmaler, und die Bäume am Straßenrand waren schwer beladen mit Schnee. Es sah aus, als hätte jemand Puderzucker darüber gestreut.
Die Welt draußen wurde immer weißer und stiller. Der Himmel war grau, und alles wirkte gedämpft und friedlich. Es war, als ob die Zeit langsamer verging. Manchmal sah ich einen Bauernhof oder ein kleines Haus mit Licht in den Fenstern, und ich fragte mich, ob dort Kinder lebten. Kinder, die vielleicht in ihrem warmen Zuhause spielten.
Ich spürte, wie meine Augen schwerer wurden. Der gleichmäßige Rhythmus des Autos, das sanfte Schaukeln und das leise Summen des Motors beruhigten mich. Ich drückte Pandi fest an mich und spürte, wie meine Finger sich um ihn krallten. Ohne es zu merken, wanderte mein Daumen in meinen Mund. Das Nuckeln half mir, die Aufregung zu verdrängen. Ich fühlte mich ein kleines bisschen sicherer, und die Angst löste sich langsam auf.
Der Schnee draußen wirbelte weiter, und die Felder und Bäume verschwammen vor meinen Augen. Langsam glitten meine Lider zu, und alles wurde weich und warm. Die Stimmen von Diana und Frau Peters wurden leiser und verschwanden schließlich ganz.
„Florian… Florian…“ Eine sanfte Stimme und ein leichtes Rütteln holten mich aus meinem Schlaf. Mühsam öffnete ich die Augen und sah direkt in Annettes Gesicht. Sie lächelte mich an, und in ihren Augen lag so viel Wärme, dass mein Herz ein kleines bisschen hüpfte.
„Hallo Florian, willkommen zu Hause“, sagte sie leise.
Sie schnallte mich ab und hob mich aus dem Auto auf ihren Arm. Ihre Umarmung war fest und warm, und es fühlte sich an, als wäre ich genau da, wo ich hingehörte. Die kalte Luft schlug mir entgegen, aber ich spürte sie kaum. Annette hielt mich sicher, und das war alles, was ich in diesem Moment brauchte.
Ihre Nähe beruhigte mich augenblicklich. Während sie mir sanft über den Rücken streichelte, flüsterte sie: „Du bist jetzt bei uns – du bist Zuhause.“
Ich lehnte mich an ihre Schulter, meine Wange gegen ihren weichen Schal, und ließ meine Augen wieder zufallen. Die Müdigkeit war noch immer da, schwer und drückend, als wäre ich gerade erst eingeschlafen. Alles um mich herum fühlte sich warm und geborgen an.
Ein vertrauter, angenehmer Duft umhüllte mich. Es roch nach Annette – ein sanfter, warmer Duft, der mir das Gefühl gab, sicher zu sein. Da war noch etwas anderes, ein Geruch, den ich nicht kannte, aber der irgendwie beruhigend war. Vielleicht roch es nach Holz oder nach dem Bauernhof, vielleicht war es einfach der Geruch von einem richtigen Zuhause.
In ihren Armen fühlte ich mich so wohl, dass ich die Welt um mich herum einfach aus blendete. Annette trug mich hinein, und ich ließ alles geschehen, ohne nachzudenken. Es war, als würde mit jedem Schritt, den sie machte, ein kleiner Teil von mir zur Ruhe kommen.
Annette setzte sich mit mir im Haus hin, ohne unsere Jacken auszuziehen. Sie ließ mich einfach auf ihrem Schoß sitzen, hielt mich fest und streichelte mir sanft den Rücken. Mein Kopf ruhte auf ihrer Schulter, und ich konnte ihren Herzschlag hören. Es war ein gleichmäßiges, beruhigendes Pochen, das mir Sicherheit gab.
Die Wärme ihrer Arme umhüllte mich, und für einen Moment fühlte es sich an, als wäre die Welt still und friedlich. Ich spürte ihren Atem in meinen Haaren und schloss die Augen. Alles andere – die Müdigkeit, die Angst, die Aufregung – verblasste, bis nur noch dieses Gefühl blieb: gehalten, geborgen und gewollt zu sein.
Annette sagte nichts, aber ihre Nähe sprach für sich. Ihre Hände strichen immer wieder sanft über meinen Rücken, und es war, als würden sie jede Unsicherheit von mir wegwischen. Ich wollte, dass dieser Moment niemals endet. Ein Moment, in dem alles richtig war, ein Moment, in dem ich nicht allein war.
Ich atmete tief ein und seufzte leise. Annette zog mich noch ein kleines Stück näher an sich, und ich spürte, wie ich mich entspannte. Hier, in ihren Armen, fühlte ich mich endlich angekommen.
Leider war dieser Moment viel zu schnell vorbei. Annette sagte mit sanfter Stimme: „Komm, lass uns erst mal deine Sachen ausziehen, nicht dass dir noch zu warm wird.“
Sie stand langsam auf, und ich hob meinen Kopf von ihrer Schulter. Ich schaute mich um und sah mich zum ersten Mal richtig im Wohnzimmer um. Es war groß und hell, und die vielen Fenster ließen das Licht von draußen herein, obwohl es durch den Schnee ein bisschen trüb war. Eine große Glastür führte nach draußen in den Garten, wo ich den Schnee auf dem Boden liegen sah.
In der Mitte des Zimmers stand ein großer Esstisch aus Holz mit mehreren Stühlen drumherum. In einer anderen Ecke war eine Sitzgruppe mit einer großen und einer kleinen Couch, beide sahen gemütlich aus. Ein kleiner Tisch stand dazwischen, und daneben war ein Sessel mit einer Leselampe. Dort hatten wir gerade gesessen. Der Sessel wirkte weich und einladend, wie ein Platz, an dem man Geschichten hören konnte.
An den Wänden hingen viele Bilder. Auf einigen sah ich Annette und Markus zusammen. Mein Herz schlug etwas schneller, als ich Markus sah – ich hatte immer noch ein bisschen Angst vor ihm, auch wenn er nett zu mir war. Auf anderen Bildern waren ein Junge und zwei größere Jungs, die sich umarmten. Sie sahen glücklich aus. Es war, als gehörte jeder hier zusammen. In den Fenstern standen ein paar grüne Pflanzen, die das Zimmer noch wohnlicher machten.
Mir fiel auf, dass es hier keinen Fernseher gab. Es fühlte sich trotzdem gemütlich an, vielleicht sogar gerade deswegen. Diana und Frau Peters hatten es sich auf der großen Couch bequem gemacht und schauten mir und Annette lächelnd zu.
Annette schob mich sanft in Richtung Tür. „Ich zeig dir, wo du deine Sachen hinhängen kannst“, sagte sie liebevoll.
Wir gingen in den Flur. Der Boden war aus hellen Fliesen, die leicht glänzten. Die Wände waren bis zur Hälfte mit hellem Holz verkleidet, das wie eine warme, gemütliche Hülle aussah. Darüber war eine gelbe Tapete, die den Flur freundlich und warm wirken ließ, als würde die Sonne drinnen scheinen. Es fühlte sich ganz anders an als die kalten, grauen Flure in meinem alten Zuhause.
Gleich neben der Eingangstür führte eine Treppe nach oben, die Stufen waren aus Holz. Gegenüber der Treppe war die Garderobe. Hier hingen schon ein paar Jacken von Annette und Markus. Annette führte mich hin und half mir, meine Jacke auszuziehen. Sie hängte sie vorsichtig auf einen kleinen Haken, der perfekt für meine Größe war.
Ich drückte Pandi fest an mich und schaute mich noch einmal um. Alles hier war hell, warm und roch nach Holz und etwas Vertrautem, das ich nicht benennen konnte.
„Hier kannst du deine Jacke hinhängen, und deine Schuhe stellst du einfach hier in das Regal“, sagte Annette freundlich. „Wenn du mal richtig schmutzige Schuhe hast, zieh sie bitte schon im Vorraum aus.“
Ich nickte und zog meine Schuhe aus. Der Boden fühlte sich warm an, und ich schaute überrascht zu Annette hoch. „Der Fußboden ist ganz warm!“ sagte ich staunend.
Annette lächelte. „Ja, das ist eine Fußbodenheizung. Aber zieh trotzdem Hausschuhe an.“ Sie stellte mir ein Paar Hausschuhe hin. „Das sind jetzt deine. Ich hoffe, sie passen.“
Ich schlüpfte hinein. Sie passten, vielleicht ein kleines bisschen zu groß, aber das störte mich nicht. Annette nickte zufrieden. „Super! Komm, ich zeige dir den Rest von deinem neuen Zuhause.“
Mein Zuhause. Das klang so merkwürdig in meinen Ohren. War das jetzt wirklich mein Zuhause? Für immer? Die Gedanken wirbelten in meinem Kopf, aber ich traute mich nicht, die Frage laut zu stellen. Annette schien mein Zögern zu bemerken. Sie nahm sanft meine Hand und sagte: „Komm, nicht dass Diana und Elke zu lange alleine warten müssen.“
Neben der Garderobe öffnete Annette eine Tür. „Das ist das Gäste-WC.“
Ich sah hinein. Der Raum war klein, mit weißen Fliesen an den Wänden und einem Waschbecken. Weit oben war ein kleines Fenster, durch das ein bisschen Licht hereinfiel. Es roch nach einer frischen Seife, irgendwie sauber und angenehm.
„Das kannst du natürlich auch benutzen“, erklärte Annette, „aber unser richtiges Badezimmer ist oben.“
Wir gingen weiter. Am Wohnzimmer liefen wir vorbei, und Annette sagte: „Das Wohnzimmer hast du ja schon gesehen.“ Dann öffnete sie eine weitere Tür und führte mich in einen neuen Raum.
Es war eine große Küche. Die Schränke waren aus hellem Holz, und es sah alles ordentlich und sauber aus. Durch die vielen Fenster war es schön hell. Ein Tisch stand in der Mitte, aber er war nicht so groß wie der im Wohnzimmer. Es sah gemütlich aus, so, als würde man hier oft zusammen sitzen.
An der Wand stand ein riesiger Kühlschrank. Daneben war ein Herd, der in einem der Schränke eingebaut war, viel höher als ich es kannte. Das Kochfeld war groß und glänzte. Auf der Arbeitsplatte standen ein paar Küchenutensilien, und alles wirkte einladend.
„Das ist unsere Küche“, erklärte Annette. „Wenn du Hunger hast, kannst du jederzeit an den Kühlschrank und dir etwas zu essen nehmen. Aber bitte iss in der Küche, ja?“
Ich nickte.
„Manchmal essen wir auch im Wohnzimmer“, fügte sie hinzu. „Das machen wir aber nur, wenn wir zu viele für die Küche sind, okay?“
Wieder nickte ich.
„Das Wasser, das hier aus der Leitung kommt, kannst du bedenkenlos trinken“, sagte Annette weiter. „Du musst aber nicht. Wir haben auch immer Wasser mit Sprudel oder Saft im Haus. Und wenn du magst, können wir ab und zu auch mal eine Limonade kaufen.“
Ich nickte noch einmal. Es war so viel Neues auf einmal, aber Annette erklärte alles so ruhig und freundlich, dass ich mich ein bisschen besser fühlte. Dieses Zuhause war anders, vielleicht sogar ein bisschen besser, als ich es mir vorgestellt hatte. – was dachte ich da bloß? Ich hatte doch gar keine wirklichen Erwartungen. Es war nicht einfach nur „vielleicht ein bisschen besser“. Es war unglaublich. Alles hier war warm, freundlich und einladend. Ich konnte kaum fassen, dass dies jetzt wirklich mein Zuhause sein sollte. Dass ich hierhergehören durfte. Es fühlte sich eigentlich zu schön an, um wahr zu sein.
Dann schob Annette mich zur nächsten Tür, die direkt gegenüberlag. Sie öffnete sie, und wir traten in einen Raum, der nach frischer Wäsche und Seife roch. Ich schaute mich neugierig um.
Links standen eine Waschmaschine und ein Trockner nebeneinander, beide summten leise vor sich hin. Rechts von uns war ein Regal, das voll mit Vorräten war: Gläser mit eingelegtem Gemüse und Obst, Dosen mit verschiedenen Lebensmitteln, und daneben stapelten sich Getränkekisten mit Wasser und Saft. Es sah aus wie ein kleiner Laden, alles ordentlich und übersichtlich aufgereiht.
In der Ecke des Raumes stand eine große weiße Gefriertruhe. Sie sah riesig aus, als könnten da ganz viele Sachen auf einmal hineinpassen. Ich fragte mich, was wohl alles darin war.
Eine Tür am Ende des Raumes führte vermutlich nach draußen, vielleicht in den Garten oder auf den Hof. Neben der Tür war ein weiteres Regal mit Waschmittel, Weichspüler, Toilettenpapier, Seifen und verschiedenen Reinigungsmitteln. In einem Fach ganz unten fiel mir etwas auf: Dort standen bunte Kinderseife und eine Packung Windeln sowie Hochziehwindeln. Mein Gesicht wurde ein bisschen warm, als ich die Windeln sah, aber Annette lächelte nur und zeigte auf das Fach.
„Das hier ist übrigens für dich reserviert“, erklärte sie freundlich. „Hier findest du alles, was du für deine Körperpflege brauchst. Falls du mal etwas vermisst, sag mir einfach Bescheid. Du kannst dir aus den anderen Fächern auch etwas nehmen, aber bitte frag uns, bevor du Reinigungsmittel benutzt, ja?“
Ich nickte. Es fühlte sich gut an, dass sie mir alles so genau erklärte, ohne dass ich mich komisch fühlte.
Annette deutete auf einen Wäschekorb in der Ecke. „Hier kannst du deine schmutzige Wäsche reinwerfen. Wir haben aber auch einen Korb oben im Badezimmer, damit du nicht extra runterlaufen musst, okay?“
„Okay“, sagte ich leise.
Sie führte mich weiter zur nächsten Tür, die wir nur kurz öffneten. Es war ein Arbeitszimmer. Ein großer Schreibtisch stand in der Mitte, darauf ein Computer und viele Papiere. An den Wänden hingen Regale mit Akten und Büchern. Es roch leicht nach Papier und Holz.
„Das ist das Arbeitszimmer“, erklärte Annette. „Hier kümmert sich Markus um alles, was mit dem Bauernhof zu tun hat. Du darfst jederzeit hereinkommen, aber bitte geh nicht an die Schränke und Schubladen. Wenn du etwas brauchst, frag uns einfach.“
Ich nickte wieder. Es war so viel Neues auf einmal, aber Annette erklärte alles so geduldig, dass ich mich ein bisschen wohler fühlte.
„So, jetzt lass uns mal nach oben schauen“, sagte Annette freundlich. Wir gingen wieder am Wohnzimmer vorbei. „Unsere Hausführung ist gleich zu Ende“, fügte sie mit einem erheiterten Ton hinzu.
Die Treppe knarzte leicht, als wir hinaufstiegen. Oben angekommen, führte mich Annette zu einer Tür gleich neben der Treppe. Sie öffnete sie und trat mit mir hinein.
Das Zimmer war groß und hell. In der Mitte stand ein großes Bett mit einer dicken, weichen Decke. Auf den Nachttischen rechts und links vom Bett standen kleine Lampen. An den Wänden hingen mehrere Bilder. Ich erkannte den Jungen wieder, der auch auf den Fotos im Wohnzimmer war. Auf einem der Bilder standen Annette, Markus und der Junge zusammen am Strand, das Meer breitete sich hinter ihnen aus. Sie sahen glücklich aus, als ob sie einen wunderschönen Tag miteinander verbracht hätten.
Neben dem Bett war noch eine weitere Tür, die wohl zu einem anderen Raum oder vielleicht zu einem Badezimmer führte.
Annette sah mich an und sagte: „Das ist unser Schlafzimmer. Wir schließen hier im Haus keine Türen zu. Wenn du hier rein möchtest, klopfe bitte vorher an.“
Ich runzelte die Stirn und fragte: „Warum muss ich am Schlafzimmer anklopfen? Muss ich das bei den anderen Zimmern auch?“ fragte ich verwundert.
Annette lächelte und antwortete: „Nein, nur beim Schlafzimmer und beim Badezimmer.“ Sie schien kurz nachzudenken, dann fügte sie sanft hinzu: „Weil man das bei Schlafzimmern einfach so macht. Und keine Sorge, ich werde auch bei dir anklopfen, wenn ich unangekündigt hereinkomme, einverstanden?“
Ich nickte. Das klang irgendwie fair.
Mein Blick wanderte zu einem der Bilder an der Wand, und ich zeigte darauf. „Wer ist der Junge da auf dem Bild?“
Annette lächelte stolz. „Das ist Sebastian, unser großer Sohn. Er studiert gerade in München. Man könnte sagen, das ist dein großer Bruder. Er kommt uns am Wochenende besuchen.“
Meine Gedanken fingen an zu rasen. Sebastian, mein großer Bruder? Ob er wohl nett war? Was, wenn er gar nicht wollte, dass ich hier wohne? Was, wenn er dachte, ich nehme ihm seine Mama weg?
Der Gedanke machte mich traurig und unsicher. Ich schaute auf meine Füße und wurde still. Annette schien zu spüren, was in mir vorging. Sie legte mir sanft eine Hand auf die Schulter und sagte beruhigend: „Du wirst sehen, Sebastian freut sich darauf, dich kennenzulernen.“
Ich nickte, auch wenn die Zweifel in meinem Kopf noch nicht ganz verschwunden waren.
Als Nächstes gingen wir wieder auf den Flur, und Annette öffnete die Tür zum Zimmer direkt nebenan. Wir traten hinein, und ich schaute mich neugierig um. Das Zimmer war hell und hatte große Fenster, durch die viel Licht hereinfiel.
In der Ecke stand ein großer Schreibtisch, auf dem ein gerahmtes Bild stand. Ich trat näher und sah mir das Bild genauer an. Darauf war ein anderer Jugendlicher zu sehen, der aussah wie der Junge unten auf dem Bild im Wohnzimmer. Ich schaute zu Annette hoch und fragte: „Wer ist der Junge auf dem Bild?“
Annette lächelte. „Das ist Pierre, der Freund von Sebastian.“
Ich staunte und ließ meinen Blick weiter durch das Zimmer wandern. An der Wand stand ein großes Bett, das ordentlich gemacht war. Auf der anderen Seite des Raumes stand eine große Glasvitrine. Ich ging ein Stück näher heran und konnte es kaum glauben: In der Vitrine waren ganz viele Lego-Bauwerke. Manche davon waren riesig, mit kleinen Türmen, Autos und sogar Figuren. Ich konnte meinen Blick kaum davon abwenden. So viele Steine, so viele Details – sowas hatte ich noch nie gesehen.
Ich fragte mich plötzlich, ob ich wohl auch ein Bild von Paul haben sollte. Paul war doch mein bester Freund. Und ob Paul vielleicht auch ein Bild von mir in sein Zimmer stellen würde? Der Gedanke ließ etwas Warmes in mir aufsteigen, aber auch ein komisches Gefühl, das ich nicht richtig einordnen konnte.
Annette sagte ruhig: „Das ist Sebastians Zimmer. Er kommt ab und zu zu Besuch, wenn er nicht in München ist. Bitte geh hier nicht rein, ohne zu fragen, ja? Das ist wirklich nicht böse gemeint. Aber das ist sein Rückzugsort, sein Schlafzimmer. Wenn er es dir später erlaubt, ist das natürlich etwas anderes. Aber bitte nicht einfach so reingehen.“
Ich nickte. „Okay.“
Trotzdem spürte ich plötzlich ein beklemmendes Gefühl in meiner Brust. Es war, als würde sich etwas Schweres in mir breitmachen, auch wenn ich nicht sagen konnte, warum. Vielleicht war es, weil ich hier wieder daran dachte, dass ich immer noch nicht wusste, ob Sebastian mich überhaupt mögen würde. Oder ob ich hier überhaupt wirklich hingehörte.
Annette sah mich kurz an und legte mir wieder sanft die Hand auf die Schulter. „Alles gut, Florian?“, fragte sie leise.
Ich nickte, obwohl ich nicht sicher war, ob wirklich alles gut war.
„So, lass uns das Badezimmer ansehen“, sagte Annette und führte mich zur Tür am Ende des Flures. Sie öffnete sie, und ich trat hinter ihr in einen großen Raum.
Das Badezimmer war viel größer, als ich es mir vorgestellt hatte. Es war hell, weil durch die großen Fenster ganz viel Licht hereinkam. Ich lief vorsichtig weiter und schaute nach draußen. Von hier aus konnte man auf ein riesiges, schneebedecktes Feld sehen. Es sah aus, als würde es kein Ende nehmen, so weit reichte das Weiß. Ich blieb kurz stehen und starrte fasziniert hinaus, bevor ich mich weiter umschaute.
In einer Ecke stand eine große Badewanne, die aussah, als könnte man darin richtig gemütlich baden. Daneben war eine Dusche mit einer gläsernen Tür. Sie glänzte sauber und neu. An der Wand waren zwei Waschbecken nebeneinander. Davor stand ein kleiner Hocker. Annette zeigte darauf und sagte: „Der Hocker ist für dich. Da kannst du dich drauf stellen, damit du besser an das Waschbecken rankommst.“
Gleich neben der Tür stand ein großer Eimer. „In diesen Eimer kannst du deine Windeln entsorgen“, erklärte Annette ruhig. Ich nickte leicht, auch wenn es mir ein bisschen unangenehm war.
An der Seite des Raumes war ein großer Schrank. Die Tür war offen, und ich konnte viele Handtücher in verschiedenen Farben sehen, alle ordentlich aufgestapelt. Annette zeigte auf einen der Handtuchhalter an der Wand. „Der unterste von den Handtuchhaltern ist deiner, Florian. Hier darfst du jederzeit alles benutzen – das Waschbecken, die Badewanne oder die Dusche.“
Ich sah mich weiter um. Das WC war an der anderen Seite des Raumes, und neben dem Fenster standen ein paar kleine Pflanzen. Es war wirklich ein schönes Badezimmer.
Annette fügte noch hinzu: „Auch hier schließen wir die Tür nicht zu. Aber das Anklopfen, bevor man hereinkommt, ist wichtig. Das machen wir alle so.“
Ich nickte wieder. „Okay.“
Eigentlich kannte ich das schon. Zuhause durfte ich auch nie abschließen. Ich glaube, es gab gar keine Schlüssel für die Türen. Hier fühlte sich das trotzdem anders an. Annette sagte es so freundlich, ohne Druck, und es war, als wollte sie sicherstellen, dass ich mich hier wohlfühlen konnte.
„So, und jetzt zum Schluss schauen wir uns dein Zimmer an, okay?“ Annette lächelte dabei, als würde sie sich richtig darauf freuen.
Wir liefen zurück den Flur entlang. Mein Zimmer war direkt gegenüber von Annette und Markus’ Schlafzimmer. „Mach ruhig die Tür auf und schau es dir an“, sagte sie sanft.
Ich öffnete die Tür vorsichtig und trat einen Schritt hinein. Der Anblick ließ mich kurz innehalten. Ich drückte Pandi ganz fest an mich und schaute mich um.
In der Mitte des Fußbodens lag ein großer Teppich. Er hatte ganz viele Straßen und Häuser darauf, wie eine kleine Stadt aus Bildern. Man konnte bestimmt richtig gut mit Autos darauf spielen. An der Wand gegenüber stand ein Bett. Der Bettbezug hatte lauter bunte Autos darauf – rote, blaue, grüne. Es sah so gemütlich aus.
Ein Schreibtisch stand am Fenster, auf dem eine kleine Lampe war. Das Zimmer war richtig hell, weil so viel Licht durch das Fenster hereinkam. Ich konnte von hier aus den Hof vor dem Haus sehen, der immer noch von Schnee bedeckt war.
An einer anderen Wand stand ein großer Schrank. Daneben war noch ein niedrigerer Schrank mit ganz vielen Schubladen. Was mir aber am meisten ins Auge fiel, war das Regal. In einem Fach standen ein paar Bücher, aber daneben war eine Kiste, und als ich genauer hinsah, musste ich zweimal hinsehen. Die Kiste war voll mit Autos – ganz vielen Autos. Darunter standen sogar zwei riesige Traktoren mit Anhängern und eine große Feuerwehr. Es sah aus wie ein kleiner Schatz. Ein paar leere Kisten waren ebenfalls im Regal.
„Ich hoffe, es gefällt dir“, sagte Annette, die mich die ganze Zeit beobachtete. „Wir können das Zimmer später noch in deiner Wunschfarbe streichen, aber das wollten wir dir überlassen.“
Ich schaute zu den leeren Kisten im Regal. Annette bemerkte meinen Blick und erklärte: „Die sind für Spielzeug reserviert. Das kaufen wir erst noch.“
Noch mehr Spielzeug? dachte ich überrascht. Das war so viel mehr, als ich jemals gehabt hatte.
Ich zeigte auf die Autos in der Kiste und fragte leise: „Darf ich damit spielen?“
Annette lachte sanft. „Florian, das ist dein Zimmer. Alles, was hier drin ist, gehört dir. Hier musst du niemanden um Erlaubnis bitten.“
Ihre Worte trafen mich mitten ins Herz. Mein Zimmer. Mein Spielzeug. Eine Träne rollte mir über die Wange, und ich konnte einfach nichts sagen. Ich war sprachlos.
Annette lächelte sanft und öffnete den großen Schrank. „Schau mal, hier sind deine Anziehsachen.“ Ich sah bunte Pullover, Hosen und Jacken, alle ordentlich zusammengelegt. In den Schubladen des kleineren Schranks daneben lag Unterwäsche, und in zwei Fächern zeigte Annette mir Windeln und Feuchttücher. Mir wurde es ein bisschen peinlich, aber Annette sagte nichts dazu und zeigte einfach weiter.
Dann öffnete sie die Schublade im Nachttisch neben dem Bett. „Hier liegen zwei Schnuller und eine Taschenlampe, falls mal Stromausfall ist und du schnell ein Licht brauchst.“
Ich schaute noch einmal durch das Zimmer. Es war einfach unbeschreiblich. Alles war für mich. Ich ließ Pandi los, lief zu Annette hin und umarmte sie fest. „Danke“, flüsterte ich.
Annette strich mir sanft über den Rücken, und ich spürte, dass auch sie feuchte Augen hatte. „Willkommen zuhause, Florian. Ich hoffe, dass du dich hier wohlfühlst.“
Während sie mich noch hielt, spürte ich, wie ihre Hand mir sanft über den Hintern strich. „Wie sieht es eigentlich mit deiner Windel aus? Die fühlt sich schon ziemlich voll an.“
Ich spürte es auch. Die Windel war warm und schwer, und ich hatte zwischendurch mehrmals gemerkt, wie es warm wurde. Manchmal zog es vorher kurz, aber ich sagte nichts. Es war mir immer noch peinlich.
„Komm“, sagte Annette ruhig und schlug die Decke auf dem Bett zurück. „Wir machen dich schnell frisch.“
Ich nickte und zog langsam meine Hose herunter. Ich legte mich auf das Bett, das sich weich und warm anfühlte. Annette holte eine Windel und Feuchttücher aus der Schublade. Ich schaute an die Decke, während sie mir die nasse Windel auszog. Der Wechsel ging schnell, und Annette war die ganze Zeit ruhig und sanft. Es war zwar immer noch unangenehm, aber nicht so schlimm wie sonst.
„So, fertig“, sagte sie und zog die frische Windel fest. „Jetzt kannst du dich wieder anziehen.“
Ich setzte mich auf, zog die Hose wieder hoch und sah mich noch einmal im Zimmer um. Es war einfach zu schön, um wahr zu sein.
„Dann lass uns mal wieder runter zu Diana und Elke gehen“, sagte Annette mit einem Lächeln. „Nicht, dass den beiden noch langweilig wird.“
Ich nickte und nahm Pandi fest in den Arm. Ich konnte es kaum glauben, dass dieses Zimmer jetzt wirklich mir gehörte. Mein Zimmer. Es war so schön hier, dass ich am liebsten noch länger geblieben wäre, aber ich folgte Annette zur Tür.
Als wir die Treppe hinuntergingen, knarzten die Stufen wieder leicht unter unseren Füßen. Annette lief langsam, damit ich nicht stolperte, und ich hielt dabei ihre Hand, was mir ein sicheres Gefühl gab. Unten angekommen, konnte ich schon die beiden Frauen im Wohnzimmer hören. Sie redeten leise miteinander, aber ich verstand nicht, was sie sagten.
Annette führte mich ins Wohnzimmer, wo Diana und Frau Peters auf der Couch saßen und uns anlächelten, als wir hereinkamen. Annette sagte fröhlich: „Na, wir sind zurück! Ich glaube, Florian hat sein Zimmer schon ein bisschen ins Herz geschlossen, stimmt’s?“
Ich nickte schüchtern und drückte Pandi noch ein bisschen fester an mich. Diana zwinkerte mir zu. „Das ist schön zu hören, Florian. Hier wirst du dich bestimmt ganz schnell wohlfühlen.“
Frau Peters schaute auf die Uhr und sagte: „Na, das ging ja fix. Ihr habt die Hausführung wohl in Rekordzeit geschafft.“
Annette lachte leise. „Florian ist ein aufmerksamer Beobachter. Außerdem wollte ich euch nicht zu lange warten lassen. Es gibt so viele neue Dinge, dass wir sie später in Ruhe noch einmal erkunden können.“
Ich setzte mich neben Annette auf die Couch und lauschte den Gesprächen der Erwachsenen. Mein Kopf war noch so voller Eindrücke – das Haus, das Zimmer, all die neuen Dinge. Es war viel, aber irgendwie fühlte es sich gut an, hier zu sein. Ich wagte es kaum zu glauben.
Hoffentlich muss ich hier nie wieder weg…
Fortsetzung folgt…
Autor: michaneo (eingesandt via E-Mail)
Diese Geschichte darf nicht kopiert werden
Suche
Weitere Teile dieser Geschichte
- Florians Schatten
- Florians Schatten (2)
- Florians Schatten (3)
- Florians Schatten (4)
- Florians Schatten (5)
- Florians Schatten (6)
- Florians Schatten (7)
- Florians Schatten (8)
- Florians Schatten (9)
- Florians Schatten (10)
- Florians Schatten (11)
- Florians Schatten (12)
- Florians Schatten (13)
- Florians Schatten (14)
- Florians Schatten (15)
- Florians Schatten (16)
Archiv
Neueste Beiträge
Neueste Kommentare
- Julia-Jürgen bei Florians Schatten (16)
- Nero bei Valerie und das Windelgesetz (14)
- Lukas bei Windelgeschichten Information
- Lukas bei Windelgeschichten Information
- Lukas bei Windelgeschichten Information
- Bic bei Und dann kam Alice (4)
- nappybaby bei Und dann kam Alice (5)
- Volker bei Und dann kam Alice (5)
Wunderschöne Fortsetzung da steckt einfach alles drin danke freue mich auf mehr😊🥰
Ich will weiterlesen, wirklich schöne Geschichte 😇
Super geschrieben, bin gespannt wie es weitergeht, und Hoffentlich bekommen seine Leiblichen Eltern richtig Stress mit dem Jugendamt wegen der Verletzung die ihm Zugeführt wurde,so daß ihnen das Sorgerecht entzogen wird.
Das war super
Mit Tränen und lächeln gelesen .
War wieder einiges aus meiner Kindheit dabei
Ich habe das gut verarbeitet.
Würde mich über mehr freuen .
Danke
Wenn man das Ergebnis des MRT mitbekommt erfüllt mich dass Trauer und auch Wut. Wie geht man, auch heute noch mit solchen kleinen Seelen um???
Auch mir kommen bei dieser Geschichte Erinnerungen hoch, die man nicht so leicht auf die Seite schieben kann. Leider wenige die positiven Gedanken….
Freue mich auf den nächsten Teil……✨️❤️🚗😊☕️👍👣✍️