Ein Haus voller Jungs (6)
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Kapitel 6 – Ab in den Urlaub!
„Du, Papa, was ist eigentlich mit unserem Urlaub?“
Ich fiel aus allen Wolken – klar, wir hatten natürlich schon vor den Ferien über unseren traditionellen Sommerurlaub am Meer gesprochen, aber um ehrlich zu sein hatte ich das über die ganze Aufregung mit Thomas und Rusty irgendwie vergessen. Aber gut zu wissen, dass es zumindest bei meinem Brüderchen mit der Demenz noch etwas zu dauern schien.
„Sierksdorf, richtig?“ fragte ich.
„Genau. Also wir fahren auf jeden Fall, die Frage ist nur, ob Thomas und Rusty auch mitkommen,“ erklärte Papa. „Also, die eigentliche Frage ist, ob Rusty mitkommt. Ich hätte volles Verständnis dafür, wenn er nicht möchte, aber wenn nicht, wird Thomas wahrscheinlich auch nicht mitkönnen.“
Ich konnte sehen, wie sich Sammy’s Blick verzog – er fing wieder damit an, sich die Schuld zu geben.
„Ich hoffe, es ist für Rusty nicht zu kurzfristig,“ sagte ich, in der Hoffnung, Sammy ein wenig aus seinen Gedanken zu holen, bevor er sich in ihnen verlieren konnte. „Ich hätte die beiden gerne dabei.“
„Werd ich so weitergeben,“ sagte Papa und lächelte uns an. „Aber wenn es nicht klappt, machen wir uns trotzdem eine schöne Zeit.“
„Echt jetzt?“
„Ich hab dir schon vor Wochen erzählt, dass wir vielleicht dann auch mit den dreien in den Urlaub fahren.“
„Ja, aber das war bevor…“
„Vor was?“
Rusty verstummte.
„OK, möchtest du einfach nur nicht wegfahren oder möchtest du nur nicht mit den dreien fahren?“
„Was, wenn es etwas von beidem ist?“
Thomas seufzte.
„Wenn du wirklich gar nicht mit möchtest, spreche ich mit Mama und dann kannst du in der Zeit zu ihr.“
„Das ist nicht der Punkt!“
Rusty erschrak kurz vor sich selbst – er war wesentlich lauter geworden, als er gewollt hatte.
„Ich hab einfach gehofft, dass wir etwas Zeit nur für uns hätten, weißt du?“ erklärte er, während seine Stimme begann zu versagen. Thomas merkte natürlich, dass er einen wunden Punkt freigelegt hatte, und nahm seinen Sohn prompt in den Arm.
„Tut mir leid, Großer. Ich kann dir nicht übel nehmen, wenn du dich seit der Trennung vernachlässigt fühlst.“
Rusty gab keine Antwort, kuschelte sich aber plötzlich an seinen Vater.
„Aber ich wette, Jona und die Jungs haben nichts dagegen, wenn wir beide uns an ein paar Tagen absetzen und was komplett eigenes machen. Was hältst du davon?“
Rusty sah kurz auf den Boden.
„OK,“ murmelte er. „Aber ich nehme meine Switch mit. Und wenn ich meine Ruhe haben möchte, dann ist das so.“
„Einverstanden.“
„Aber weißt du, ob ich ein eigenes Zimmer haben werde?“
„Als Jona mich gefragt hat, habe ich ihn gebeten, dich vorsichtshalber bei der Buchung zu berücksichtigen. Wenn Luka und Sammy sich ein Zimmer teilen, was sie bestimmt machen werden, hast du auf jeden Fall ein Zimmer für dich.“
„OK. Aber ich will das nicht bereuen!“
„Das hoffe ich auch, sagte Thomas, während sich Rusty wieder von ihm löste. „Danke, Großer.“
„So, das müsste alles sein,“ ächzte Papa, während er die letzte Reisetasche zum Bürgersteig brachte. Jetzt mussten wir nur noch auf Thomas und Rusty warten – oder hätten wir gemusst, wenn ihr Auto nicht wenige Momente später in die Straße eingebogen wäre. Rusty saß auf dem Beifahrersitz, schenkte uns aber keine Beachtung, als sein Vater die Scheibe runterfuhr.
„Hey ihr drei. Ist das alles?“
„Jep,“ bestätigte Sammy noch bevor Papa die Chance dazu hatte.
„Hey Rusty,“ grüßte Papa. „Schön, dass du mitkommst.“
Rusty ignorierte ihn. Ich wollte lieber nicht wissen, was gerade in seinem Kopf vorging.
„Hey, wenn die Switch dir die Sprache raubt, kommt sie in den Kofferraum,“ sagte Thomas und warf seinem Sohn dabei diesen typischen „du weißt genau, dass das unhöflich ist, also hör auf damit“-Blick zu.
„Hi Jona. Hi Sammy. Hi Luka,“ murmelte Rusty, ohne von der Konsole aufzublicken. Thomas war erkennbar unzufrieden, entschied sich aber, es zumindest vorerst dabei zu belassen.
„Wie sollen wir es machen?“ fragte Papa mit Blick auf den Kofferraum von Thomas‘ Auto. „Ich hatte überlegt, ob wir den Großteil des Gepäcks nicht in eines der Autos verfrachten sollen und die Jungs dann zusammen ins andere kommen.“
„Also ich steh nicht auf,“ stellte Rusty fest. „Musste viel zu früh aufstehen.“
„Stimmt, du bist so müde, dass du zocken kannst.“
Rusty warf seinem Vater einen bösen Blick zu. Der ließ sich davon aber nicht beeindrucken und wandte sich zu uns zu.
„Fahrt ihr mit uns mit?“
„Klar!“ rief Sammy und sah mich erwartungsvoll an.
„Na komm, ich will mal Papas schönen Plan nicht kaputtmachen.“
„Dann nehmt aber eure Rucksäcke mit rüber, dann sind zumindest schon mal Konsolen und Snacks am richtigen Ort.“
Wenige Minuten später war die Runde Autotetris vorbei – war aber auch unspektakulär – und saßen hinter unserem… konnte man das schon Stiefbruder nennen? Der Sohn vom Freund unseres Papas jedenfalls.
„Smash?“ fragte Sammy.
„Von mir aus,“ murmelte Rusty.
„Machst du ne Lobby auf?“
„Von mir aus.“
Das könnte eine lange Fahrt werden.
„So ihr zwei, ich zieh mich aber mal langsam raus,“ erklärte ich, nachdem ich erneut demonstriert hatte, dass große Brüder immer gewinnen. „So langsam wird mir etwas schlecht.“
„Was ist denn los?“ fragte Thomas.
„Ich bin nur jemand, der auf Autofahrten nicht lange ein Buch lesen oder auf einen Bildschirm starren kann.“
„Verstehe. Vielleicht spielen wir mal was, wo ich auch als Fahrer mitspielen kann? Rusty, hol mal die Black Stories aus dem Handschuhfach.“
Rusty antwortete nicht, beugte sich aber wie gewünscht vor und holte eine schwarze Schachtel aus dem Handschuhfach.
„Kennt ihr das Spiel?“
„Klar.“
„Dann lies mal vor, Rusty.“
„Ein Mann steht vor einem roten Haus und weint. Warum wohl?“
Uff. Wir rätselten ein wenig rum, aber irgendwie kamen wir nicht voran. Niemand war gestorben, es war kein Maler beteiligt, das Haus gehörte dem Mann nicht mal.
„Ist an dem Haus etwas besonders?“ fragte Thomas. Rusty überlegte kurz.
„Könnte man sagen.“
„Steht das Haus an einem besonderen Ort?“
„Könnte man auch sagen.“
„Hat die Straße einen Namen?“ fragte ich. Das war jetzt ein Schuss ins blaue – selbst, wenn die Antwort ja lautete, müssten wir dann streng genommen jeden Namen einzeln abfragen.
„Ja.“
In diesem Moment schien bei Thomas ein Licht aufzugehen.
„Schlossallee?“
„Ja.“
„Ist das Haus ein Hotel?“
„Ja.“
„Alles klar, gelöst.“
„Hä?“ fragte Sammy.
„Mal Monopoly gespielt?“
„Klar…“ sagte Sammy, dann fasste er sich an den Kopf. „Klar, die Schlossallee.“
„Das war jetzt aber auch Mondlogik,“ gab ich zu, während ich meinem Brüderchen auf die Schulter klopfte.
„Gibt schlimmere,“ erklärte Thomas. „Gibt eine mit Romeo und Julia.“
„Haben die sich nicht umgebracht?“ fragte ich. Meine Kenntnisse waren doch etwas begrenzt, was Shakespeare-Stücke anging.
„Richtig.“
„Klingt einfach.“
„Aber sie wären noch am Leben, wenn man das Fenster richtig geschlossen hätte.“
„Haben die sich nicht vergiftet?“
„Romeo, ja. Es hilft zu wissen, das Romeo und Julia in dieser Geschichte Fische sind.“
„Was?“
„Jep,“ murmelte Rusty. „Die war einfach nur dumm.“
Der Satz blieb für einen Moment so stehen, bis ich sah, wie bei Papas Auto vor uns der Blinker anging.
„Thomas, ich glaube Papa will auf den Rastplatz fahren.“
„Ich sehs, aber gut aufgepasst.“
„Gut, ich muss nämlich Pipi,“ sagte Sammy.
„Komisch,“ murmelte Rusty.
„Hm?“
„Ich dachte du könntest überall.“
Thomas warf seinem Sohn erneut einen kritischen Blick zu, welcher dieses Mal ebenso kritisch erwidert wurde. Für den Moment sagte ich lieber nichts dazu, aber wie lange würde das noch gut gehen?
Einige Stunden später kamen wir endlich an, und nach etwas Warten auf die Schlüsselübergabe konnten wir endlich anfangen, unser Gepäck auszuladen. Rusty sicherte sich schnell das Einzelzimmer, womit für Sammy und mich das Doppelzimmer übrig blieb. War vermutlich auch erst mal besser so.
„Packt schon mal das wichtigste aus,“ sagte Papa. „Wir springen noch schnell ins Geschäft und machen Abendessen.“
Das sollte uns recht sein, Sammy sah ziemlich fertig aus, und ich war es ehrlich gesagt auch. Schnell zogen wir uns auf unser Zimmer zurück, aber kaum war die Tür zugefallen, klammerte sich mein Brüderchen auf einmal verzweifelt an mich.
„Er hasst uns,“ flüsterte er.
„Sag sowas nicht.“
„Aber so ist es doch! Und nur weil ich mich verplappert habe.“
Okay, jetzt war es definitiv Zeit zu intervenieren. Ich griff meinen Bruder sanft, aber bestimmt an den Schultern.
„Samuel Ziegler, du hörst auf der Stelle auf damit! Selbst wenn wir nicht wären, meinst du wirklich er wäre besser drauf? Überleg mal, was Rusty gerade alles um die Ohren hat! Natürlich weiß er nicht, was er darüber denken soll.“
Sammy sah mich nachdenklich, aber immer noch geknickt an.
„Und jetzt Kopf hoch, sonst bin ich gezwungen, dich durchzukitzeln!“
Sammy fing an zu grinsen und streckte mir die Zunge raus.
„Nö, darfst du nicht.“
Wenn das keine Herausforderung war!
„Doch, dass nennt man Vorrecht großer Brüder.“
Bevor Sammy reagieren konnte, hatte ich ihn gepackt und zu einem der Betten geschleppt, wo er die Qualen des Kitzelns erdulden musste.
„Man, das ist unfair!“ brachte er hervor, während er wieder zu Atem kam.
„Komm, dafür hast du das Vorrecht des kleinen Bruders.“
„Und was ist das?“
„Na das du versuchen kannst mich morgens aufzuwecken und dafür nur mit Kuscheln bestraft wirst.“
Sammy grinste.
„Ach, und andere bestrafst du richtig?“
„Andere wecken mich ja nicht. Außer Papa.“
„Und den kriegt man Abends immer dazu, wenn man so tut, als könnte man sonst nicht schlafen.“
Jetzt war ich es, der grinsen musste.
„Komm, packen wir mal weiter aus.“
Wir hatten schon mitbekommen, dass unsere Papas wieder da waren, aber aus den Zimmern kamen wir erst, als man das Essen schon riechen konnte. Sonst kamen die womöglich noch auf die Idee, dass wir helfen müssen. Als wir rauskamen, saß Rusty bereits am Tisch, kurz darauf brachten auch unsere Eltern das Essen. Tortellini mit Spinat.
„Klang als hättet ihr Spaß gehabt,“ murmelte Rusty mit Seitenblick auf uns, dann wandte er sich zu unseren Vätern.
„Ich hoffe eure Zimmerwände überlassen etwas mehr der Fantasie.“
Ich konnte förmlich sehen, wie Thomas zu einer Antwort ansetzte, es dann aber doch sein ließ.
„Entschuldige bitte. Wenn wir wieder zu laut sind, klopf einfach gegen die Wand, OK?“ bot ich an. Rustys Mine veränderte sich tatsächlich ein wenig.
„Schon OK, es war nur kurz. So dünn sind die Wände jetzt auch nicht.“
„Und mit uns teilen eure Zimmer eh keine Wände,“ ergänzte Papa, der mir einen kurzen Blick zu warf. Manchmal half der sprichwörtliche Olivenzweig ja doch.
„Haben wir morgen schon was vor?“ fragte Rusty.
„Wir hatten gedacht, wir starten ganz entspannt mit einem Strandbesuch.“
„Cool, also Badehose einpacken.“
„Oh…“
Rusty sah verwirrt zu Sammy.
„Ja. Badehose. Oder läufst du da mit ner Schwimmwindel rum?“
„Rusty!“ rief Thomas, wurde aber von seinem Sohn ignoriert.
„Ne, aber…“ Sammy verstummte.
„Was aber?“ fragte Rusty, offensichtlich bereit für eine weitere Auseinandersetzung mit seinem Vater – und allen, die dabei ins Kreuzfeuer gerieten.
„Das isn‘ FKK-Strand,“ murmelte Sammy kleinlaut.
Rusty sah seinen Vater drohend an, dann erhob er sich.
„Wird ja von Minute zu Minute besser hier,“ zischte er.
Thomas sah ihm kurz nach.
„Esst schon mal weiter,“ murmelte er, dann folgte er seinem Sohn.
Rusty hatte sich gerade auf sein Bett gelegt und angefangen die Zimmerdecke anzustarren, als es an der Tür klopfte.
„Was?“
„Rusty, bitte. Darf ich reinkommen?“
Rusty stöhnte.
„Na gut.“
Sein Vater ließ sich nicht zweimal bitten und setzte sich vorsichtig zu seinem Sohn aufs Bett.
„Rusty…“
„Papa, das kanns doch nicht sein.“
„Da hast du Recht.“
Rusty sah verärgert zu seinem Vater.
„Ach komm, du meinst nicht das, was ich meine.“
„Stimmt, ich meine, dass du den ganzen Tag keine Gelegenheit ausgelassen hast, feindselig zu den dreien zu sein. Wenn du überhaupt mit ihnen geredet hast.“
„Ich lasse keine Gelegenheit aus? Erst schleppst du wieder jemanden an, dann lassen sich SEINE Kinder wie Babys behandeln, dann verbringen wir UNSEREN Urlaub mit ihnen, und morgen gehen wir dann erst mal alle fünf schön zusammen nacktbaden?“
Thomas seufzte.
„Ich weiß, dass das viel ist. Aber das ist nicht der wahre Grund, wieso du dich so benimmst, oder?“
Rusty antwortete nicht, aber sein Blick zum Boden verriet alles.
„Großer, ich verstehe dass du wütend ist, weil deine Mutter und ich… und vor allem ich…“
Er verstummte und legte seinen Arm um seinen Sohn.
„Hör mal, ich überlege mir was für übermorgen, und dann verbringen wir mindestens den Tag zusammen. Nur wir beide.“
„Versprochen?“
„Versprochen. Aber tu mir bitte einen Gefallen. Sei wütend auf mich, so viel du willst, aber bitte lass es nicht an den dreien aus.“
Rusty nickte.
„Komm. Vielleicht ist unser Essen noch warm.“
Auch wenn Thomas uns gesagt hatte, wir sollen weiteressen, hatten wir unsere Teller kaum angerührt, seit Rusty und Thomas verschwunden waren. Umso erleichterter waren wir, als die beiden einige Minuten später zurückkamen.
„Sollen wir euer Essen nochmal schnell aufwärmen?“ fragte Papa.
Thomas prüfte kurz den Inhalt seines Tellers, dann schüttelte er den Kopf.
„Ich denke das geht schon.“
„Gut. Rusty?“
„Meins ist auch noch warm.“
„Noch besser. Tut mir leid, wenn wir dich eben überrascht haben, aber in einer Hinsicht kann ich dich zumindest beruhigen.“
„Hm?“
„Der Strand, wo wir hingehen, ist ein gemischter,“ erklärte Papa. „Und selbst an reinen FKK-Stränden sieht man das nicht so eng, wenn welche in eurem Alter angezogen bleiben. Die wissen auch, dass man sich in dem Alter eher nicht jedem so zeigen will.“
„Aber ihr badet da nackt, oder?“
Papa nickte.
„Das war für uns drei auch damals ungewohnt, als wir angefangen haben, aber es hatte seine Gründe.“
„Und du, Papa?“
„Ich weiß es noch nicht,“ sagte Thomas. „Das entscheide ich morgen, wenn wir da sind.“
Rusty sah nachdenklich auf seinen Teller.
„Iss erst mal. Und mach dir nicht zu viele Gedanken. Das wird nicht so schlimm, wie du es dir vielleicht vorstellst.“
„Das seh ich ja dann. Ob ich will oder nicht. Ich zieh mich da jedenfalls nicht aus.“
Mit diesen Worten begann er endlich zu essen.
Autor: Löwenjunge (eingesandt via E-Mail)
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Danke für die Story, freue mich schon auf die Fortsetzung ??