Ein Haus voller Jungs (5)
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Kapitel 5 – Eine unerwartete Wanderung
* * *
Rusty sprach am nächsten Morgen kaum ein Wort mit uns. Und irgendwie traute sich niemand so wirklich, das Schweigen zu brechen. Manchmal wünschte ich mir, Leuten in den Kopf schauen zu können, aber ich glaubte zu ahnen, worum Rustys Gedanken seit gestern Abend kreisten, und daran hätte ich auch nichts ändern können. Ich konnte nur hoffen, dass sich alles wieder beruhigen würde, sobald wir uns mit Thomas trafen.
Nach dem Frühstück schickte Papa uns durchs Bad – wir ließen Rusty den Vortritt, was Sammy zum Anlass nahm, mich zur Seite zu ziehen.
„Das ist meine Schuld, oder?“ fragte er. „Ich dachte wirklich, er wüsste schon Bescheid, und deshalb habe ich nicht nachgedacht, und…“
Ich legte meine Hände auf die Schultern meines Bruders.
„Sammy, Rusty ist nicht viel älter als du. Thomas hat es schon gut aufgenommen, aber Rusty ist damit einfach überfordert. Am besten, wir lassen ihn etwas in Ruhe. Thomas wird das sicher hinkriegen.“
Sammy nickte, aber ich kannte ihn zu gut. Er war schnell darin, sich die Schuld zu geben, wenn etwas schief ging. Ich ebenso, aber ich hatte ein paar Jahre mehr Erfahrung darin, zu erkennen, ob es wirklich so war. Ich zog Sammy in meine Arme und drückte ihn fest.
„Alles wird gut,“ flüsterte ich.
Ich ging als letzter durchs Bad. Als ich raus kam, saßen Rusty und Sammy beide bereits mit Rucksäcken am Esstisch
„Hier!“ rief Sammy und reichte mir meinen Rucksack.
„Wo geht es hin?“
„Wir gehen wandern,“ sagte Papa.
„Ui, toll,“ hörte ich Scars Stimme in meinem Kopf. Rusty verdrehte die Augen, was aber nur ich bemerkte. Ich konnte es ihm nicht übel nehmen – selbst, wenn gestern nicht die Bombe geplatzt wäre, konnte ich mir bessere Dinge vorstellen, als in den Ferien durch irgendwelche Wälder zu marschieren. Wessen Idee es wohl gewesen war? Ehrlich gesagt, beide Möglichkeiten klangen nicht gut.
„Rusty, möchtest du vorne sitzen?“ fragte Papa. Das war wohl als kleines Friedensangebot gemeint. Rusty nickte. Wenige Minuten später machten Sammy und ich es uns auf der Rückbank bequem, während Papa die Adresse ins Handy eingab. Die nächste Stunde verbrachte ich damit, abwesend aus dem Fenster zu sehen und die letzten 16 Stunden immer wieder durchzugehen. Es musste doch eine bessere Möglichkeit gegeben haben, Rusty einzuweihen, ohne ihn direkt zu vergraulen…
Plötzlich tippte mich Sammy aufgeregt an. Ich hatte gar nicht wahrgenommen, wo wir uns befanden, aber wenn ich das Handy richtig las, waren wir fast am Ziel – und es war das genaue Gegenteil eines ruhigen Waldes.
„Ich dachte, wir gehen wandern?“ fragte ich.
„Klar gehen wir wandern,“ lachte Papa. „Man kann doch auch durch einen Freizeitpark wandern.“
* * *
Eine Sache, die mir in Freizeitparks immer wieder auffiel, war, dass viele Kinder, auch größere in meinem Alter, hier plötzlich wieder gerne an der Hand ihrer Eltern gingen. Sammy und ich waren da keine Ausnahme, aber auch Rusty heftete sich an Thomas, nachdem wir ihn gefunden hatten. Als gäbe es eine Art ungeschriebene Vereinbarung, dass es völlig OK ist, sich an solchen Orten wieder kindlicher zu benehmen.
„Sammy?“ flüsterte ich.
„Ja?“
„Bist du noch gewickelt?“
„Ja, warum?“
„OK, ich denke es wäre vielleicht ganz gut, wenn du trotzdem aufs Klo gehst. Das letzte was wir brauchen, ist ein Unfall in Rusty’s Gegenwart, selbst wenn es sonst niemand merkt.“
Sammy nickte.
„Alles wird gut,“ flüsterte ich ihm noch zu, bevor wir wieder zur Gruppe aufschlossen.
„Ich will auf die Black Mamba!“ rief Sammy.
Ich habe keine Ahnung, ob mein Brüderchen wirklich so furchtlos oder einfach nur ein Adrenalinjunkie ist. Andererseits haben wir beide schon die Hölle von innen gesehen, und mit einem großen Bruder wie mir konnte er es sich natürlich leisten, so furchtlos zu sein.
„Oh, ich glaube dafür bin ich nicht tapfer genug,“ lachte Thomas.
„Bei mir ist auch bei der Colorado Schluss,“ sagte Papa. Ich ahnte schon, worauf es hinauslief.
„Ich glaube die Schlange wird ewig lang,“ warf Rusty ein.
„Ich kann ja auch alleine warten.“
„Klar, aber wir sollten uns vielleicht nicht direkt zu sehr aufteilen,“ meinte Papa.
„Vielleicht doch,“ schlug ich vor. Gibt es vielleicht noch was, wo jemand von uns drauf möchte, aber Sammy nicht?
„Talocan?“ fragte Sammy. Ich schüttelte den Kopf. Loopings und Geschwindigkeit waren ja eine Sache, aber sich durch die Gegend schleudern zu lassen brauchte ich wirklich nicht. Wenn man sich nicht selbst übergeben musste, bestand immer noch die Gefahr, dass es einem der Leute neben dir passiert. Brrr!
„Wenn die Wartezeit nicht zu lang ist, können wir uns ja irgendwo hinsetzen bis Sammy wieder da ist,“ schlug Thomas vor. „Und falls doch, kann man ja später nochmal schauen, ob sich die Gelegenheit ergibt. Wir sind ja noch etwas hier.“
Sehr lösungsorientiert. So langsam wurde Thomas mir richtig sympathisch. Aber klar, dass Papa guten Männergeschmack hatte, Simon hatte ich ja in guter Erinnerung, auch wenn wir nicht viel Zeit mit ihm hatten.
Wie sich herausstellte, war der Andrang an der Black Mamba noch nicht zu groß. Nur knappe 20 Minuten später stieß mein Bruder breit grinsend, aber auch etwas blasser um die Nase als zuvor, wieder zu uns.
„Wenn die Slush-Stände nicht die ganzen Bienen anlocken würden,“ fluchte Rusty, während er das Treiben der Insekten aus sicherer Entfernung vom Tisch aus beobachtete.
„Ich bin einfach nur froh, dass es keine Wespen sind,“ sagte ich. „Die Biester sind das allerletzte.“
„Stimmt wohl,“ murmelte Rusty.
„Ich hätte ja Lust auf ein Slush,“ schlug Sammy vor. „Soll ich euch auch was mitbringen?“
Ich schüttelte den Kopf – so toll fand ich das Zeug nicht, andererseits war ich auch einer dieser komischen Menschen, die nicht viel von Kaugummi hielten. Ich fands ja okay, wenn meine Mitschüler im Unterricht darauf kauten, manche unserer Lehrer erlaubten das sogar, aber ich hatte kein Verständnis für die, die ihn dann einfach unter den Tisch klebten. Widerlich!
„Mir reichen meine Pommes,“ erklärte Rusty und wandte sich seinem Mittagessen zu.
„OK, passt du kurz auf mein Essen auf, Luki?“
„Klar, aber beeil dich, sonst könnte es sein, dass ich nach meinen Pommes noch Hunger habe.“
„Untersteh dich,“ kicherte Sammy und verschwand in Richtung Slush-Stand.
Der restliche Besuch verlief weitgehend ereignislos, nur leider erwies sich Rusty für mich den ganzen Tag über als Buch mit sieben Siegeln. Vielleicht ist er uns sogar bewusst aus dem Weg gegangen, andererseits wollte ich ihn aber auch nicht dazu zwingen, in der Öffentlichkeit über Dinge zu sprechen, die ihm vielleicht unangenehm waren.
Abends trennten sich unsere Weg vorläufig wieder. Nachdem wir uns verabschiedet hatten, lümmelten Sammy und ich uns auf die Rückbank von Papas Auto – auch wenn wir nicht wirklich wandern waren, hatten unsere Beine eine Pause verdient. Müde, wie ich war, fiel mir erst, als wir Zuhause ankamen, auf, dass Sammy’s vorher fröhliche Stimmung gänzlich verschwunden war, und das war nicht der Erschöpfung geschuldet.
„Es tut mir leid, Papa,“ flüsterte er, als wir ausstiegen. Sowohl Papa als auch ich wandten uns ihm alarmiert zu.
„Was tut dir leid?“ fragte Papa.
„Ich habs versaut. Wenn ich mich gestern nicht verplappert hätte…“
„Sammy, alles ist gut,“ flüsterte Papa und nahm meinen Bruder in den Arm. „Früher oder später hätte Rusty eh was gemerkt, wenn er öfter da gewesen wäre. Das Benny noch keine Fragen zu der Zimmertür hatte ist ein kleines Wunder. Thomas und ich werden ein Auge drauf haben, aber selbst wenn das zwischen mir und Thomas nicht klappen würde, wäre das allein unsere Schuld – nicht deine, nicht Lukas und auch nicht Rustys. Verstanden?“
„Ja, aber…“
„Kein aber, Sammy. Es ist nicht deine Schuld, und ich möchte nicht, dass du dir das einredest oder einreden lässt, okay?“
Sammy nickte und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. Papa nahm seine Hand, und ich nahm die andere. Mit Sammy in unserer Mitte gingen wir ins Haus, wo er schnell unter die Dusche geschickt wurde. Während Papa mein Brüderchen anschließend bettfertig machte, ging ich ins Bad und spülte den Schweiß des Tages ab.
Es musste doch eine Lösung geben. Ich konnte Rusty nicht verübeln, dass er abgeschreckt war und wahrscheinlich nicht mehr allzuviel von uns hielt, aber wenn man ihm irgendwie zeigen könnte, dass wir trotz allem auch irgendwo ganz normale Menschen sind…
Ein lautes Klopfen an der Badezimmertür riss mich aus meinen Gedanken.
„Luki?“ rief Papa durch die Tür.
„Ja?“
„Kommst du bitte gleich nochmal zu mir?“
„OK!“
Wenige Minuten später war ich abgetrocknet und nach einem kurzen Zwischenstopp in meinem Zimmer machte ich mich auf den Weg ins Esszimmer, wo Papa bereits am Tisch saß. Er wies auf einen der freien Stühle und ich setzte mich dazu.
„Geht es dir gut mit alldem?“ fragte Papa. Ich musste lächeln – seine größte Sorge lag nach wie vor bei uns, und dafür würde ich ihm für immer dankbar sein.
„Klar. Thomas ist super nett, und Rusty auch.“
„Ja…“
Da stimmte doch was nicht.
„Papa, was ist los?“
„Luki, glaubst du, Rusty wird es akzeptieren?“
„Was? Dass sein Papa jetzt mit dir zusammen ist oder dass Sammy und ich Windeln tragen?“
„Beides.“
„Keine Ahnung. Ich hoffe es.“
„Ich auch…“ flüsterte Papa. „Ich weiß, was ich Sammy gesagt habe, und das meinte ich auch, aber ich könnte Rusty nicht übel nehmen, wenn er Thomas unter Druck setzen würde. Und ich könnte Thomas nicht übel nehmen, dass er sich im Zweifel für seinen Sohn entscheiden würde, so wie ich mich für euch.“
Er seufzte.
„Tut mir leid. Das ist wirklich nicht dein Problem, und ich sollte es nicht dazu machen.“
„Papa, wir drei haben nur einander. Lass mich dir helfen.“
„Nein. Ich bin euer Papa, und das heißt ich sorge für euch, nicht umgekehrt. Erwachsenenprobleme werdet ihr noch genug haben, wenn ihr älter seid.“
„Aber das heißt doch nicht, dass du alles alleine machen musst.“
„Klar, und ich weiß, dass auf dich immer Verlass ist. Genauso wie ich weiß, dass du ihr beide euch immer noch oft die Schuld für Dinge gebt, für die ihr rein gar nichts könnt. Und deshalb hast du auch in erster Linie auch nur einen Auftrag.“
„Ich achte auf mich.“
Papa nickte zufrieden.
„Mach dir keine Sorgen, Großer. Ich spreche noch mit Thomas, aber es ist gut zu wissen, dass es dir trotz allem noch gut geht. Und ich glaube Sammy hat auch mehr Angst davor, dass es nicht klappt, als davor, dass es klappt.“
Er erhob sich vom Tisch.
„Sammy liegt bereits im Kinderbett. Wenn du möchtest, kannst du dich später dazu legen, aber bleib nicht mehr so lange auf.“
„Papa?“
„Ja Großer?“
„Kannst du mich ins Bett bringen?“
Papa lächelte mich an.
„Immer.“
Er nahm mich an die Hand und führte mich in mein Zimmer – da Sammy vielleicht schon schlief, verlegten wir die Wickelprozedur auf mein Bett. Nachdem ich für die Nacht verpackt war, zog Papa mir noch einen meiner Bodies an – für mehr war es definitiv zu warm – und brachte mich zur Tür des Kinderzimmers.
„Schlaf schön, Großer,“ flüsterte er und küsste mich auf die Wange. Ich schlich ins Zimmer – auch ohne viel Licht konnte ich mich darin orientieren – und kletterte zu Sammy ins Bett. Nachdem mein Schnuller samt Kette an Ort und Stelle war, kuschelte ich mich an meinen Bruder und folgte ihm ins Reich der Träume.
* * *
„Du schuldest mir immer noch Antworten,“ knurrte Rusty.
„Antworten worauf?“
„Du weißt genau worauf! Du wusstest was Sache ist und hast mir nichts gesagt!“
„Ich verrate ja auch nicht deine Geheimnisse.“
„Du hättest mich trotzdem vorwarnen können, dass ich in eine Freakshow laufe!“
Bevor Rusty zu einem weiteren Satz ausholen konnte, blieb das Auto ziemlich abrupt stehen. Rusty sah verwirrt zu seinem Vater, welcher deutlich stärker als nötig vor der Ampel gebremst hatte.
„Ich habe dir nicht beigebracht, so über Leute zu urteilen. Und deine Mutter auch nicht.“
„Lass Mama da raus,“ zischte Rusty.
Die Ampel schaltete wieder auf grün. Wenige Momente später setzte das Auto seinen Weg fort.
„Findest du das fair, Rusty? Du hast eine grobe Ahnung, mit was für Kindern ich gearbeitet habe. Jedes dieser Kinder hat Sachen durchgemacht, die du hoffentlich nie erleben musst – das macht sie aber nicht zu Freaks. Also sag mir bitte eins: Waren Luka oder Sammy zu irgendeinem Zeitpunkt gemein zu dir?“
Rusty sah zu Boden.
„Nein, waren sie nicht.“
„Was ist also das Problem? Ja, die zwei tragen oft Windeln. Aber niemand wird dich zwingen, mitzumachen. Noch schätze ich die beiden so ein, dass sie es dir unter die Nase reiben würden, nur um dich zu stören. Das es ungewohnt ist, glaube ich dir, dass ist es für mich auch, und ich hab schon ein bisschen mehr an Bewältigungsstrategien gesehen als du. Aber wenn du nur die Hälfte von dem durchgemacht hättest, was die beiden durchmachen mussten, und dir Windeln tragen helfen würde, dich sicher zu fühlen, könntest du darauf wetten, dass ich das unterstütze. Solange es niemand anderen stört oder schadet, wäre alles OK für mich.“
Rusty schloss beschämt die Augen, dann sah er zum Beifahrerfenster.
„Tut mir leid, Papa.“
Thomas seufzte.
„Nein, mir tut es leid. Das grade hätte ich nicht machen dürfen.“
„Es ist einfach alles noch zu viel für mich.“
„Das glaube ich dir, und das darf es auch sein. Aber versteh bitte, dass ich wirklich was für Jona empfinde.“
„Und Mama?“
„Was ist mit ihr?“
„Hast du sie wirklich geliebt? Oder hast du nur so getan, damit keiner merkt, dass du auf Männer stehst?“
Thomas seufzte erneut.
„Ich weiß warum du fragst. Und die Frage habe ich mir auch gestellt. Aber ich bin zu dem Ergebnis gekommen dass meine Gefühle für deine Mutter echt waren. Ich bereue nicht, mit ihr verheiratet gewesen zu sein, oder dich mit ihr bekommen zu haben.“
„Also bist du bi?“
„Ich halte nicht viel von solchen Kategorien. Ich weiß nur, dass ich mit Jona zusammen sein möchte. Und ich werde alles tun, was möglich ist, damit du auch mit ihm und seinen Jungs klarkommst.“
Rusty’s Blick wanderte über die Landschaft, die an ihm vorbeizog.
„Und wenn das einfach nicht geht?“ fragte er.
„Ich will glauben, dass es geht.“
Autor: Löwenjunge (eingesandt via E-Mail)
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Das ist eine super Arbeit weiter so
Danke für die Geschichte, i freue mich schon auf die Fortsetzung
Ich finds total süß und bin gespannt, wie es weitergeht.