Florians Schatten (25)
Dieser Eintrag ist Teil 25 von 26 der Serie Florians-Schatten Windelgeschichten.org präsentiert: Florians Schatten (25)
Die zwei nächsten Tage im Krankenhaus waren irgendwie lang und kurz zugleich. Ich weiß nicht genau, wie das geht, aber so hat es sich angefühlt.
Ich musste nochmal zu ein paar Untersuchungen. Da war dieses große Gerät, das so ein seltsames Geräusch gemacht hat – irgendwie leise und doch unheimlich. Und dann das Blutabnehmen. Davor hatte ich richtig Angst. Mein Bauch hat ganz komisch gekribbelt, und meine Hände waren eiskalt. Aber ich hab nichts gesagt. Hab einfach Pandi festgehalten und nach unten geschaut. Ich wollte nicht, dass jemand merkt, wie doll ich mich gefürchtet hab. Und ich glaub, keiner hat’s gemerkt.
Abends sind Annette und ich immer wieder ins Spielzimmer gegangen. Da waren Autos, Bücher, Figuren und diese Kiste mit den bunten Steinen. Ich hab sie angeschaut, aber diesmal hab ich sie nicht sortiert. Das hatte ich nur an dem einen Abend gemacht – als Maik noch da war. Der Junge, der die Steine auch immer nach Farben gelegt hat. Seitdem hab ich’s nicht mehr gemacht. Maik war nicht mehr da. Ich wusste nicht, wohin er gegangen ist. Vielleicht nach Hause. Ich hab ihn nicht richtig gekannt, aber es war trotzdem komisch, dass er einfach weg war.
Annette war immer bei mir, nicht nur im Spielzimmer, sondern auch beim Duschen, Zähneputzen und Umziehen. Das war für mich anfangs ungewohnt, weil ich solche Dinge früher allein gemacht habe und dachte, ich müsse sie auch allein erledigen. Aber mit ihr war es nicht schlimm. Im Gegenteil, es war sogar angenehm. Sie war sehr behutsam und hat nie gemeckert, wenn ich für etwas länger brauchte oder einfach schweigend nachdachte. Ich war ruhig und antworte nicht immer sofort, und Annette hat das akzeptiert. Es tat gut, jemanden zu haben, der mich sein lässt, wie ich bin, und einfach da ist.
Ich hab gemerkt, dass das gut ist. Dass es gut ist, wenn jemand hilft – auch wenn man schon „groß“ ist. Ich hab das nicht gekannt. Und manchmal fühlte es sich an, als würde mein Bauch ein bisschen weicher werden, wenn sie mir beim anziehen half oder meine Haare trocken gemacht hat.
Manchmal hat Annette mir morgens erzählt, dass ich in der Nacht wieder geweint hab. Dass ich ganz plötzlich wach geworden bin und gezittert hab, und dass sie mich gestreichelt und mit mir gesprochen hat, bis ich wieder eingeschlafen bin.
Aber ich wusste davon nichts. Gar nichts. Ich konnte mich nicht erinnern, als wäre das gar nicht passiert. Kein Bild, kein Geräusch, kein Gefühl. Nur der Morgen war dann manchmal irgendwie schwer. So, als hätte ich was Komisches geträumt, aber es vergessen.
Annette hat nie geschimpft. Sie hat mir das ganz ruhig erzählt, manchmal mit einem kleinen Lächeln, manchmal ein bisschen traurig. Und sie hat mich gefragt, ob ich noch weiß, was ich geträumt hab. Ich hab jedes Mal den Kopf geschüttelt. Es war einfach weg.
Und trotzdem… es war gut zu wissen, dass sie da war. Dass sie nicht wegging, auch wenn ich weine, ohne es zu merken. Dass sie bei mir lag und auf mich aufgepasst hat – auch dann, wenn ich’s selbst nicht mitbekomme.
Heute Morgen hatte ich richtig Bärenhunger. Mein Bauch hat schon geknurrt, da war es draußen noch dunkel. Ich hab mich auf das Frühstück gefreut – auf das Brötchen mit Butter und Marmelade. Und ein paar Apfelstücke.
Aber als ich dann am Tisch saß, ging es irgendwie nicht. Ich hab das Brötchen nur angeschaut, aber mein Bauch war ganz komisch. So, als würde alles darin drücken und gleichzeitig gar nicht richtig Platz haben. Ich hab ein paar Bissen genommen, aber dann hab ich’s wieder hingelegt. Selbst den Apfel hab ich nicht aufgegessen. Annette hat nichts gesagt, nur kurz meine Schulter gestreichelt.
Dann, kurz danach, klopfte es an der Tür. Drei Mal. Ich wusste sofort: Visite.
Frau Dr. Schneider kam wieder herein. Sie war nett. Neben ihr war heute eine neue Schwester – nicht Schwester Laura. Die hatte gestern gesagt, dass sie jetzt zwei Tage frei hat. Die neue Schwester lächelte und sagte: „Hallo Florian, ich bin Schwester Petra.“ Ich hab nur ganz kurz genickt.
Dr. Schneider schaute erst zu mir, dann zu Annette. „Wie war denn die Nacht?“
Ich sagte nichts. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Annette übernahm: „Unruhig. Er hat wieder geweint im Schlaf, aber ist schnell wieder eingeschlafen. Und… leider noch immer kein Stuhlgang.“
Ich hab mich sofort kleiner gemacht. Mein Kopf wurde warm. Ich hasse es, wenn über sowas gesprochen wird, und alle im Zimmer hören zu.
Dr. Schneider nickte langsam, als würde sie etwas abwägen. „Sieben Tage inzwischen, richtig?“ fragte sie, ohne hektisch zu wirken.
Annette nickte. „Ja. Und er bekommt ja auch hier weiterhin das Movicol, wie zuhause. Jeden Morgen, wie besprochen. Aber es hat sich bisher noch nichts getan.“
„Richtig“, bestätigte die Ärztin. „Wir haben es seit seiner Aufnahme auf der Kinderstation durchgehend niedrig dosiert gegeben, aber offenbar reicht das in diesem Fall nicht aus. Das kommt bei Kindern mit neurogener Blase und chronischer Verstopfung leider öfter vor.“
Dann schaute sie mich wieder an – mit so einem Blick, der nicht streng war, sondern ruhig und klar.
„Florian, ich erklär dir jetzt mal ganz genau, was wir machen wollen, okay? Es ist nichts Schlimmes – und auch nichts, wofür du dich schämen musst. Dein Bauch braucht einfach ein bisschen mehr Hilfe.“
Ich schaute auf Pandi. Ich mochte es nicht, wenn jemand über meinen Bauch redet.
„Florian, du bekommst gleich ein kleines Hilfsmittel, damit dein Bauch besser loslassen kann“, erklärte sie ruhig. „Das ist ein winziges Röhrchen mit einer Flüssigkeit, das wir dir ganz vorsichtig in den Po geben. Dein Bauch merkt dann: ‚Jetzt darf ich loslassen.‘ Es tut nicht weh, kann sich aber ein bisschen komisch anfühlen. Ich bin die ganze Zeit bei dir, wenn du das möchtest.“
Ich spürte, wie meine Schultern sich verkrampften. Ich wollte das nicht. Aber ich wusste auch, dass mein Bauch das brauchte.
„Wenn das heute nicht hilft“, sagte Frau Dr. Schneider weiter, „dann sprechen wir morgen über eine stärkere Dosis oder ein anderes Medikament. Aber das probieren wir erst einmal so. Ganz in Ruhe, ohne Druck.“
Annette legte ihre Hand auf meinen Rücken. „Ich bin da, mein Schatz. Und es ist wirklich nicht schlimm. Du musst dich für nichts schämen.“
Ich hab ganz langsam genickt. Nur ein bisschen. Aber genug, dass alle wussten: Ich hab’s verstanden. Auch wenn es mir trotzdem total peinlich war.
Nach den restlichen Untersuchungen, die ich inzwischen schon fast gewohnt war, war das hier etwas ganz anderes. Etwas, das ich nicht kannte. Und genau deshalb machte es mir so viel mehr Angst.
Ich lag auf dem Bett und hatte Pandi ganz fest im Arm. Mein Bauch fühlte sich an wie ein Stein. Kein richtiger Schmerz, aber so schwer, als hätte ich zu viel gegessen – obwohl ich heute fast gar nichts geschafft hatte beim Frühstück.
Dann kam Schwester Petra wieder. Ich kannte sie noch nicht so gut. Sie hatte dunkle Haare, einen freundlichen Mund, aber ich mochte es trotzdem nicht, wenn sie mich anschaute. Sie war fremd. Und sie hatte so einen kleinen Plastikbeutel in der Hand, mit einem langen, dünnen Schlauch dran. Ich wusste sofort, was das war. Frau Dr. Schneider hatte ja erklärt, dass mein Bauch ein bisschen Hilfe braucht. Und dass da eine besondere Flüssigkeit reinkommt, die dem Bauch sagt, dass er jetzt loslassen darf. Genau das war es. Ich wollte gar nicht so genau dran denken.
Ich schluckte. Mein Hals war trocken. Ich wollte nicht, dass sie das macht. Ich wollte überhaupt nicht, dass jemand da hinten was macht. Schon gar nicht jemand, den ich kaum kannte.
„So, Florian“, sagte sie sanft. „Ich erklär dir ganz genau, was ich jetzt mache, ja? Das ist nur ein kleiner Einlauf, damit dein Bauch sich entspannen kann. Es ist nicht schlimm und geht ganz schnell.“
Ich nickte nicht. Ich sagte auch nichts. Ich drückte Pandi einfach fester an mich, und Annette saß neben mir und hielt meine Hand. Sie spürte bestimmt, dass ich mich ganz steif gemacht hatte.
„Dann schauen wir mal“, sagte Schwester Petra sanft und beugte sich ein wenig zu mir herunter. „Magst du dich dafür kurz hinlegen, Florian?“
Ich saß auf der Bettkante, ganz nah bei Annette. Als ich zögerte, legte sie mir beruhigend die Hand auf den Rücken. Ich ließ mich langsam zurückgleiten, ein bisschen steif, weil ich nicht wusste, was jetzt genau passiert.
Schwester Petra holte so eine knisternde, große Papierdecke hervor. Sie fühlte sich an wie eine Mischung aus Windel und Tischdecke. Ganz raschelig und kühl. Sie schob sie vorsichtig unter meinen Po, damit nichts auf die Matratze kam, „nur zur Sicherheit“, sagte sie.
Dann beugte sie sich wieder vor und lächelte mich an. „Ich zieh dir jetzt nur kurz die Hose ein Stück runter, ja?“
Ich nickte nicht, aber ich ließ es zu. Ihre Hände waren ruhig und schnell. Sie öffnete die Hose, schob sie vorsichtig über meinen Po und die Beine, gerade so weit, wie sie musste. Ich fühlte mich dabei plötzlich wieder ganz klein. Klein und gleichzeitig irgendwie durchscheinend, als könnte jeder alles sehen, was ich nicht zeigen wollte.
Sie machte meine Windel auf. Das war der schlimmste Moment. Ich wurde ganz heiß im Gesicht. Ich wollte mich verstecken, einfach weg sein. Ich wusste, dass sie sieht, dass die Windel schon ein bisschen nass war. Nicht schlimm-nass, aber doch nass. Ich konnte nichts dafür. Ich hatte es gar nicht richtig gemerkt. Und trotzdem… es war so peinlich. Als würde man dabei erwischt, dass man ein Baby ist.
Ich starrte an die Decke. Ich versuchte, nicht zu weinen.
„Alles gut, mein Schatz“, flüsterte Annette leise, ganz nah an meinem Ohr. Ihre Hand war warm.
Dann kam dieses komische Gefühl. Schwester Petra hatte irgendwas Kaltes auf mein Popo gemacht, und dann… schob sie das Ding hinein. Es brannte nicht, aber es war… fremd. Mein Körper wollte es nicht. Es war, als würde mein Bauch sich erschrecken. Ich zuckte kurz, obwohl ich versuchte, still zu bleiben. Ich wollte kein Theater machen. Ich wollte nur, dass es vorbei ist.
„Du hast das super gemacht, Florian“, sagte sie ruhig und lobend, als sie fertig war. Dann sah sie zu Annette.
„Möchten Sie ihm die frische Windel anlegen, Frau Wagener?“
Annette wirkte kurz überrascht. „Ich dachte, es wäre vielleicht besser, wenn er sich dann aufs Klo setzt?“
Schwester Petra schüttelte sanft den Kopf. „Es kann bis zu dreißig Minuten dauern, bis es wirkt. Und bei Kindern wie Florian ist es oft so, dass der Druck plötzlich kommt – und manchmal merken sie’s zu spät. Es wäre gut, wenn er in dieser Zeit einfach entspannen kann. Wenn er merkt, dass es drückt und Bescheid sagt, können wir natürlich mit ihm zur Toilette gehen. Aber wenn’s in die Windel geht, ist das wirklich kein Problem.“
Dann lächelte sie mich an, aber nicht so, wie manche Erwachsene, wenn sie denken, man sei komisch. „Ich kann ihn auch gerne sauber machen, das macht mir nichts aus. Ich mach das oft.“
Aber da schüttelte Annette sofort den Kopf. „Nein, danke. Ich kümmere mich darum. Das ist mein Sohn. Und mir macht das wirklich nichts aus.“
Ich hörte, wie sie das sagte, und obwohl ich mich immer noch schämte, war da plötzlich ein warmes Gefühl in meinem Bauch. Nicht von dem Klistier – sondern, weil sie das gesagt hatte. Weil sie meinte, ich wäre ihr Sohn. Und dass es ihr nichts ausmacht, sich um mich zu kümmern. Auch wenn’s eklig ist.
Sie legte mir ganz vorsichtig die frische Windel an. Ihre Hände waren sanft, aber sicher. Sie sagte nichts dabei, nur dass ich mal kurz den Po heben sollte. Ich half mit, so gut ich konnte. Ich fühlte mich trotzdem seltsam. Wie zwischen groß und klein. Als würde ich in zwei Richtungen gleichzeitig gezogen.
Als sie die Windel festklebte, atmete ich leise durch. Es war vorbei. Für jetzt.
„Fertig“, sagte Annette, und lächelte mich an. „Jetzt lassen wir deinen Bauch mal ein bisschen arbeiten, okay? Ich bleib bei dir.“
Ich nickte ganz leicht. Ich wusste nicht, ob ich wollte, dass es klappt oder nicht. Aber ich wusste: Ich war nicht allein.
„Ich lass euch jetzt erstmal ein bisschen in Ruhe“, sagte Schwester Petra und lächelte dabei. „Wenn was ist, einfach klingeln, ja? Die Wirkung sollte in der nächsten halben Stunde einsetzen.“
Ich nickte nicht. Ich schaute nur auf den Boden. Während sie zur Tür ging. Als sie draußen war, wurde es plötzlich ganz still im Zimmer. Nur das Ticken der Uhr war zu hören. Und mein Bauch. Der gluckerte leise, als hätte er selbst nicht gewusst, was jetzt passieren würde.
Annette rückte näher und setzte sich aufs Bett. Dann streckte sie die Arme nach mir aus. „Magst du zu mir auf den Schoß kommen?“
Ich krabbelte langsam zu ihr. Eigentlich war ich es inzwischen gewohnt, eine Windel zu tragen – aber in diesem Moment fühlte es sich trotzdem seltsam an, damit auf ihren Schoß zu klettern. Irgendwie klein. Und doch war es auch schön. Warm. Sicher.
Sie schob meine Haare aus der Stirn und schaute mich an. „Alles okay bei dir, Flo?“
Ich zuckte mit den Schultern. Dann flüsterte ich: „Ich hab Angst, dass es weh tut… wenn ich groß mach.“
Sie sagte erst nichts. Ihre Hand streichelte mir den Rücken, ganz langsam, ganz ruhig. Dann sagte sie leise: „Ich versteh das. Aber dein Bauch weiß jetzt, dass er loslassen darf. Und ich bin da, okay? Wenn was weh tut, sagst du’s einfach.“
Sie drückte mich ein kleines Stück fester an sich und fuhr leise fort: „Und wenn du merkst, dass es kommt, dann sag’s mir einfach. Dann gehen wir ganz schnell zusammen auf die Toilette, ja?“
Ich nickte nicht, aber ich hörte genau zu.
„Und wenn’s nicht rechtzeitig klappt und es in die Windel geht, dann ist das auch nicht schlimm“, fügte sie noch hinzu. Ihre Stimme war ganz warm, fast ein Flüstern. „Wirklich nicht, Florian Ich bin hier, und wir kriegen das hin. So oder so.“
Da wurde mein Bauch ein kleines bisschen ruhiger. Nicht ganz. Aber so, dass ich wieder atmen konnte.
Ich nickte wieder nicht. Aber ich kuschelte mich ein Stück mehr an sie.
Dann griff sie in die Tasche neben dem Bett und holte zwei Autos heraus – das gelbe mit dem großen Reifen und das silberne Polizeiauto. Mein Polizeiauto.
„Was meinst du… welcher von den beiden rollt heute am weitesten?“, fragte sie mit einem kleinen Lächeln.
Ich schaute sie an. Mein Herz klopfte nicht mehr so schnell. Ich wusste genau, worauf sie hinauswollte. Ich sollte abgelenkt werden. Und es funktionierte. Ich sah auf das Polizeiauto in ihrer Hand und sagte mit leiser Stimme, aber ganz sicher: „Das Polizeiauto ist schneller.“
„Na dann“, sagte Annette, „los geht’s.“
Sie stand auf, und ich rutschte von ihrem Schoß. Wir setzten uns auf den Fußboden, nebeneinander. Der Boden war glatt – gut zum Rollen.
Ich nahm das Polizeiauto in beide Hände, drehte es einmal kurz an den Rädern, dann gab ich ihm richtig Schwung. Es sauste über den Boden, schnell und geradeaus, bis es gegen den Schrank stieß und ein leises Klack machte. Ich grinste ein bisschen.
Annette nahm den gelben Jeep. Sie ließ ihn los – schnell, aber nicht zu schnell. Er rollte ein Stück, aber nicht so weit wie meiner. Ich merkte das sofort. Sie hatte mich gewinnen lassen.
Ich sagte nichts. Ich schaute nur kurz zu ihr rüber. Und sie schaute ganz normal zurück, als wäre das gar nicht wichtig.
Aber in meinem Bauch war auf einmal ein ganz warmes Gefühl. Nicht vom dem komischen Zeug, sondern von ihr.
Und dann, ganz plötzlich, fiel mir etwas ein. Ich wusste wieder, wie wir uns das erste Mal begegnet sind. Im Wohnzimmer bei Diana. Ich hatte mit Nathanaels Autos gespielt – und sie hatte irgendwann ein Auto zu mir zurückgerollt. Ganz vorsichtig, ohne was zu sagen. Nur so. Damit ich wusste, dass sie da ist.
Ich werde das nie vergessen. Und jetzt war es wieder da. Dieses Gefühl. Dass sie wirklich bleibt. Und dass sie mich versteht – auch wenn ich nichts sage.
Wir hatten die Autos jetzt schon ein paar Mal hin und her fahren lassen. Erst hat mein Polizeiauto wieder gewonnen, dann der gelbe Jeep, und dann hab ich extra nur ganz leicht geschoben, damit Annette mal richtig gewinnt. Sie hat mich angeschaut und gelächelt, aber nichts gesagt. Ich mochte das. Dieses Spielen. Dieses einfache Hin und Her.
Dann rollte mein Polizeiauto plötzlich ganz weit weg – fast bis an die Tür. Ich stand auf, um es zu holen.
In dem Moment fühlte sich mein Bauch komisch an. Nicht nur ein bisschen drücken. Sondern richtig komisch. Als würde da drinnen jemand plötzlich ganz laut rufen: Jetzt!
Ich beugte mich runter, um das Auto aufzuheben – und da war es. Ganz plötzlich. Ein starker Druck, als würde etwas sofort rauswollen. Ich hielt mir die Hand an den Po und versuchte es aufzuhalten. Ganz fest. Ich wollte nicht, dass es einfach passiert. Nicht jetzt. Nicht hier.
Ich sagte nichts – sah nur panisch zu ihr. Hilfesuchend. Und sie war sofort bei mir, als hätte sie genau gewusst, was los war.
„Komm, wir gehen schnell zur Toilette“, sagte sie ruhig und streckte mir die Hand entgegen. Aber ich konnte nicht mehr aufstehen. Es war schon zu spät.
Mit einem Schlag kam es. Einfach so. Ich konnte nichts dagegen tun. Es tat kurz weh – so, als würde mein Bauch noch einmal protestieren, weil er so lange gewartet hatte. Ich presste die Augen zu, und plötzlich liefen mir die Tränen übers Gesicht. Einfach, weil ich mich so hilflos fühlte.
Annette kniete sich neben mich und hielt meine Hand. „Lass es raus, mein Schatz“, flüsterte sie. „Gleich geht’s dir besser.“
Ich hockte da, mein ganzer Körper angespannt, aber ich drückte ein wenig nach – vorsichtig. Da kam noch mehr. Es tat diesmal nicht weh, aber es fühlte sich ganz komisch an. Eklig. Warm. Und es roch sofort richtig schlimm. Ich schämte mich. So sehr. Ich spürte, wie die Windel voll wurde, und ich hatte das Gefühl, sie platzt gleich. Als wäre da drin viel zu wenig Platz für das alles, was aus meinem Bauch rauswollte.
Es hörte gar nicht auf. Es kam noch mehr. Und noch mehr. Und ich konnte nichts machen. Ich konnte mich nicht wehren, ich konnte es nicht stoppen. Ich fühlte mich so klein. So ausgeliefert. Und gleichzeitig – irgendwie – war mein Bauch plötzlich leichter. Das Drücken, das komische Gefühl, das ich die letzten Tage fast vergessen hatte, weil es immer da war… das war weg. Einfach weg. Als hätte jemand etwas Schweres von mir runtergenommen.
Ich atmete tief ein, zitterte dabei, und dann sah ich Annette an. Ihre Augen waren weich, voller Wärme. Sie sagte kein einziges Wort darüber, was passiert war. Sie streichelte mir nur über den Rücken – obwohl ich mir sicher war, dass auch da was hingekommen war. Es fühlte sich so klebrig an, so warm und eklig.
Ich weinte noch. Leise. Weil es so viele Gefühle auf einmal waren. Die Scham. Der Ekel. Das komische, warme Gefühl an meinem Hintern. Und dann… diese riesige Erleichterung in meinem Bauch.
Und Annette war einfach da. Sie hielt meine Hand und sagte nur ganz leise: „Du hast das richtig gut gemacht, Flo. Jetzt ist es vorbei.“
Annette half mir hoch. Ganz vorsichtig, ohne zu ziehen, nur mit ihrer Hand in meiner. Ich fühlte mich schwach, ein bisschen wackelig, wie nach Fieber. Ich wollte mich am liebsten gleich wieder hinsetzen, aber sie hielt mich sanft fest.
„Bleib kurz hier stehen, mein Schatz, ja?“ sagte sie leise.
Ich nickte ganz leicht und sah zu, wie sie das Bett vorbereitete. Sie breitete diese raschelnde Unterlage aus – die, die vorhin schon da lag. Die, die sich anfühlt wie eine riesige Windel für das Bett. Sie glättete sie mit der Hand und sah dann wieder zu mir.
„Jetzt zieh ich dir erstmal dein Shirt aus, okay?“
Ich ließ es zu. Ich dachte, es wäre auch schmutzig, aber es war nichts dran. Kein Fleck. Ich war irgendwie überrascht. Nur mein Bauch fühlte sich noch warm an. Und komisch leer.
Dann hob sie mich mit beiden Armen hoch, so wie sie es immer tat, wenn ich müde war. Sie setzte mich ganz sanft auf die Unterlage, sodass ich fast nichts spürte. Ich hielt Pandi fest im Arm und schaute an die Decke, weil ich nicht sehen wollte, was sie jetzt tat.
„Ich ziehe dir jetzt die Hose aus, ja?“ sagte sie ruhig, aber ich spürte, dass sie schon begann, und wie schlimm die Hose dran war. Ich schämte mich. Ich wollte, dass es einfach schon vorbei ist.
Die Hose war nicht so glimpflich davon gekommen. Als sie sie auszog, spürte ich, wie alles ein bisschen klebte. Der Geruch war sofort wieder da – noch stärker als vorher. Ich verzog das Gesicht, weil ich es selbst kaum aushielt.
Annette sagte nichts dazu. Gar nichts. Kein „Ohje“ oder „Puh“, kein Stirnrunzeln, kein genervtes Seufzen. Nur diese ruhigen, sicheren Bewegungen, mit denen sie die Hose zur Seite legte und dann mit Tüchern begann, mich zu säubern.
Ich schloss die Augen. Ich wollte nicht hier sein. Nicht jetzt. Ich fühlte mich wie ein Baby. Wie jemand, der alles falsch gemacht hat. Aber ihre Hände waren ganz sanft. Sie sprach dabei nicht viel, nur ab und zu ein leises: „Gleich geschafft.“ Oder: „Tut das weh? Sag’s mir ruhig.“
Ich schüttelte den Kopf. Es tat nicht weh. Es war nur… eklig. Und peinlich. Aber sie machte einfach weiter, ganz ruhig. Und irgendwann war alles sauber.
Sie zog mir eine neue Windel an. Eine frische, weiche. Ich spürte das Rascheln, das Kleben der Klebestreifen, und wie sie noch einmal über den Bund strich, damit alles richtig saß. Dann holte sie aus der Tasche eine neue Hose und zog sie mir vorsichtig an.
Ich sagte immer noch nichts. Ich konnte nicht. Zu viele Gefühle auf einmal.
Annette beugte sich zu mir, legte mir eine Hand auf die Wange und sah mich mit ihren warmen Augen an.
„Na, fühlst du dich jetzt ein bisschen besser?“
Ich nickte. Und dann rutschte ich einfach nach vorne, in ihre Arme. Ich klammerte mich an sie, drückte mein Gesicht an ihren Hals. Sie roch nach Annette. Nach Zuhause. Und ich flüsterte nur: „Danke.“
Sie hielt mich fest. Ganz fest. Und sagte leise in mein Ohr: „Aber nicht dafür, mein Schatz. Wichtig ist, dass es dir besser geht.“
Annette nahm die benutzte Windel und die Wickelunterlage vorsichtig auf. Dann trug sie das ganze Bündel ins Bad. Ich hörte, wie der Eimerdeckel leise klappte. Danach kam sie zurück, ging zum Fenster und öffnete es einen Spalt.
„Ich mach nur kurz auf, damit ein bisschen frische Luft reinkommt, ja?“ sagte sie ruhig.
Ich nickte. Aber in meinem Bauch zog sich was zusammen. Ich bekam gleich ein schlechtes Gewissen. Ich war schuld, dass es hier jetzt so komisch roch. Dass das Fenster auf sein musste. Dass alles… eklig war. Meinetwegen.
Ich drehte mich weg und zog die Beine an, ganz eng. Pandi lag neben mir und ich drückte ihn fest gegen die Brust. Ich sagte nichts.
Da klopfte es. Die Tür ging auf, und Schwester Petra kam herein. Sie blieb kurz stehen und schaute uns an.
„Und, wie schaut’s aus?“, fragte sie freundlich, trat aber nicht gleich näher.
Dann machte sie einen kleinen Schritt und hielt kurz inne. Ich sah, wie sie die Nase ein wenig rümpfte – aber nur ganz, ganz leicht. Dann lächelte sie. Nicht spöttisch. Sondern irgendwie… normal.
„Na, ich nehme an, der Bauch hat sich gemeldet?“ sagte sie mit einem Augenzwinkern, fast wie ein Geheimcode zwischen Erwachsenen.
Ich schaute auf meine Knie. Ich wusste, dass sie es gerochen hatte. Aber sie hatte es nicht böse gesagt.
Annette nickte und antwortete leise: „Ja, es hat gewirkt. Und jetzt geht’s ihm schon viel besser.“
Ich merkte, wie meine Schultern ein bisschen lockerer wurden. Vielleicht war es doch nicht ganz so schlimm, wie ich gedacht hatte.
Später am Nachmittag saßen Annette und ich gemeinsam auf dem Bett. Sie hatte sich schräg hinter mich gesetzt, und ich lehnte mich mit dem Rücken leicht an sie. Ihr Arm war um mich gelegt, und in ihrem Schoß lag das aufgeschlagene Buch. Es war eins mit bunten Bildern und kleinen Geschichten, die man nicht der Reihe nach lesen musste. Ich blätterte gerade durch, zeigte ihr immer wieder irgendwas – ein Eichhörnchen mit einem Schal, ein Kind mit einem Regenschirm, der verkehrt herum im Wind flog.
Annette las mir leise ein paar Sätze vor, dann fragte sie: „Was glaubst du, wo das Eichhörnchen seinen Schatz versteckt hat?“
Ich deutete auf ein Loch im Baum. „Da drin. Oder vielleicht im Blumentopf auf dem Balkon.“
Sie lachte leise, und ich mochte das Geräusch. Es kribbelte so warm in meinem Bauch. Ganz anders als das komische Drücken vorher.
Da klopfte es an der Tür. Schwester Petra steckte den Kopf herein und trat dann ganz ins Zimmer.
„Hallo ihr zwei“, sagte sie freundlich. Wir schauten beide hoch. Ich blieb an Annette gelehnt.
„Ich wollte euch kurz was Schönes sagen“, fuhr sie fort, ein bisschen leiser als sonst, fast wie bei einem Geheimnis. „Die Ärztin hat eben Bescheid gegeben: Wenn morgen bei der Visite alles gut aussieht, dürft ihr nach Hause. Früh am Vormittag.“
Ich spürte, wie ich für einen Moment still wurde. Ganz still. In meinem Kopf war das Wort zuhause plötzlich riesengroß. Ich dachte an mein Zimmer. An mein Kissen. An die Lego Eisenbahn auf dem Regal. An den Geruch nach Waschmittel.
Annette strich mir übers Haar. Ich sah zu ihr hoch, und sie lächelte. Warm. Sicher. Fast ein bisschen so, als hätte sie gewusst, dass ich genau das jetzt gebraucht habe.
„Das klingt schön“, sagte sie.
Ich sagte nichts. Aber ich kuschelte mich ein kleines Stückchen enger an sie. Und in meinem Bauch machte sich ein Gefühl breit, das ich nicht ganz einordnen konnte. Es war ein bisschen wie Aufregung, ein bisschen wie Erleichterung – und ganz viel Vorfreude.
Sebastian:
Die letzten zwei Tage waren merkwürdig.
Nachdem die Polizei am Dienstagmorgen den ganzen Hof auf den Kopf gestellt hatte, war erst mal Aufräumen angesagt. Papa und ich haben das Gröbste gleich danach gemacht – Schubladen wieder einsortiert, das alte Regal in der Diele aufgerichtet, das irgendeiner umgerannt hatte, als wäre es im Weg gewesen. In der Küche waren noch Fußspuren auf den Fliesen, vom Matsch draußen. Ich weiß nicht, ob sie mit dreckigen Schuhen einfach überall reingelatscht sind oder ob es mir nur so vorkam.
Mein Zimmer war am schlimmsten. Also… nicht im wörtlichen Sinn. Es war alles noch da. Nur halt… durchwühlt. Offensichtlich. Da waren fremde Hände an meinen Sachen. An meinen Notizen. Meinem Rucksack. Sogar meine Wäsche war nicht verschont geblieben. Ich hab alles wieder dahin geräumt, wo es hingehört – aber es fühlt sich trotzdem noch nicht wieder richtig an. Als hätte jemand etwas genommen, das nicht wieder zurückgelegt werden kann. Nicht sichtbar, aber spürbar.
Elfi und Erik waren zurückhaltend. Sie hatten mitbekommen, was am Wochenende und Dienstag passiert war, klar. Im Dorf spricht sich sowas rum wie ein Lauffeuer. Aber sie haben nichts gefragt. Keine neugierigen Kommentare. Kein „Was war denn da los?“ – nur Blicke, die mehr sagten als Worte. Papa hat es dann trotzdem kurz angesprochen, als wir nachmittags gemeinsam Kaffee tranken. Hat erklärt, dass es um eine laufende Ermittlung geht, dass wir nichts falsch gemacht haben, und dass sich alles aufklären wird. Mehr nicht.
Aber das Dorf war natürlich nicht still. Am Dienstag war die Polizei das Hauptthema. An der Tanke, beim Bäcker, sogar im Hofladen. Ich hab einmal mitbekommen, wie jemand draußen auf dem Parkplatz „Hausdurchsuchung hier auf dem Hof“ gesagt hat. Ich bin drin geblieben.
Papa hatte noch am selben Tag den Anwalt angerufen. Einen, den er früher schon mal wegen was Geschäftlichem gebraucht hatte. Der war ruhig geblieben, hat gesagt, er beantragt sofort Akteneinsicht. Er meinte, das könne ein paar Tage dauern – drei bis fünf Werktage, je nachdem, wie schnell die Staatsanwaltschaft die Akte rausgibt. Anfang nächster Woche würde er sich melden, hat er gesagt. Papa nickte nur, als er aufgelegt hatte. Ich glaube, er will uns beschützen, aber man merkt, dass ihn das Ganze mehr beschäftigt, als er zugibt.
Der Hof sieht mittlerweile fast wieder aus wie vorher. Fast. Nur in meinem Zimmer ist noch was anders. Nicht äußerlich. Aber innen drin. Da sind Dinge gewesen, die nicht hätten da sein dürfen. Und ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis sich das wieder normal anfühlt.
Am späten Nachmittag kam ich gerade wieder ins Haus, die Stiefel noch voller Stroh und der Geruch von Heu und Winterluft in der Jacke. Ich hatte eben die Kühe gefüttert, die Tränken kontrolliert und noch kurz mit Erik gesprochen, der sich wie immer um den Kälberstall gekümmert hatte. Es war kalt draußen, so richtig klirrend kalt, aber irgendwie tat das gut. Die Kälte draußen fühlte sich ehrlicher an als das komische Durcheinander in meinem Kopf.
Drinnen war es warm, der Ofen bollerte leise vor sich hin, und ich wollte mir gerade die Jacke ausziehen, als das Telefon klingelte. Papas Stimme war gedämpft – nicht angespannt, aber konzentriert. Ich konnte nicht hören, was der andere am Ende der Leitung sagte, aber als Papa auflegte, sah er kurz auf das Display, dann zu mir.
In seinem Gesicht lag ein Ausdruck, den ich in den letzten Tagen vermisst hatte. Irgendwas zwischen Erleichterung und vorsichtiger Freude.
„Das war das Mama“, sagte er. „Sie und Florian dürfen morgen wahrscheinlich nach Hause.“
Ich blieb stehen. Für einen Moment war alles still in mir. Dann nickte ich langsam. Und plötzlich wurde es ein bisschen wärmer. Nicht im Zimmer – das war es ja schon – sondern… in mir drin.
Mama fehlt. Mehr, als ich gedacht hätte. Nicht nur, weil sie organisiert oder weiß, wo alles steht. Sondern weil sie fehlt, wenn sie nicht da ist. Weil ohne sie alles irgendwie leerer wirkt, selbst wenn wir versuchen, so zu tun, als wär’s wie immer.
Und Florian… Florian kenn ich eigentlich kaum. Aber es war vom ersten Moment an so, als würde er dazugehören. Er ist still, vorsichtig, manchmal fast durchsichtig – aber irgendwie echt. Echt im besten Sinne. Und ich hab ihn längst ins Herz geschlossen. Er ist mein kleiner Bruder auch wenn ich ihn kaum kenne – irgendwie fühlt es sich trotzdem so an.
Ich freu mich, dass er wiederkommt. Dass sie beide wiederkommen. Vielleicht wird dann endlich wieder ein bisschen Ruhe einkehren. Nicht komplett – das wär naiv. Aber genug, dass wir durchatmen können. Und das reicht erstmal.
Annette:
Ich hatte eben mit Markus telefoniert. Wie fast jeden Abend, seit wir im Krankenhaus sind. Immer dann, wenn Florian schläft. Ich hatte gefragt, wie es Zuhause läuft, ob alles in Ordnung ist, wie es Sebastian geht.
Markus meinte, es wäre soweit alles ruhig. Nur der Dienstagmorgen habe gesessen – verständlich. Aber es war gut, dass wir gesprochen haben. Auch über Sebastian. Markus hat mir erzählt, dass er an dem Morgen, direkt nach dem Polizeieinsatz, für einen Moment die Fassung verloren hat. So richtig. Das war schon lange nicht mehr passiert – das letzte Mal mit vierzehn oder fünfzehn, als die Pubertät ihn voll erwischt hatte. Wenn er aus der Fassung gerät, dann ist vorher viel in ihm aufgestaut.
Heute hat Markus Florian sogar selbst noch eine gute Nacht gewünscht. Ich hatte ihn gefragt, ob er mit Florian sprechen will, und er hat sofort ja gesagt. Florian hat erst verwirrt geschaut, als ich ihm das Telefon ans Ohr hielt, aber dann hat er sich doch gefreut.
Morgen dürfen wir nach Hause. Ich hab’s Markus gesagt, und man konnte hören, wie sehr er sich gefreut hat.
Ich hatte Florian versprochen, dass wir noch eine Geschichte lesen, bevor er einschläft. Er hatte sich schon ins Bett gekuschelt, Pandi im Arm, und wartete auf mich. Der Tag war lang. Heute früh war der Einlauf gewesen – endlich, muss man sagen. Ich war erleichtert, dass es ihm jetzt besser geht. Es war dringend nötig. Danach hatte er zwar noch eine Weile gebraucht, um sich wieder wohlzufühlen, aber spätestens beim Mittagessen merkte man, dass in seinem Bauch endlich wieder Platz war. Er hat richtig gut gegessen. Nur das Trinken… das bleibt schwierig. Er trinkt ein paar Schlucke, und dann vergisst er es wieder. Ich erinnere ihn ständig, aber ich will auch keinen Druck machen.
Am Nachmittag waren wir noch einmal im Spielzimmer. Florian hatte dort mit den bunten Bausteinen einen Turm gebaut – so hoch, dass er am Ende größer war als er selbst. Ich musste lachen, als er ganz stolz davorstand, die Hände in die Hüften gestemmt, und sein eigenes Werk betrachtete. Wenn er erstmal richtig im Spiel ist, blendet er alles um sich herum aus. Dann ist nur noch das „Jetzt“ da – das Bauen, das mit den Autos fahren, und volle Konzentration. Und in solchen Momenten wirkt er fast wie ein ganz normales Kind.
Ich war froh, dass es heute keine weiteren Zwischenfälle gab. Keine Angst, keine Tränen. Nur wir zwei. Und jetzt – unser Abendritual.
Wir hatten das Buch schon aufgeschlagen. Florian durfte immer den ersten Satz eines Abschnitts lesen, ich las dann den Rest. Ich ließ ihm Zeit. So viel, wie er brauchte. Manchmal las er Wörter, die gar nicht dastehen. Oder vertauschte Buchstaben. Ich half ihm leise, ließ ihn die Stelle noch einmal langsam lesen, zeigte mit dem Finger auf die Silben. Ich wusste nicht, ob das wirklich hilft – bisher hatte ich nicht den Eindruck, dass es viel verändert. Aber wenn es hilft, dann braucht es wohl einfach Zeit.
Und Zeit… Zeit nehmen wir uns. Jetzt, wo wir bald wieder Zuhause sind.
Florian lehnte sich an mich, warm und schwer, wie nur ein Kind sein kann, das langsam müde wird. Wir saßen noch immer nebeneinander im Bett, das Buch auf unseren Knien, die Decke über unsere Beine geschlagen.
Er wollte heute Abend wieder selbst ein Stück lesen. Es war nicht leicht für ihn, das wusste ich. Die Buchstaben hüpften, manchmal verwechselte er Wörter oder ergänzte welche, die gar nicht dastanden. Aber er wollte es unbedingt. Und ich bewunderte seinen Willen.
„Der… Fuh… Fuchs wollte nur noch Bären essen…“
Ich lächelte und strich ihm sanft über den Rücken. „Beeren, mein Schatz. Nicht Bären. Die sind vielleicht ein bisschen zu groß für einen kleinen Fuchs.“
Er schaute mich verlegen an und musste selbst ein bisschen lachen. Ich merkte, dass er sich anstrengte. Dass es ihm wichtig war. Ich lobte ihn jedes Mal, wenn er ein Wort richtig erwischte, und wenn er eins falsch las, ließ ich ihn ganz in Ruhe nochmal hinschauen. Es ging nicht darum, dass alles perfekt war. Es ging nur darum, dass er es versuchte. Und das tat er – mit allem, was er hatte.
Als ich den nächsten Abschnitt übernahm, kuschelte er sich näher an mich. Ich las von dem kleinen Fuchs, der nur Beeren essen wollte, bis sein Bauch weh tat. Und von der Fuchsmama, die sagte, dass man nur groß und stark wird, wenn man auch mal etwas anderes probiert.
„Die Moral?“ fragte ich schließlich leise, als ich die Seite umschlug.
Er seufzte schwer. „Man muss gesund essen“, murmelte er. Und schob Pandi ein Stück näher an sich.
Ich schloss das Buch, legte es beiseite und strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn. „Richtig“, flüsterte ich. „Aber heute warst du schon richtig tapfer. Und ich bin ganz stolz auf dich.“
Er antwortete nicht mehr. Seine Augen waren schon halb geschlossen, die Wimpern zitterten kaum noch. Ich lehnte mich langsam zurück, zog ihn mit mir, und er rollte sich wortlos in meine Arme. Ganz selbstverständlich. So, als wäre das hier unser Zuhause. Vielleicht war es das ja auch gerade.
Ich hielt ihn sanft, seine kleine Hand in meiner, und spürte, wie sein Atem sich beruhigte. Wurde langsamer. Tiefer.
Ich beugte mich leicht vor, küsste ihn auf den Kopf und flüsterte ihm ganz leise zu:
„Süße Träume, mein Schatz. Ich hab dich lieb. Und ich bin so froh, dass du da bist.“
Er antwortete nicht. Aber ich spürte, wie er sich noch ein kleines bisschen näher an mich schmiegte, bevor er ganz in den Schlaf glitt.
Fortsetzung folgt….
Autor: Michaneo | Eingesandt via Mail
Diese Geschichte darf nicht kopiert werden.
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Schöne Fortsetzung der Geschichte endlich dafür er wieder nach Hause mal schauen was noch so Passiert
Hallo GastUser69,
vielen lieben Dank für deinen Kommentar es freut mich sehr, dass dir die Fortsetzung gefallen hat. Ja, endlich geht es für ihn wieder nach Hause… und was dort noch alles passiert, wird sich Stück für Stück zeigen.
Liebe Grüße,
Michaneo
Ich schmelze vor Behaglichkeit! Ich liebe deinen einfühlsamen, sanften schreibstil und hoffe sehr, dass pierre bekommt was er verdient und Sebastian sein Studium problemlos abschließen kann.
Hallo Nappybaby,
vielen Dank für deinen wunderbaren Kommentar es bedeutet mir wirklich viel, dass du so mitfühlst.
Pierre wird sich dem stellen müssen, was er angerichtet hat auf seine Weise, und nicht ohne Konsequenzen. Und Sebastian… er hat gerade viel zu tragen. Ich hoffe sehr, dass er diese schwere Zeit übersteht und vielleicht sogar etwas daraus mitnehmen kann, das ihn auf seinem Weg stärkt.
Alles Liebe
Michaneo
Super hat mich gefreut
Bitte mehr
Wenn ich das sagen darf
Hallo Erwin, vielen lieben Dank, das freut mich wirklich sehr! Und natürlich darfst du das sagen solche Rückmeldungen bedeuten mir viel und geben mir Motivation, weiterzuschreiben.
Herzliche Grüße
Michaneo
Hallo Michaneo,
ich hab zwar schon bei deinem Kommentar unter meiner Geschichte ein paar Worte dazu verloren, aber nach deinem ausführlichen Feedback, wollte ich jetzt auch nochmal ein bisschen mehr Rückmeldung hinterlassen. 🙃
Hauptsächlich wollte ich nochmal sagen, wie sehr mir die Geschichte gefällt. Man kann sich wirklich super in die Charaktere hineinfühlen. Schon bei den ersten Kapiteln hatte ich immer mal wieder Tränen in den Augen, was zeigt, dass du wirklich schreiben kannst.
Manche Aspekte in der Perspektive von Florian sind sogar so gut getroffen, dass ich mich zugegeben schon ein paar mal gefragt habe, was man eigentlich erlebt haben muss, um sich da beim Schreiben so gut reinversetzen zu können.
Am liebsten würde ich mich ja manchmal direkt selbst um Florian kümmern und ihm sagen, wie toll er ist. Man muss diesen Jungen einfach lieb haben! 😄
Lieber Lucas 2242,
dein Kommentar hat mich sehr berührt ganz herzlichen Dank dafür. Es freut mich besonders, wenn solche Worte von jemandem kommen, der selbst schreibt und weiß, wie viel Herzblut, Zweifel und Arbeit oft in einer Geschichte stecken.
Dass dich die Geschichte emotional so mitgenommen hat, gerade in den ersten Kapiteln bedeutet mir sehr viel. Auch beim Schreiben fließen manchmal Tränen, vor allem wenn ich mich in bestimmte Situationen hineinversetze. In den letzten Teilen war es vielleicht etwas ruhiger, aber auch das spiegelt ja manchmal die Realität wider.
Was Florians Perspektive angeht: Ja, da gibt es durchaus Parallelen zu meiner eigenen Kindheit. Das Schreiben ist für mich nicht nur Ausdruck, sondern auch ein Stück weit Verarbeitung eine Form von Selbsttherapie. Umso mehr berührt es mich, wenn jemand wie du sich in Florian hineinfühlen kann und ihn so ins Herz schließt.
Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, mir so offen und wertschätzend zu schreiben.
Liebe Grüße
Michaneo
Bin sehr gespannt auf die Fortsetzung
Hallo Ben,
danke ich auch.😉
Danke für diese tolle Fortsetzung. Diese Geschichte ist einfach so Unglaublich schön und ich bin Froh das es Florian wieder besser geht
Hallo Gummihose,
vielen lieben Dank für deine Rückmeldung es bedeutet mir sehr viel, dass dir die Geschichte so gut gefällt. Zu hören, dass sie für dich unglaublich schön ist, berührt mich wirklich.
Und ja es tut gut, auch für mich als Schreibender, Florian wieder ein Stück aufatmen zu sehen. Schön, dass du diesen Weg so mitfühlend begleitest.
Herzliche Grüße
Michaneo
Hallo!
Danke für diese tolle Geschichte, Fortsetzung. Ich kann dafür nicht viel sagen, außer dass es gigantisch ist.
Es ist wie früher, wenn man auf seine Lieblings Serie im TV gewartet hat. Vielleicht ist es auch wie ein Lied, dass mir nicht mehr aus dem Kopf geht.
Danke, toller Junge, tolle Familie.
Hoffe es beruhigt sich alles und wir können den „normalen Alltag“ begleiten.
Bin gespannt. Weiter so.
Wieder eine Fortsetzung mit der unheimlichen Facetten des Einfühlungsvermögen. Annette die die aufrichtige Liebe der Mutter darlegt, Sebastian als großer Bruder, der sich für Florian stark 💪 macht, mit viel Gefühl.
Der Vater der sei eigenes Erlebtes verarbeitet und wieder hochkommt, aber die Sorge für die ganze Familie trägt.
Danke für die aufmunternde Geschichte.
Erneut ein tolles Kapitel einer klasse Geschichte. Ich freue mich auf die Fortsetzung.
Wieder einmal eine tolle vortsetzung
Könnte Florian irgendwann mal ins Schwimmbad gehen LG lolo
Ich hoffe das die Geschichte bald weiter geschrieben wird
Wie vermutlich viele Leserinnen und Leser frage ich mich, ob die Geschichte weitergeschrieben wird. Ich fände es total schade, wenn es keine Fortsetzung gäbe. Ob und wann darf ich weitere Kapitel dieser wunderschönen Geschichte lesen?