Familiengeheimnisse
1 Familientradition
Weiße Schneeflocken fielen langsam gegen die dunklen Fenster der Terrassentüre. Aus einem dieser Fenster starrte ein blonder Junge gedankenverloren in den Garten und verfolgte die Schneekristalle, die langsam, aber sicher auch den letzten Rest Gras unter einer weißen Schicht eisiger Kälte begruben. Leo saß jedoch im Warmen. Genauer gesagt, am Wohnzimmertisch seiner Großmutter. Und vor ihm lag ein weihnachtlich gestaltetes Stück Papier mit der Aufschrift „Leos Wunschzettel“. Auch wenn Leo ganz genau wusste, dass es den Weihnachtsmann nicht gab und dass der Wunschzettel nicht, wie seine Eltern jahrelang behauptet hatten, an den Nordpol geschickt werden würde, damit eben dieser nichtexistierende Weihnachtsmann ihm Geschenke unter den Tannenbaum legen konnte, so war es doch alte Tradition, dass die gesamte Familie am ersten Adventssonntag bei Oma Barbara zusammenkam und alle Kinder ihre Wunschzettel ausfüllten.
So saß er nun hier, im altmodischen Wohnzimmer seiner Großeltern und starrte aus dem Fenster in die Finsternis. Es herrschte ein reges Treiben. Links von ihm saßen seine zwei siebenjährigen Schwestern Nora und Anna. Sie waren Zwillinge, vier Jahre jünger als Leo und besuchten die erste Klasse der örtlichen Grundschule. Mit Unterstützung ihrer Mutter setzten sie hochbemüht die erst neu gelernten Buchstaben auf ihrem Wunschzettel zusammen, um dem Weihnachtsmann ihre Wünsche aufzuschreiben. Rechts von ihm saß sein Cousin Benedict. Als Leo vor wenigen Momenten einen Blick auf dessen Wunschzettel geworfen hatte, hatte er gesehen, dass dieser prall gefüllt gewesen war. Auf der anderen Seite des Tisches saß seine Cousine Lara. Sie war Benedicts Schwester und mit ihren 15 Jahren die älteste am Tisch. Auch sie ließ diese Tradition über sich ergehen, hauptsächlich, um den Kleineren die Illusion des Weihnachtswunders zu bewahren.
Leos Fokus jedoch, lag nicht auf seinen Wunschzettel. Naja, eigentlich schon irgendwie, irgendwie aber auch wieder nicht. Er wusste ganz genau, was er am liebsten auf seinen Wunschzettel geschrieben hätte. Das wusste er jedes Jahr. Schon im Kindergartenalter, als er seinen Wunschzettel noch gemalt hatte, hatte er schon gewusst, was er sich am liebsten gewünscht hätte. Doch nie hatte er den Mut aufgebracht, seinen innigsten Wunsch auf das Blatt Papier zu bringen.
Leo starrte weiter aus dem Fenster und beobachtete, wie die Schneeflocken langsam, aber sicher die Gartenzwerge seiner Großmutter mit einem dünnen weißen Mantel verhüllten. Sein Blick wanderte von den schneebedeckten Gartenzwergen über die große Uhr, die 17:40 Uhr anzeigte, hinüber zu den Zwillingen. Sie waren versunken in ihrer kindlichen Freude und voll und ganz bei der Sache. Leo seufzte. Die zwei hatten es ja so einfach. Wäre er einer der beiden Zwillinge, hätte er überhaupt keine Schwierigkeiten, seinen Wunschzettel auszufüllen. Er könnte einfach seinen Weihnachtswunsch aufschreiben und jeder würde ihn akzeptieren. Keiner würde Fragen stellen. Aber was würden seine Eltern und Großeltern denken, wenn er, der elfjährige Leo, sich so etwas zu Weihnachten wünschen würde?
Sein Blick wanderte weiter im Raum umher und blieb an Lara hängen. Oder besser gesagt, an ihrem Wunschzettel. Dieser ähnelte nämlich seinem eigenen Wunschzettel: Er war komplett leer. Leo blickte zu seiner Cousine auf und bemerkte, dass auch ihr Blick gedankenverlorenen durch den Raum schweifte. Er beobachtete sie eine Weile und irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie unglücklich wirkte.
Als sich plötzlich eine Hand auf seinen Rücken legte, schrak Leo zusammen. Oma Barbara war hinter ihm aufgetaucht: „So meine Lieben, in 15 Minuten gibt es Abendessen. Ihr wisst ja alle, was ihr machen müsst, wenn euer Wunschzettel fertig ist. Faltet ihn zusammen, packt ihn in einen der Briefumschläge und klebt eine Briefmarke darauf.“ Und mit geheimnisvoller Stimme fügte sie, an die Zwillinge gewandt, hinzu: „Dann schicken wir die Briefe an den Weihnachtsmann und dann schauen wir mal, was ihr Tolles geschenkt bekommt!“ Die Zwillinge kicherten und die ausgelassene Stimmung am Tisch war deutlich zu spüren.
Leo seufzte erneut und warf wieder einen traurigen Blick auf seinen immer noch leeren Wunschzettel. Er setzte seinen Stift auf dem Papier an, doch seltsamerweise schien ihm die Fähigkeit zu schreiben abhandengekommen zu sein. Er schaffte es einfach nicht, die Worte auf den Wunschzettel zu schreiben, die er dort so gerne gelesen hätte.
Bevor er jedoch weiter nachdenken konnte, warf ihm seine Cousine einen der Briefumschläge hin und als er aufblickte, sah er gerade noch, wie sie, ebenfalls mit traurigem Blick, ihren immer noch leeren Wunschzettel zusammenfaltete und in einen eigenen, weihnachtlich gestalteten Briefumschlag steckte. Leo entschied sich, es ihr gleich zu tun und faltete seinen ebenfalls leeren Wunschzettel zusammen und packte ihn in seinen Briefumschlag, den Oma Barbara kurze Zeit später mit einem Lächeln einsammelte.
Beim Ersten-Advents-Essen, genauso wie das gemeinsame Wunschzettelschreiben eine lange Familientradition, gab es wie immer mehr als genügend zu Essen. Leo wusste, dass Oma Barbara extra früh aufgestanden war und den ganzen Tag nichts anderes getan hatte, als mit viel Liebe das Essen und die Wunschzettel vorzubereiten. Und genau so schmeckte es auch! Egal was er probierte, alles schmeckte himmlisch gut. Egal, ob die kleinen Käse-Kartoffelpuffer als Vorspeise, der Schmorbraten mit Spätzlen als Hauptgericht oder die Schoko-Kirsch Muffins als Nachspeise, alles zerging Leo regelrecht auf der Zunge. Während des Essen tauschten die Erwachsenen Geschichten über ihre Kinder aus oder unterhielten sich über Sport, Politik und die Welt. Benedict, der neben Le0 saß, hatte das gesamte Essen von den vielen tollen Sachen erzählt, die er sich alles vom Weihnachtsmann gewünscht hatte: Rennautos, Pokémon Karten, Star Wars Lego, eine Xbox und vieles mehr. Nicht einmal hatte er gefragt, was Leo sich denn gewünscht hatte. Und das war diesem auch gerade so recht. Er hatte so getan, als würde er seinem Cousin zuhören, hatte ab und an genickt, in Wirklichkeit aber, war er mit seinen Gedanken bei seinem Weihnachtswunsch gewesen, der er dieses Jahr mal wieder nicht auf den Wunschzettel geschafft hatte. Dass er nicht das einzige Kind am Tisch gewesen war, welches einen leeren Wunschzettel abgegeben hatte, das war ihm schon wieder entfallen.
Lara, die neben ihrer Mutter gesessen und den ganzen Abend lustlos im Essen herumgestochert hatte, hatte sich irgendwann vom Tisch entschuldigt und war in ihr Gästezimmer verschwunden. Lara und Benedict wohnten mit ihren Eltern etwa eine dreiviertel Stunde entfernt. Da heute Abend aber wohl eine nicht ganz so geringe Menge Alkohol fließen würde, hatten sie sich, wie jedes Jahr, bei ihrer Oma für die Nacht einquartiert.
Gegen 20 Uhr, entschuldigte sich auch Leo vom Tisch. Er war das letzte Kind gewesen, welches noch am Tisch gesessen hatte. Seine kleinen Schwestern spielten mit Cousin Benedict auf dem Teppich in Wohnzimmer und er hatte irgendwann einfach keine Lust mehr gehabt, den Gesprächen der Erwachsenen zu lauschen. Also begann er ziellos durch das Haus seiner Großeltern zu laufen. Er kannte dieses wie seine Westentasche. Schon als Kleines Kind war er hier regelmäßig zu Besuch gewesen und auch heute noch war er fast jede Woche zu Gast.
Während seines Streifzuges durch das große alte Haus schweiften seine Gedanken wieder in Richtung Wunschzettel. Hätte er doch einfach aufgeschrieben, was er sich wirklich wünschte. Aber nein. Er wusste, dass dies nicht möglich war. Niemals würde er diesen Wunsch auf einem Wunschzettel schreiben, oder schlimmer noch, mit jemandem darüber reden können. Also zog er weiter gedankenverloren durch das Haus, ging die Treppe in den ersten Stock hinauf und erblickte ein Licht. Eine Tür stand einen Spalt weit offen. Leo wusste, dass dies eines der Gästezimmer war. Bestimmt war dies das Zimmer seiner Cousine. Sie war vorhin ja nach oben gegangen. Bens erinnerte sich daran, dass auch Lara einen leeren Wunschzettel abgegeben hatte. Ob sie sich nichts wünschte? Hatte sie denn alles, was sie haben wollte? Oder war sie einfach zu alt für so etwas und hatte mit ihren Eltern eine andere Absprache getroffen? Vielleicht sollte er sich das für nächstes Jahr auch überlegen. Schließlich wäre er dann 12 Jahre alt und einfach zu alt, so einen lächerlichen Wunschzettel auszufüllen. Insbesondere, wenn er sich sowieso nicht wünschen konnte, was er wollte…
Leo ging weiter in Richtung der halboffenen Türe, ohne wirklich aktiv darüber nachzudenken. Als er näherkam, hörte er Geräusche aus dem Zimmer. Diese konnte er jedoch nicht zuordnen. Vor der Türe angekommen, legte er seine Hand auf die Klinke, fragte kurz: „Lara?“ und öffnete sie. Und was er dort sah, verschlug ihm den Atem!
Autor: Anonym
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Sehr schöne Geschichte, guter Anfang, feinfühlig, so könnte es in vielen Familien zu und her gehen in der Weihnachtszeit. Würde mich freuen, weitere Kapitel von dir zu lesen. Liebe Grüsse Petra
Jetzt wo es interessant wird , ist der Teil zu Ende.Bitte weiterschreiben wie es mit Lara und Leo weitergeht.
Spannender Anfang. Ich hoffe, der nun folgende Schock führt zu was positivem. Es wäre toll, wenn du dir jemand suchst, der Korrektur/ Probeliest. Ab und zu sind ein paar Wörter vertauscht. Beispielsweise er statt es und gegen Ende des ersten Kapitel Ben statt Leo. Das ist nicht schlimm weil man weiß was gemeint ist aber es ist schade.
Nachtrag: wieso denkt er, die Zwillinge könnten problemlos Windeln auf ihre Wunschzettel schreiben und warum hat er es in dem Alter mal gemacht?
Ist eine interessante Geschichte. Aus zwei Perspektiven diese Storry zu schreiben ist nicht immer einfach zu lösen denke ich, doch dies wurde aus meiner Sicht gut gelöst. Nicht so oft der Wechsel beim erzählen ist gut gewurden. Bin auf das nächste Kapittel gespannt ubd ob Lara’s Vater doch einlenkt, zum Wohle seiner Tochter. Und ob Leo sich durchringen kann seinen Wunsch doch zu äußern.
Wann geht es weiter
Teil 3/4 ist schon seit über ner Woche abgeschickt. Muss nur noch freigeschaltet werden.
Man kann alternativ aber auf der WBC auch weiterlesen. Da geht’s schon bis Teil 6.