Die Geheimnisse der Kerkwald-Geschwister (2)
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Kapitel 2 – Die Schule
„Na komm Bärchen, geh doch mal rüber zu deiner Klasse“, ermunterte Robin ihren zehnjährigen Bruder. Im Morgengrauen des nächsten Tages die Fünfzehnjährige und ihre Freunde in einem großen Halbkreis bei den runden Bänken auf der Mitte des Schulhofes, scherzten, unterhielten sich über alles Mögliche und ein paar Schüler schrieben sogar noch die letzten Hausaufgaben für die anstehenden Unterrichtsstunden voneinander ab. Der Einzige, der nicht so ganz zu der illustren Runde pubertierender Mittelstufenschüler passte, war der kleine Fünftklässler, der in seiner dunkelblaue-orangenen Softshelljacke halb hinter und halb neben seiner großen Schwester stand. Der Zehnjährige hatte die Hände tief in seinen Jackentaschen vergraben, tippelte gelangweilt mit den Füßen herum und hatte bis eben versucht, den Gesprächen der Jugendlichen um ihn herum zu folgen.
Beinahe erschrocken blickte er seine große Schwester an. „Aww Jakob, flitz mal rüber zu deinen Freunden, hier bei uns ist das doch langweilig für dich“, pflichtete ihr Robins beste Freundin Franzi bei und tätschelte den Kopf des kleinen Jungen, den sie schon gekannt hatte, als er noch ein kleines Baby gewesen war. Jakob grummelte, drehte sich ruckartig um und lief zielstrebiger als ihm eigentlich zumute war, auf den hinteren Teil des Pausenhofes zu. ,Flitz mal rüber zu deinen Freunden‘, äffte der Zehnjährige das blonde Mädchen flüsternd nach während er mit seinen ausgetretenen, dunkelblauen Klettschuhen über den rauen Asphalt schlurfte. Welche Freunde? Das war ja das Problem.
Der Eintritt in die weiterführende Schule hatte für Jakob so etwas wie ein Neustart sein sollen. Das hatte sich der Zehnjährige zumindest selbst als Ziel gesetzt. Er würde nicht länger das uncoole, kleine Kind sein. Die Voraussetzungen waren gut: Aus seinem kleinen Dorf war er der einzige Fünftklässler, der dieses Jahr auf dem riesigen, grauen Gymnasium in der nicht ganz so nahegelegenen Kreisstadt eingeschult worden war. Auch von seinen Pipi-Problem, wie Jakobs oft aussichtloser Kampf gegen seine Blase Familienintern betitelt wurde, wusste bis auf seine beiden Geschwister und deren Freunde keine einzige Menschenseele auf den großen Pausenhöfen des weitläufigen Schulgeländes. Der Zehnjährige war selbst ein wenig stolz darauf, wie gut es ihm gelang, seine Drynites während der Schulzeit zu verstecken. In der Grundschule hatte er das nicht mal versucht, wozu auch? Als er nach dem Kindergarten in die erste Klasse gekommen war, hatte er seine Pampers gegen Pullups getauscht und seine Klassenkameraden, die vor ein paar Wochen noch seine Kindergartenkameraden gewesen waren, kannten ihn ohnehin als großes Windelkind. Wie eigentlich alle in dem kleinen Dorf und so wirklich hatte ihn das damals auch gar nicht gestört.
Aber jetzt, mit Zehn? Er war froh, dass kein einziger seiner neuen Mitschüler auch nur ahnte, dass er unter seinen Jeans statt Unterhosen hellblaue, mit Skateboards oder Camouflage-Muster bedruckte Hochziehwindeln trug. Und über jeden Tag, an dem seine Drynites zumindest dann noch trocken waren, wenn er aus der Schule heimkehrte, war er besonders froh.
Die Chancen dafür standen auch heute nicht schlecht, zumindest noch. Hundertprozentig trocken war seine Sicherheitsunterwäsche, als er durch den überdachten Bereich am Schulkiosk lief und verspielt im Slalomkurs die dunkelgrünen Metallpfosten umkurvte. Aber es war auch erst halb Acht. Noch nicht einmal die Sonne war aufgegangen sondern stattdessen erleuchtete noch das kaltweiße Licht der vereinzelten Neonlaternen das Pausenhofgelände.
Leise und ohne dass seine Klassenkameraden Notiz von ihm nahmen setzte sich Jakob zu der Gruppe an frisch zusammengewürfelten Zehn- und Elfjährigen, die nun die Klasse 5E darstellten und ihren Stammplatz auf den breiten Treppenstufen neben den großen Bäumen am östlichen Rande des Schulhofes gefunden hatten. In kleinen Gruppen von maximal vier Personen unterhielten die anderen Kinder sich und Jakob fiel auf, dass maximal die Hälfte seiner Klassenkameraden hier versammelt war und er keine Ahnung hatte, wo all die anderen waren.
In der Grundschule in seinem Dorf, auf die er noch vor ein paar Monaten gegangen war, war alles viel einfacher gewesen. Der Pausenhof war überschaubar gewesen und Jakob hatte jederzeit gewusst, wo sich die vierzehn anderen Schüler seiner kleinen Klasse in der Pause rumgetrieben hatten. Die Fußballer hatten auf dem Teerplatz Fußbälle hin und hergekickt, er und seine Freunde hatten auf dem Klettergerüst gespielt, die Mädchen hatten an den zwei Tischen am Rande des Pausenhofes gesessen oder das Hüpfekästchenfeld vor dem Eingang belagert und alle hatten sich immer darum gestritten, wer das einzige Kettcar auf dem Pausenhof fahren durfte. Und am Anfang der Pause, das war die eiserne Regel gewesen, trafen sich alle erst einmal an der mit einer großen Vier beschrieben Tischtennisplatte vor dem Schulgebäude um sich eine ihrer Vanille-, Erdbeer-, oder Kakaomilchflaschen, die jeden Tag zuverlässig in einem kleinen roten Getränkekasten geliefert wurden, zu nehmen.
Und nun? Der Schulhof war riesig. Doch gab es hier weder Hüpfekästchen, noch Klettergerüst und schon gar kein Kettcar. Sitzgelegenheiten, Bäume, Tische und Asphalt soweit das Auge reichte. Klar, auf dem riesigen Gelände gab es insgesamt zehn verteilte Tischtennisplatten, doch konkurrierten darum nicht sechzig, sondern fast 1500 Schülerinnen und Schüler, von denen gefühlt 1490 größer und stärker waren als er.
Ungeduldig blickte David auf seinen Tacho. Fast fünfzig Stundenkilometer fuhr er mit seinem knatternden, beinahe um Gnade winselnden Mofa, das, sofern man der Herstellerangabe Glauben schenken wollte, bei 25 abgeriegelt war. Haha, am Arsch! Doch Fünfzig war heute einfach nicht genug. In fünf Minuten würde die erste Stunde losgehen und er war noch sicherlich sieben Kilometer von seiner Schule entfernt. Und das, obwohl in fünf Minuten Mathe beim König losgehen würde, ausgerechnet. Der kleine Halogenscheinwerfer seines dunkelgrünen Zweitakters leuchtete gegen den Sonnenuntergang an während der kalte Fahrtwind über Davids nackte Hände und durch die Löcher in seiner schwarzen Washed-Out-Jeans pfiff. Nur seine modische, olivgrüne Parkajacke hielt den Sechzehnjährigen warm. Heute Morgen war echt alles zu knapp gewesen. Erst hatte er verschlafen, dann das Frühstück übersprungen, trotzdem den Bus verpasst und anschließend nicht mal seine Motorradhandschuhe gefunden. Er reizte die Gelbphase der Ampel vor ihm bis auf die letzte Sekunde aus und versuchte nicht darüber nachzudenken, dass er eigentlich keinerlei Chance mehr hatte.
Um fast zehn nach Acht hielt der Sechzehnjährige seinen Roller unsanft auf dem Parkplatz vor den Schultoren an, riss hastig das schwere Schloss aus seinem Rucksack, legte es um den Vorderreifen und rannte, so schnell er konnte, auf den grauen Waschbetonbau mit den türkisgrünen Fenstern zu. Während des Rennens riss er den Motorradhelm von seinem Kopf, schüttelte die langen schwarzen Strähnen, die anschließend vor seine Augen fielen zur Seite und sah nach vorne. Hinter den meisten Fenstern brannte schon grelles Licht und der sonst so geschäftige Schulhof war wie ausgestorben. David drückte die Eingangstüre auf, sprintete über die vielen Treppen in den zweiten Stock des Anbaus und riss, völlig außer Atem die Türe zu seinem Klassenraum auf.
„Ah, Herr Kerkwald“, bemerkte Herr König, ein streitbarer Pädagoge sichtlich unerfreut, legte seinen Kugelschreiber nieder und sprach den Schüler voller Genugtuung an: „Beglücken sie uns doch noch mit ihrer Anwesenheit?“ Ein kichern ging durch Reihen seiner Mitschüler und David konnte sich etwa ausrechnen, was ihn nun erwarten würde: „Das wievielte Mal ist das, dass Sie hier nun zu spät erscheinen?“
David runzelte die Stirn, kniff die Augen und blinzelte angestrengt. Es war so verdammt hell hier. Er musste sich fast übergeben. War es das zweite Mal, das dritte? Er hatte nicht mitgezählt, aber die Frage war wohl ohnehin nur rhetorischer Natur gewesen. Herr König war ein Mann jenseits der Fünfzig, der einer der wenigen Lehrkräfte war, die jeden Tag mit einem grauen Hemd und einem Tweedjacket zum Unterricht erschienen. Sein faltiges Gesicht zierte eine kleine, runde, von einem dünnen silbernen Rahmen eingefasste Brille und sein Oberlippenbart war bereits ergraut. Mit einer bemerkenswerten inneren Ruhe schlug der Pädagoge das dicke grüne Klassenbuch auf während der immer noch nach Luft schnappende David sich langsam aus seiner Starre löste und ansetzte, auf seinen Platz in einer der hinteren Reihen des Raumes zu gehen.
„Einen Moment, Kerkwald“, sprach ihn der Lehrer an, doch sagte, als ihn der Sechzehnjährige überrascht, verunsichert, ja beinahe fürchtend, ansah, einen langen Moment lang nichts. Niemand in der Klasse sagte etwas. „Lernerfolgskontrolle, Kerkwald!“, rief er plötzlich: „Gehen sie bitte an die Tafel, ich werde ihnen eine Funktion diktieren. Sie bestimmen anschließend bitte das Minimum.“
Langsamen Schrittes und mit klopfendem Herzen ging David auf die Tafel zu und nahm sich einen der Kreidestummel aus der Ablage.
„Y ist gleich X zum Quadrat Plus sechs X plus sechs“, diktierte Herr König während er an seinem Pult saß, seinem Schüler den Rücken zugewandt hatte, seinen schwarzen Aktenkoffer öffnete und eine dunkelrote Mappe aus selbigem entnahm.
David schrieb die Formel eilig ab, während seine Gedanken Purzelbäume schlugen. Minimum. War er ein Taschenrechner, oder was? Hastig, er wusste ganz genau, dass Herr König ihm nicht viel Zeit zur Beantwortung der Aufgabe lassen würde, probierte der Sechzehnjährige verschiedene Werte aus. Null für X einsetzen? Ergab die Koordinate 6. Eins? 13! Das war die falsche Richtung. -1? So schnell er konnte, schrieb David eine Wertetabelle an die Tafel: 13, 6, 1, er kam dem ganzen definitiv Näher. Während sein Lehrer etwas auf das Blatt, welches er aus seinem Koffer geholt hatte, schrieb, addierte der Zehntklässler in Windeseile die Koeffizienten im Kopf. -2 schien Vier zu ergeben! Das wars: „Eins“, sagte David erleichtert und kreiste die Eins in seiner Wertetabelle ein, während er in der freien Hand immer noch seinen Mofahelm hielt.
„Ach, Kerkwald“, schüttelte Herr König mit dem Kopf: „Sie haben das Kunststück vollbracht, nicht nur einen unklugen, ja gradezu profanen Rechenweg zu wählen, sondern dabei auch noch das falsche Ergebnis zu erlangen. Geben sie mir den Zettel bitte in der nächsten Stunde unterschrieben zurück“, sagte der Pädagoge während David seine Hände verkrampfte und mit seiner Oberlippe gedemütigt über sein Unterlippenpiercing fuhr. Er versuchte betont unbeeindruckt zu wirken, während er sich lässig neben seine Freundin Laura setzte und ihr „Hey, Baby!“ ins Ohr flüsterte. Im selben Moment richtete Herr König eine Frage an die gesamte Klasse: „So, und wer kann unserem lieben David erklären, wie er bei der Lösung dieser Frage eigentlich hätte vorgehen sollen, wenn er in den letzten Wochen aufmerksam mitgearbeitet hätte?“
Sein Freund Alex klopfte ihm lachend auf die Schulter: „Ooooh, der hat es dir aber gegeben!“, flüsterte er von der Bank hinter ihm und David entgegnete: „Fick den König ey!“
Frustriert faltete er den gelben Zettel, den ihm sein Lehrer eben in die Hand gedrückt hatte, auseinander: ,Schriftliche Verwarnung‘, prangte in dicken Buchstaben auf dem Din-A5-Formular. Still starrte David aus dem Fenster hinaus auf die längliche, weit-verzweigte Gestalt des großen Schulgebäudes. Den Anbau trennte die große, neue Turnhalle vom Hauptgebäude, an dessen linker Flanke wie ein Wurmfortsatz sich ein weiterer, angesichts der Uhrzeit hell erleuchteter, Lernraumtrakt befand, der erst vorletztes Jahr fertiggestellt worden war um die neuen fünften Klassen beherbergen zu können.
„Five“, rief eine mittdreißigjährige, rothaarige Frau laut in einem jener Neubauklassenräume höchstens eine Stunde später: „Four“, setzte sie hinterher während der wilde Haufen Fünftklässler, der vor ein paar Sekunden noch laut durcheinandergeplappert hatte, wie von Zauberhand leiser und ruhiger wurde: „Three“, sagte sie noch, wurde selbst leiser und ergänzte dann, anstatt den ,Silence-Countdown‘ auf Null hinunter zu zählen, betont freundlich lächelnd: „Thank you, class!“
Schnell war Stille im Klassenraum eingekehrt, ein paar Schüler steckten noch die Kappen auf ihre Füller, nur aus der hinteren Fensterseite drangen noch Geräusche. „Doch, das muss da hin!“, flüsterte Jakob aufgebracht zu seinem Sitznachbarn. „Nee bist du blöd?“, antwortete dieser gereizt sodass er und die zwei Mädchen, mit denen zusammen sie die Gruppenarbeitsaufgabe ausführten, anfingen zu lachen.
Vor den vier Kindern lag ein großes, hellblaues A2-Plakat, auf welchem sie in Form einer Mind-Map Essensbegriffe nach ihrer Art sortiert hatten. „Meat“ stellte eine Kategorie dar, „Breakfast“ eine weitere. Und obwohl die Gruppenarbeitsphase nun vorbei war und die erste Gruppe sich sogar schon vorne neben der Tafel aufgestellt hatte um ihre Ergebnisse vorzutragen, konnten Jakob und Marcel sich partout nicht einigen. „Das gehört zu Snacks!“, rief der schwarzhaarige Zehnjährige beharrlich, doch da hatte sein Sitznachbar bereits einen schwarzen Filzstift aus seinem Mäppchen gezogen und strich das von Jakob einsortierte Wort einfach kurzerhand durch.
„Du Arsch!“, rief Jakob und griff wütend nach dem Filzer seines Mitschülers.
„Jakob! Marcel!“, rief die Klassenlehrerin als es ihr mit den beiden Streithähnen zu bunt wurde und wechselte wieder in einen nicht so erfreuten Ton. Jakob lies den Stift los, die beiden Fünftklässler froren ertappt ein und blickten wie ein Reh im Scheinwerferlicht zu ihrer Englischlehrerin: „Thank You“, wiederholte sie sich, bevor sie den neben der Tafel stehenden Kindern in einfachem, deutlich betontem Englisch signalisierte, dass sie anfangen durften.
„Word Cloud: Activities“, las Jakobs Mitschülerin Carolin die hübsche, aufwändig bunt geschnörkelte Überschrift des Plakates ihrer Gruppe vor, doch da hörte Jakob schon nicht mehr zu, stützte stattdessen seinen Kopf bockig auf seinem Arm ab und starrte beleidigt auf den durchgekritzelten Mindmap-Kreis vor ihm. Was fiel Marcel denn ein? Natürlich waren Chips ein Snack und kein Mittagessen!
Draußen vor den Fenstern des Klassenraumes war mittlerweile die Sonne aufgegangen. Die orangenen Bäume, die den Schulhof unter den Fenstern säumten, leuchteten nun in ihrer ganzen Pracht. Durch die geöffneten Oberlichter drang noch zaghaft der Geruch des Morgentaus hinein und auf seinem Rücken spürte Jakob die von draußen einfallenden Sonnenstrahlen. Seit etwa fünf Wochen, wenn man die Herbstferien abzog, war dieser Klassenraum nun sein neues Schul-Zuhause. An der in kontrastlosem Pastellgrün gestrichenen Backsteinwand gegenüber von Jakobs Tisch hingen noch die Steckbriefe, die sie in der ersten Schulwoche gemacht hatten. Neunundzwanzig Blätter hingen ordentlich nebeneinander aufgereiht, fast alle davon farbig verziert, mit Fotos bestückt und gespickt mit Zahlen, Daten und Eigenschaften welche die Kinder der 5E beschrieben. Für seinen Steckbrief hatte Jakob ein Foto aus dem vorangegangenen Sommerurlaub gewählt, auf dem er dank der dunklen Sonnenbrille, fand er zumindest selbst, möglichst cool aussah. In der Spalte ,Hobbies‘ hatte er, das war nur teilweise gelogen, DS-Spielen, Fahrrad fahren, Schwimmen, Musik hören eingetragen und dabei sicherlich nicht nur ,Lego spielen‘ und ,Siku-Autos sammeln‘ gewissentlich vergessen. Als cooler Fünftklässler spielte man schließlich kein Lego mehr!
Die Steckbriefe waren auch mehr oder minder das einzige bunte, mit dem sein neues Klassenzimmer aufwarten konnte. In dem kleinen Klassenraum, den er in der Grundschule vier Jahre lang besucht hatte, hatten bunte Girlanden an den Wänden gehangen, im Kunstunterricht hatten sie mit Farbfolie Fensterbilder gebastelt, die im Sonnenlicht immer besonders schön gestrahlt hatten und im Winter hatte jedes Jahr ein großer, leuchtend rot-goldener Adventskalender neben dem Lehrerpult gestanden. Das einzige, was in Raum 209 des großen Gymnasiums leuchtete, war der graue Overheadprojektor. Zumindest, wenn er angeschaltet war.
Jakob war längst ins Träumen geraten und hatte fast vergessen, warum er schlecht gelaunt war, als Frau Fischer seine Gruppe aufrief: „Marcel, Amelia, Theresa, Jakob, it is your turn!”
Aufgeschreckt riss Jakob seinen Kopf hoch und brauchte noch eine Sekunde um zu verstehen, was grade vor sich ging, als seine Gruppenkollegen bereits von ihren Plätzen aufstanden. Schnell erhob auch er sich von seinem Stuhl. Kaum war er aufgestanden, spürte er ein kribbeln in seiner Blase, nur um im nächsten Moment zu realisieren, dass er unfassbar dringend pinkeln musste! Allerhöchste Eisenbahn! Unauffällig drückte der Fünftklässler durch seine linke Hosentasche eine Hand gegen die Vorderseite seiner Drynites und fragte seine Klassenlehrerin, kaum war er mitsamt der anderen drei Kinder an der Tafel angekommen, leise: „Can I …“, er suchte nach der richtigen Übersetzung, geriet ins Stottern und piddelte nervös mit seinen Fingern am Ärmelsaum seines leicht zu großen, dunkelblauen Sweatshirts: „… äh … to the toilet?“
Frau Fischer, die im Gegensatz zu seiner ehemaligen Grundschullehrerin niemand darüber in Kenntnis gesetzt hatte, dass Toilettengänge bei Jakob beinahe immer absolute Notfälle waren und stets nur wenige Minuten, wenn nicht gar Sekunden blieben, bevor es zu spät war, antwortete wie so oft. Freundlich, aber bestimmt: „You can go after you have finished your presentation.“
Sie war sich so sicher, dass ihr Schüler nur eine Ausrede suchte, um der Präsentation fernbleiben zu können.
Jakob schluckte. Der Zehnjährige stellte sich neben seine drei Mitschüler und hielt wie besprochen die linke Hälfte des Plakates fest. Er versteckte sich halb hinter dem Plakat, sodass nur noch sein Kopf, sein linker Arm sowie seine Schienbeine zu sehen waren. Der Fünftklässler überkreuzte seine Beine um den krampfhaften Versuch zu unternehmen, doch noch lange genug einzuhalten um die Präsentation trocken zu überstehen. Dann würde er gar nicht noch einmal nachfragen, sondern sofort auf die nächste Toliette rennen. Draußen im Schulflur, wo ihn niemand sehen konnte, würde er beide Hände zwischen seine Beine pressen, so schnell sprinten wie er nur konnte und dann würde er es bestimmt noch, mehr oder weniger, rechtzeitig aufs Klo schaffen.
Doch dafür musste er erst einmal diese Präsentation überstehen
„We have put cereals, bread and egg next to breakfast”, las Theresa, vor dem Plakat stehend vor und übergab in einer fließenden Handbewegung an Marcel. Der braungebrannte Elfjährige las die Wörter, die um die Kategorie ,Lunch‘ verteilt waren vor während Jakob nervös mit seinen Füßen tippelte. Plötzlich, noch bevor Marcel an Amelia abgegeben hatte, wurde es schlagartig heiß zwischen Jakobs Beinen als dem Zehnjährigen ein Pipispritzer entglitt und erbarmungslos gegen die bis dato trockene Vorderseite der Drynites prasselte. Reflexartig lies Jakob das Plakat los, drückte seine linke Hand stattdessen so fest er konnte gegen seinen Schritt und schaffte es so tatsächlich, die grade begonnene Flut wieder einzufangen. Die linke Hälfte des großen Plakates rollte sich ein und klappte zu Boden, noch während sein Klassenkamerad davon ablas: „Jakoooob“, raunte Marcel genervt.
Hastig bückte sich der Angesprochene und richtete das Plakat wieder auf, nur um, kaum stand er wieder, abermals die Kontrolle über seine sensible Blase zu verlieren. Diesmal gab es kein halten mehr. Jakob stand kerzengrade hinter dem Gruppenplakat und vor all seinen Klassenkameraden, sah geistesabwesend in die Ferne und flutete völlig ohne Kontrolle seinen Pullup. Es wurde nass zwischen seinen Beinen, nass und so unglaublich warm. Mit beiden Händen hielt er das Plakat fest und hatte jeglichen Versuch, wenigstens noch einen Teil seiner Blasenfüllung einzuhalten, aufgegeben. Den Toilettenbesuch nach der Präsentation konnte er sich jetzt wohl sparen. Während Amelia an den vierten in ihrer Gruppe, ihn selbst, übergeben wollte, wurde der Druck in seiner Blase langsam geringer und die äußerst geforderte Drynites bekam endlich eine Gelegenheit, die ganze Sauerei aufzusaugen.
„Jakob …“, sagte die Zehnjährige und wiederholte, als der Junge nicht reagierte: „Jakob?“
„Ähm … äh“, geriet Jakob ins Straucheln. Oh Gott, was sollte er nochmal vorstellen? Erschrocken sah er seine Mitschülerin an.
„Snacks!“, zischte Amelia flüsternd.
„Äh“, sagte Jakob aufgeregt und lugte mit seinem Kopf von oben über das Plakat um das Aufgeschriebene ablesen zu können: „To Snacks, we put, ähm, sweets, chocolate, jelly beans and chewing gum“, erzählte er während die Flüssigkeit in seiner Drynites langsam aufgesaugt wurde. Frau Fischer schien zufrieden, bedankte sich bei ihren Schülern und die vier Kinder gingen wieder auf ihren Platz zurück.
Die Tatsache, dass Jakob nach vollendeter Präsentation nun doch nicht mehr auf Toilette gehen wollte, bestätigte die Vermutung seiner Klassenlehrerin, dass sich der schüchterne Junge, der heute Morgen eine Vier in seinem Vokabeltest kassiert hatte, wohl nur vor der Präsentation hatte drücken wollen. Und Marcel wies den kleinen Zehnjährigen auf dem Rückweg zu ihren Tischen stolz darauf hin, dass seine Einsortierung von ,Chips‘ in ,Lunch‘ ja offenbar korrekt gewesen war.
Doch da hörte der schon gar nicht mehr zu. Erleichtert setzte Jakob sich wieder auf den glatten, harten Holzstuhl und spürte mit einem Mal, wie nass seine Hochziehwindel nun geworden war. Das heiße, merklich feuchte Polster drückte gegen seinen Po sodass ihm bewusst wurde, wie sehr er sich grade nassgemacht hatte. Vor all seinen Mitschülern, aber niemand außer ihm hatte etwas davon mitbekommen. Wäre er jetzt nicht in der Schule, würde er die nasse Drynites umgehend gegen ein frisches Exemplar austauschen um die Spuren seines Malheurs vergessen zu machen, aber das war definitv nichts, was er auf dem Schulklo machen würde. Genau genommen hatte er nicht mal eine Wechselwindel dabei.
Klar, dass Jakob in der Schule eine nasse Drynites hatte, war definitiv nichts außergewöhnliches und trotz der vermehrt trockenen Tage eher die Regel als eine Ausnahme. Dafür hatte er die Dinger ja an. Doch waren seine Unfälle meist eigentlich eher Last-Minute-Unglücke, wenn er mal wieder viel zu spät spürte, dass er musste und noch auf dem Weg zu den Toiletten anfing, die Kontrolle zu verlieren. Aber da landete dann wenigstens trotzdem das Meiste auf dem Klo und dass er sich so vollpullerte wie vor ein paar Minuten, passierte in der Schule eigentlich wirklich nur noch sehr selten. Erst recht, wenn es erst Neun Uhr morgens war.
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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Dass du toll schreiben kannst, wurde schon mehrfach festgestellt, aber hiermit hast du tatsächlich den Vogel abgeschossen, Gratulation, einfach nur klasse!
So lebendig zu schreiben, muss tatsächlich gelernt sein, richtig gut!