Alles wird besser, vielleicht sogar gut (2)
Windelgeschichten.org präsentiert: Alles wird besser, vielleicht sogar gut (2)
Fast zwei Stunden dauerte es, bis wir, nach einem schnellen Fast-Food-Abendessen, am richtigen Ausgang waren, den Bollerwagen zurückgegeben und uns umgezogen hatten. Letzteres dauerte alleine fast 20 Minuten. Juli und ich hatten uns nämlich fest vorgenommen, einen Teil unserer Neuerwerbungen anzuziehen. Onkel Phil hatte nichts dagegen. Und so standen zum Schluss ein Ninja-Turtle mit Windelpo und ein sehr stämmiger Police-Officer abmarschbereit im Ausgangsbereich des Centers. Unsere neuen Neon-Klettsneakers und passende Basecaps machten den Auftritt perfekt. Onkel Phil schoss einen Haufen Bilder und kam aus dem Grinsen gar nicht mehr raus. Ja okay, wir hatten mit den relativ weiten Overalls zu kämpfen. Wir hatten eben beide keine große Erfahrung im Umgang mit solchen Trendklamotten. War ja aber auch egal. Das Ergebnis zählte. Und das konnte sich sehen lassen. Fanden zumindest Juli und ich. Insgeheim war ich nach der Anzieherei ganz froh um meine Windel. Ich war mich sicher, dass Juli ein echtes Problem bekommen würde, wenn er das erste mal versuchen würde, mit diesen Klamotten auf die Toilette zu kommen.
Der Rückweg zum Schiff verlief mehr als ereignislos. Keine Elche, keine unfreiwilligen Zwischenstops. Juli und ich verschliefen die Fahrt fast komplett und wurden erst wach, als Onkel Phil über die Bodenwelle rumpelte, die die Einfahrt zum Parkplatz der Autovermietung markierte. Pünktlich und wie verabredet um 21.30 Uhr lieferte Onkel Phil Juli bei seinen Großeltern ab. Die staunten nicht schlecht, als sie das Outfit ihres Enkel sahen und ahnten, dass in den diversen Tüten noch mehr Ungeheuerlichkeiten warteten. Um das Schlimmste zu verhindern, schon uns Onkel Phil kurz in Juli Zimmer, um den größten Unmut abzufangen und Julis Großeltern für morgen zum letzten Abend auf dem Schiff zum Essen einzuladen. Das klappte eigentlich auch alles ganz gut. Wobei ich mir sicher war, dass Juli die Klamotten nach dem Urlaub nie wieder würde tragen dürfen. Darüber wollte ich mir aber jetzt keinen Kopf mehr machen. Ich hatte nur noch ein Ziel: mein Bett. “Hast du noch die Kraft für einen kurzen Abstecher?”, fragte Onkel Phil, der mich mehr oder weniger wie ein Zombie durch die Gänge schob? Abstecher? Wohin? “Nun, ich habe mich gefragt, ob die Tilda vielleicht auch für morgen zum Abendessen einladen möchtest?” Tilda? Abendessen? Kurzzeitig kehrte meine Power zurück. Klar wollte ich das! Und so stand ich wenige Minuten später mit wild pochendem Herzen und knallroten Ohren vor der Kabine von Tilda und ihrer Mutter. Ich klopfte. Und wartete. Nichts. Nicht, dass beide schon im Bett waren? Das war aber Unsinn. Ich wusste, dass Tildas Mutter in den Ferien kein Problem damit hatte, Tilda bis nach 22 Uhr aufbleiben zu lassen. Die Pause vor der Tür dauerte dann auch nicht allzu lange. Mit einem Knacken öffnete sich sich, soweit es die vorgelegte Sicherheitskette zuließ. Tildas Mutter schaute erstaunt, als sie erst mich und dann Onkel Phil erkannte. “Oh, das ist aber eine Überraschung!”, schaltete sie erstaunlich schnell um auf Smalltalk. “Kommt doch rein. Was verschafft uns die Ehre?” Onkel Phil schob mich in die Kabine, die praktisch genau so aussah, wie unsere. “Tilda putzt sich gerade die Zähne. Geh ruhig rein zu ihr!”, deutete Tildas Mama auf die Tür zum Badezimmer. Ich nickte verlegen, machte kehrt und öffnete die Tür zum Badezimmer. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte dort zu sehen zu bekommen. Auf jeden Fall blieb mir die Spucke weg. Da stand Tilda, nur mit einer dicken hellrosa Windel bekleidet übers Waschbecken gebeugt und putzte sich die Zähne. “Tür suh, ef zfieht!”, nuschelte sie durch den Zahnpastaschaum. Reflexartig kam ich der Bitte nach und stand einen Augenblick später neben ihr. Immernoch unfähig, zu sprechen. Ihr Anblick war umwerfend. Sie brachte die Reinigungsarbeiten zu Ende, trocknete sich das Gesicht ab und strahlte mich an: “Hallo Paul, cool das du vorbeischaust! Aber was machst du hier?” Stille. Ich hörte, wie das Blut in meinen Ohren pulsierte. Ich musste jetzt was sagen. Und schaffte es irgendwie, Tilda von unserem Plan mit dem gemeinsamen Essen zu erzählen. Uff. Jetzt war’s raus. Tilda strahlte. “Hammer! Eine super Idee. Klar kommen wir. Denke ich. Ich muss das gleich nur noch mit Mama klären!” Ohne viel weitere Worte stürmte sie aus dem Badezimmer um keine fünf Sekunden später bereits auf dem Schoß ihrer Mutter zu sitzen, und ihr Planung des morgigen Abends erklärte. Sie erntete nur ein müdes Lächeln, denn natürlich hatte Onkel Phil das Thema längst geklärt. “Und weil das morgen sicher spät wird!”, ermahnte sie ihre Mutter, “verschwindest du jetzt in deinem Zimmer und machst die fertig fürs Bett! Außerdem weißt du genau, dass ich es nicht leiden kann, wenn du nur in der Windel durchs Zimmer rennst! Paul kann ja noch kurz mitkommen!” Oha. Damit war dann ja auch geklärt, woher Tilda ihre direkte Art hatte. Ich grinste. Und trottete hinter ihr her in ihr Zimmer, das anders als meines, komplett im Arielle-die-kleine-Meerjungfrau-Unterwasserwelt-Style eingerichtet war.
Tilda marschierte zu ihrer Kommode und griff sich ein Unterhemd und zog es sich über den Kopf. “Diese ewigen Regeln gehen mir echt auf die Nerven!”, nölte sie. “Ist dein Onkel auch so streng?” Ich schüttelte den Kopf. War mir damit aber auf einmal gar nicht mehr so sicher. Auch Onkel Phil hatte schließlich ganz klare Vorstellungen, wie er bestimmte Dinge haben wollte, und wie nicht. Und so blieb mir nur ein Achselzucken. Manchmal schon. Sie zog sich gerade das Unterhemd nach unten, als ich sah, dass das gar kein Unterhemd war, sondern ein Body. Sie trug die Dinger also auch zum Schlafen. Nachdem sie die Druckknöpfe zwischen den Beine zugefummelt hatte, schlüpfte sie in ein hellblaues Nachthemd, zog sich türkisfarbene Hüttenschuhe an und schleppte mich zurück zu den Erwachsenen. “Fertig!” Das Timing war perfekt. Onkel Phil stand bereits und war schon fast auf dem Weg zur Tür. Wir verabschiedeten uns und saßen keine 7 Minuten später in unserer Kabine auf Onkel Phils Bett. Wobei ich kaum noch die Augen offenhalten konnte. Akkus leer, nichts ging mehr. Ich schaltete um auf Welpenblick und gab Onkel Phil zu verstehen, dass ich auf gar keinen Fall mehr die Kraft hätte, mich selbst bettfertig zu machen. Völlig ausgeschlossen. Onkel Phil hatte nicht wirklich ein Problem damit. “Mhja. Es war ein langer Tag!”, sagte er ruhig, während er begann, mir meine Schuhe auszuziehen und mich aus dem Overall zu schälen. Da schlief ich aber bereits. Dass mir Onkel Phil noch grob mein Gesicht wusch, meine komplett nasse Windel wechselte und es dann schaffte, mich schlafend in meinen Schlafanzug zu bekommen, bekam ich nicht mehr mit.
Neun Stunden später waren ich wieder topfit und kletterte auf Onkel Phil herum. Der stellte sich schlafend und war nicht wirklich bereit, sein Bett zu verlassen. Nicht half. Kitzeln, Decke klauen, volllabern. “Ich schlafe noch, Paul!” Tat er natürlich nicht. Aber es machte ihm offensichtlich einen Heidenspaß, mich zu ärgern. Das Problem: Ich hatte einen Mordshunger. Und wollte Frühstücken. Jetzt sofort! Erst als ich mich auf den Weg ins Badezimmer machte um ein Glas Wasser zu holen, das ich Onkel Phil über den Kopf schütten wollte, kam Bewegung in die Sache. Er hechtete aus dem Bett, erwischte mich am Bund meiner Schlafanzughose, zog mich zu sich und begann, mich genüsslich durchzukitzeln. Das tat gut. Rumalbern. Einfach so. Hunger hatte ich trotzdem. “Okay, ich ziehe mich ja schon an”, gab Onkel Phil schließlich nach. “In deinem Zimmer liegen deine Klamotten. Windel noch okay?” Verlegen zuckte ich mit den Schultern. Nicht nur, dass ich vergessen hatte, dass ich eine Windel trug, ich hatte auch keine Ahnung, wie es in der Windel aussah. Ein schneller Griff von Onkel Phil klärte die Sache. “Geht noch. Zieh dich also schnell an, damit wir was gegen deinen knurrenden Magen machen können!” Geht noch? Hieß jetzt was bitte? Das könnte man jetzt ausdiskutieren. Wenn mein Magen nicht in den Kniekehlen hängen würde. Und deshalb sprintete ich in mein Zimmer, fummelte mich aus dem Schlafanzug und holte mir die grüne Werder-Bremen-Strumpfhose von dem Stapel Klamotten, den Onkel Phil mir auf der Kommode bereitgelegt hatte. Da ich ja nach wie vor nur einen Arm und eine Hand benutzen konnte, dauerte das Anziehen seine Zeit, aber ich bekam es hin. Dass mein Gipsarm nicht mehr schmerzte, war dabei mehr als hilfreich. Und so stand ich fünf Minuten später im Eingangsbereich unserer Kabine und schlüpfte in meinen neuen Neon-Sneakers. Die wollten zwar nicht so ganz zur hellblauen Leggings und dem gelben Kapuzenpulli passen, aber für mich stand fest, dass nichts und niemand mich von meinen monstercoolen neuen Tretern würde trennen können. Ende der Durchsage.
Und außerdem gab’s beim Frühstück deutlich schrillere Outfits. Wenn ich da nur an die älteren Leute dachte, die ihrer Spießer-Klamotten wahrscheinlich nicht mal zum Schlafen auszogen. Würde ich nie verstehen. Musste ich ja erstmal auch nicht. Onkel Phil konnte prima mit dem Leben, was mir gefiel. Und mehr war aktuell einfach nicht wichtig. Abgesehen von einer vierfachen Portion Frühstücksflocken, versteht sich. Gefolgt von einem doppeltem Omlett mit Oliven, Tomaten, Frühlingszwiebeln und Extra-Käse. Die deftige Ei-Käse-Kombi war um diese Uhrzeit nicht jedermanns Sache, aber ich stand drauf. Aus taktischen Gründen musste das Omlett aber noch warten. Erstens wurde Onkel Phil immer ziemlich stinkig, wenn ich beim Frühstück nicht erst brav am Tisch die Getränke bestellte und meinen Platz herrichtete und zweitens war die Schlange am Omlett-Tresen immer extrem lang. Hier in meinem Zustand: Bis ich an der Reihe kommen würde, wäre ich längst verhungert. Also erst brav einen Kakao bestellen, Besteck und Serviette ausbreiten und dann ab zu den Cerealien. Grundlagen schaffen. Auch ganz wichtig für einen entspannten Start in den Tag: langsam Essen. “Wir sind hier nicht im Zoo!” war einer der Standard-Sprüche von Onkel Phil, wenn jemand am Tisch Essen in sich reinschaufelte, als gäbe es fünf Minuten später nichts mehr. Das gedrosselte Tempo war zudem ganz nützlich. So konnte ich die Omlett-Schlange im Blick behalten und, bei einer sich bildenden Lücke, sofort loslegen. So wie jetzt. Eine junge Kellnerin räumte gerade meine Müsli-Schüssel vom Tisch, als meine Omlett-Chance kam. Katzengleich schnellte ich vom Stuhl und wollte in Richtung Omlett-Tresen starten. Auf so viel Schwung war der Stuhl leider nicht vorbereitet und kippte mir einem dumpfen Scheppern hinten über. Nix mit Katze. Eher der Elefant im Porzellanladen. Scheiße. Alle Augen auf Paul. Praktisch gleichzeitig schloss sich Onkel Phils eiserner Griff um mein rechtes Handgelenk. Blitzstart abgebrochen. Zu allem übel sah ich aus den AUgenwinkeln, wie die Omlett-Schlange bereits wieder ihre ursprüngliche Länge erreicht hatte. Ich schnaufte genervt. Das hatte Onkel Phil aber deutlich besser drauf. “Stuhl aufheben! Hinsetzen!” Ja doch. Der folgende Anschiss war deutlich. Aber typisch Onkel Phil, nicht aggressiv oder bösartig. War ja auch alles richtig. Mein Verhalten war kindisch. Aber hey: Ich war elf Jahre alt. Also fast. Und so dauerte es fast 15 Minuten, bis Onkel Phil mich endlich richtig Omlett ziehen lies. Langsam. Und gesittet. Ich schlich also im Schneckentempo los und stellte mich in die Schlange. In die Mutter aller Warteschlangen. Himmel, ich konnte von hier den Tresen gar nicht sehen. Echt jetzt! Also ich nach einer gefühlten Ewigkeit schon fast an der Reihe war, bestellte der Gast vor mir sieben, ja SIEBEN Omletts. Natürlich. Warum nicht gleich eine Omlett-Runde fürs ganz Schiff? Das war so ungerecht. Und außerdem war der Platz hinter dem 7-Omlett-Mann echt anstrengend. Der Kerl dünstete etwas aus, das roch wie die Kombination aus irgend einem süßlich-herben Parfum und faulen Eiern. Ich litt Höllenqualen. Und jeder konnte es sehen. Selbst aus der Ferne konnte ich Onkel Phils Grinsen sehen. Das wich einem zufriedenen Lachen, als ich endlich mit meinem XXL-Omlett zurück an den Tisch kam. “War viel los? Wo warst du denn so lange?”, prustete er in seine Serviette. Sehr witzig, Onkelchen. Ich streckte ihm kurz die Zunge raus und konzentrierte mich dann aufs Wesentliche. Jetzt auch noch ein kaltes Omlett essen zu müssen, wäre zu viel für mich gewesen. Es war köstlich. Und vertrieb auch endlich den fiesen Geruch, den ich seit der Anstellerei in der Nase hatte. Ein Omlett, drei Scheiben Toastbrot, eine Schüssel Obst und zwei Kakao später war der Hunger endlich Geschichte. Dafür war der 7-Omlett-Mann-Geruch wieder da. Das bemerkte ich aber nur so am Rande. Ob ich mir für den Weg zur Kabine noch ein kleines Eis mitnehmen sollte? Konnte ja nicht schaden. Da wurde aber nichts draus. Weil mit Onkel Phil freundlich aber bestimmt in Richtung der Kabine schob. Ich war irritiert. Warum war denn ein Eis ein Problem? “Das Eis ist kein Problem, Paul!”, flüsterte Onkel Phil. “Aber wir müssen packen. Und du brauchst dirngend einen Boxenstopp!” Was? Warum Boxenstopp? Die Windel war nass, klar. Aber das war doch kein Problem. “Komm einfach mit!”, beendete Onkel Paul die Diskussion. “Das müssen wir nicht hier besprechen!”
Mussten wir wirklich nicht. Weil’s einfach unappetitlich gewesen wäre. Nur so viel: Der Geruch in der Omlett-Schlange, das war ich gewesen. Ich dachte, es wären nur ein paar Blähungen vom vielen Müsli. Es war aber deutlich mehr. Keine große Sauerei. Aber eben eindeutig mir zuzuordnen. Das war ein echter Tiefschlag. Ich hatte vor lauter Wut über die Ansteherei echt nicht mitbekommen, dass ich gemacht hatte. Das Gefühl selbst war ja nicht neu. Aber bislang hatte ich wenigsten mitbekommen, was passierte. Auch wenn ich es nicht mehr verhindert konnte. Auf dem Weg zur Kabine verlor Onkel Phil darüber kein Wort. Erst als wir unter uns waren, erklärte er mir seinen Verdacht. Der sich wenige Augenblicke später bestätigte. Ich hatte mich auf mein Bett gelegt und Onkel Phil hatte mit Leggings, Strumpf- und Unterhose ausgezogen. Und mit jeder Schicht wurde der Duft intensiver. Onkel Phil öffnete die vier Klebestreifen mit routinierten Handbewegungen und hatte die Bescherung schnell im Griff. “Das roch viel schlimmer, als es war!”, meinte er, während er mir vorsichtig die Tränen aus dem Gesicht wischte und dann mit der ordentlich zu einem kompakten Paket verklebten Windeln in Richtung Badezimmer verschwand. Das sollte mich wahrscheinlich trösten. Aber jedes “Ratsch” der Windeltapes war ein Stich in mein Herz. Ich hatte echt fast keine Kontrolle mehr. Das Gefühl der Hilflosigkeit war überwältigend. Das soll bitte aufhören, wimmerte ich. “Wird es!”, drang Onkel Phils Stimme an mein Ohr. Er hatte sich fast lautlos neben mich gelegt und hielt mich in seinen Armen. “Du kennst die Diagnose. Und du weißt, dass der Spuk bald vorbei sein wird. Wir müssen gleich nochmal zur Ärztin. Ein schneller Abschlusscheck, bevor wir morgen das Schiff verlassen. Das auch noch. Wir lagen ziemlich lange so da. Ich brauchte jetzt einfach die Nähe eines Erwachsenen. Und Onkel Phil gab mir die Zeit. Als er mich eine knappe Stunde später ins Badezimmer schickte, verstand ich zunächst nicht, was ich da sollte. “Aufs Klo gehen, vielleicht!?”, rief er mir hinterher. “Wir sollten wenigstens so tun, als sei es noch normal, auf die Toilette zu gehen!” Stimmte schon. Ich hatte aber wenig Hoffnung. Und wurde positiv überrascht. Es dauerte ein bisschen, aber dann funktionierte das auf der Toilette überraschend gut. Es war bei weitem nicht alles in der Windel gelandet. Ein kleiner Lichtblick immerhin.
Als ich anschließend zurück in mein Zimmer schlurfte, sah die Welt schon nicht mehr ganz so düster aus. Was auch daran lag, dass Onkel Phil bereits einen Großteil meiner Sachen in die große Sporttasche verstaut hatte. Krass, wie groß mein Zimmer auf einmal wirkte. “Sieht so aus, als wärst du erfolgreich gewesen!?”, hörte ich Onkel Phils, der halb unter dem Bett lag und dort eines meiner T-Shirts, eine Packung Feuchttücher und einen von Julis Schnullern hervorzauberte. “Ah, da isser ja. Den kommt Juli gleich abholen!”. Juli kommt? Gut! Dann können wir ja besprechen, was wir heute noch machen! “Könnt ihr. Aber vielleicht willst du dir vorher noch was anziehen?”, kam von Onkel Phil mit einem Grinsen? Oh. Ups. Ich war untenrum echt immernoch noch nackt. “Denn Pullover kannst du anlassen”, ordnete Onkel Phil an. “Aber für den Termin bei der Ärztin hätte ich gerne, dass du dir was Ordentliches anziehst!” Yes, Sir! Also keine Leggings. Sondern richtige Klamotten. Latzhose? Ein Nicken von Onkel Phil. Mit Strumpfhose? “Musst du selbst wissen, Paul!” Und welche Windel? “Ich bin nicht deine Mutter, junger Mann!. Du entscheidest, was du genau anziehen willst. Hauptsache, es sieht ordentlich aus!” Also gut. Ich zog die hellblaue Latzhose aus dem Hosenstapel, angelte mir eine grün-weiß gestreifte Slipboxer, eine nicht ganz so dicke grau-grüne Baumwollstrumpfhose und griff nach einigem Zögern zu einer der neuen Windeln. Die volle Packung, also. Ich hatte heute schlicht keine Lust mehr, auf böse Überraschungen oder hektischer “Aufs-Klo-Rennerei”. Egal wie sehr ich mich anstrengte, das meiste würde eh in der Windel langen. Und so lag ich kurze Zeit später wieder auf meinem Bett und wurde von Onkel Phil gewickelt. Die neuen Windeln fühlten sich heute noch genauso dick und fest an, wie gestern. Das würde dauern, bis ich mich daran gewöhnen würde. Dann die Unterhose, bei der sich schnell zeigte wie gut die Entscheidung war, sie eine Nummer größer zu kaufen. Der obere Rand der Windel schaute dennoch über den breiten Gummibund hinaus. Onkel Phil steckte mir das Unterhemd sorgfältig in die Unterhose, zog mir mit einer fließenden Bewegung die Strumpfhose hoch und verschloss wenige Augenblick später auch die Träger der Latzhose. Fehlte noch eine ordentliche Frisur, die er mit einer Bürste und einem Klecks Gel in Form wuschelte. “Kuck an, ein ordentlicher junger Mann!”, flachste er. “Wo warst du denn in den letzten Tagen?” Ich streckte ihm die Zunge raus. Bevor mir Onkel Phil ein Kissen an den Kopf werfen konnte, war ich auch schon in Richtung Kabinentür verschwunden. Es hatte geklopft. Und das konnte nur Juli sein. War er auch. Allerdings nicht ganz der Juli, den wir gestern bei seinen Großeltern abgegeben hatten. Vor der Tür stand der alte Juli. Dicke, hellbraune Cordhose, ein weißes Hemd und ein affiger Pullunder. An den Füßen grausam-langweilige Schnürschuhe. “Sag jetzt kein Wort!”, zischte er. Ich biss mir auf die Zunge. “Wir gehen gleich zu einem Vortrag eines Ornithologen. Über die Besonderheiten der Zugvögel-Population in den Anreiner-Staaten der Nordsee. Drei Stunden. In der Bibliothek. Nur geladene Gäste. Ich muss mit. Als Gegenleistung dafür, dass ich heute Abend die Sachen anziehen darf, die ich will!” Uh, fieser Deal. Und ich dachte schon, du willst uns eine Versicherung verkaufen. Mein Glück, dass nichts in Juli Nähe war, das er hätte zertrümmern können. “Habt ihr meinen … also den … Schnuller … gefunden?”, druckste er herum. “Klar! Hier fang!” Onkel Phil stand plötzlich im Flur und warf den rot-blauen-Schnuller zu Juli. Der fing ihn auf und schloss schnell die Finger um das Ding. Kurz konnte ich in seinen Augen die Freude aufblitzen seine. Die Erleichterung. Sein Geheimnis, sein Schatz! Ich lächelte milde. Der arme Kerl hatte in den nächsten Stunden schon genug zu ertragen. Wobei es bei mir ja nicht viel besser aussah. Der Termin bei der Ärztin. “Wir können ja tauschen!?”, lächelte Juli gequält. Als für uns beide kein Vormittag, der in die Geschichte der großartigsten Vormittage unseres Lebens eingehen würde. Und so stapfte Juli wenigen Minuten später los in Richtung Oberdeck, wo er sich mit seinen Großeltern vor der Bibliothek treffen wollte. Ich trottete hinter Onkel Phil her und stand kurz darauf in einem der unteren Decks vor der Krankenstation des Schiffes. Wir wurden von einer Krankeschwester im Wartezimmer untergebracht. Und dort, das schien ein ungeschriebenes Wartezimmer-Naturgesetz zu sein, verging die Zeit in Zeitlupe. Jede Minute wird gefühlt zur Stunde. Ätzend. Zu lesen gab’s nur Werbeflyer und Prospekte der Rederei oder Broschüren von diversen Krankenkassen. WLAN und ein paar Spiele auf Onkel Phils Smartphone zocken war auch keine gute Idee. Hier unten gab’s keinen Empfang. Ganz abgesehen davon würde Onkel Phil auf keinen Fall zulassen, dass meine gerade überwundene Spielsucht wieder auflebte. Also fing ich an, mir selbst und Onkel Phil auf die Nerven zu gehen. Lagerkoller. Wobei dahinter einfach nur Unsicherheit steckte. Ich hatte schlicht eine panische Angst davor, was gleich passieren würde. Was wollte die Ärztin denn noch?
Einfache Antwort: Den Heilungsverlauf des gerichteten Armes untersuchen. Den Gips kontrollieren. Onkel Phil den Arztbrief für den behandelnden Kollegen am Festland übergeben. Und ein bisschen darüber erzählen, was in den nächsten Wochen auf mich zukommen würde. Die OP also. “Ich habe mit deinem Arzt zu Hause und dem Kollegen auf Sylt gesprochen”, berichtete sie. “Wir sind uns über die nächsten Schritte einig und zu fast 100% sicher, dass deine Inkontinenz nach der OP sehr schnell nachlassen wird!” Nachlassen? Wie, nachlassen? Ich dachte, das sei dann ganz vorbei? “Ja, davon können wir ausgehen!”, beruhigte sie mich. “Dennoch dauert es nach solchen Eingriffen immer eine Weile, bis alles wieder normal funktioniert! 14 Tage sind realistisch.”. Und dann keine Windeln mehr? “Ja, dann keine Windel mehr!” Okay. Damit konnte ich leben. Ich konnte mit allem leben, das mich davor bewahrte, mit einer Pampers zur Schule gehen zu müssen! “Du wirst nach der OP eine Woche an einer Rehamaßnahme teilnehmen und dort mit anderen Kindern mit ähnlichem Krankheitsbild üben, die Sache schnell in den Griff zu bekommen.” Aha. Na das konnte ja heiter werden. War ja aber auch noch lange hin. Viel wichtiger war, dass sich Onkel Phil ebenfalls ins Gespräch einklinkte und das Thema auf das Problem mit der zunehmend schlimmer werdenden Stuhlinkontinenz lenkte. Stille im Behandlungsraum. Ich hatte sofort Tränen in den Augen. Das war so peinlich. Frau Doktor ließ sich aber nicht aus dem Konzept bringen. “Wie schlimm ist es aktuell?”, fragte sie mich direkt. Ich war überfordert. Wollte da nicht drüber reden. Auf gar keinen Fall! Es half aber alles nichts. Wenn ich nicht reden würde, würde es Onkel Phil tun. Der nickte mir aufmunternd zu und drückte meine Hand. “Reden, Paul. Jetzt!” Und so erzählte ich ihr, dass die Sache in den letzten beiden Tagen praktisch komplett aus dem Ruder gelaufen war. Kaum noch Signale vom Darm, praktisch keine Kontrolle mehr!” Meine Stimme zitterte, immer wieder musste ich mit den Tränen kämpfen. Aber ich sprach. Und ließ nichts aus. Die Ärztin hörte zu. Und machte sich ein paar Notizen. Nur um dann einen Plan parat zu haben: “Hör zu, Paul! Ich gehe nicht davon aus, das dahinter ein körperliches Problem steckt. Es ist sehr, sehr häufig, das vor allem Kinder mit einer körperlich bedingten Inkontinenz irgendwann auch Probleme mit dem Stuhlgang bekommen. Enkopresis nennt sich das dann. Die ist aber in über 90% der Fälle psychisch bedingt. Die ganze Situation mit den Windeln und der Einnässerei bedeutet Stress für dich. Und sehr oft reagiert der Körper dann eben so, dass auch andere Funktionen ausfallen. Dennoch müssen wir mit ein paar Tests klären, ob da nicht doch mehr dahinter steckt!” Ich war verwirrt. Tests? Wie wollten die das denn testen? Auch Onkel Phil guckte ziemlich ahnungslos. Die Erklärung folgte umgehend: “Eigentlich ist das alles schnell gemacht. Du bekommst ein bestimmte Zeit nach dem Essen ein sehr schnell wirkendes Abführmittel von uns. Gleichzeitig wirst du an diverse Elektroden angeschlossen mit deren Hilfe wir messen können, ob die Signalübertragung deines Darms und des Schließmuskels in Richtung Gehirn problemlos funktioniert. Wenn das der Fall ist, können wir die Sache ganz entspannt sehen. Dann wird das Einkoten genau so schnell verschwinden, wie es nach der OP mit der Inkontinenz der Fall ist!” Uff, das war jetzt aber ganz schön viel Information in ganz kurzer Zeit. Festplatte voll. “Klingt aber doch ziemlich aufwändig!”, warf Onkel Phil ein und sprach mir damit aus der Seele. “Nein, wirklich nicht!”, beruhigte uns die Ärztin. “Da wir ja nur sehr wenige Passagiere an Bord haben, können wir das sogar hier machen!” Jetzt war auch Onkel Phil überrascht. “Also heute?”. Kurzes Schweigen. “Ja, heute!”, meinte die Ärztin. Ganz abgesehen davon, dass ich es nicht ausstehen konnte, wenn Erwachsene in meinem Beisein über Dinge sprachen, die vor allem ich aushalten musste, war ich komplett verloren. Zu viel Input in zu kurzer Zeit. Und genau die bräuchte ich jetzt. Inklusive Onkel Phil, der mir das Stück für Stück aufdröselte. Also hielt ich die Klappe. Und ließ mir den Plan später ganz genau von Onkel Phil erklären.
Das nahm dann doch deutlich weniger Zeit in Anspruch, als befürchtet. Das war auch gut so, denn die ganze Aktion sollte bereits eineinhalb Stunden nach dem Mittagessen über die Bühne gehen. Kurz nach elf waren wir wieder auf unserer Kabine, um 12:15 wartete unser Tisch im italienischen Restaurant. Onkel Phil parkte mich kurz vor dem Fernseher, um meine Mutter auf den neusten Stand zu bringen. “Alles klar mit deiner Mum!” meinte er, als er sich wenig später neben mich setzte. “Jetzt aber zu uns!” Ich stellte den Fernseher auf lautlos und wartete, was Onkel Phil sagen würde. Tat er aber nicht. Statt dessen schnappte er mich an der Latzhose und trug mich wie eine Einkaufstüte rüber zu seinem Bett. Ich war überrascht. Was kam denn bitte jetzt? “Ruhig bleiben, Kleiner”, kam die kurze Ansage. “Wir müssen dich erst aus der nassen Windel bekommen!” Nasse Windel? Echt? Ein vielsagendes Nicken von Onkel Phil. Konnte schon sein. Jetzt spürte ich auch, was er meinte. Die Windel vor im Schritt ziemlich aufgequollen und fühlte sich ungewohnt steif an. Wann das alles in die Windel gegangen war, konnte ich aber beim besten Willen nicht mehr sagen. Spielte ja auch keine Rolle. Ich hielt still, ließ mich wickeln und bekam nun endlich genau erklärt, was in den nächsten Stunden passieren würde.
Und so saßen wir wie bestellt um 12:15 beim Italiener und orderten unser letztes Mittagessen an Bord. Ich machte kurzen Prozess mit einer Salami-Pizza, zwang mir unter den strengen Augen von Onkel Phil einen “Alibi-Beilagensalat” runter, spülte mit 0,5 Litern Apfelschorle nach und beendete die kulinarische Italien-Reise mit einem gemischten Eis. Ohne Sahne. Danke, satt. Ein herrliches Gefühl. Dass das alles gleich mehr oder weniger schlagartig wieder aus mir rauskommen würde, verdrängte ich an dieser Stelle. Onkel Phil schlürfte dann noch genüsslich einen doppelten Espresso, blickte kurz auf die Uhr und trieb mich dann mit einem kurzen Kopfnicken in Richtung Krankenstation. Den Raum, in den wir dort geführt wurden, kannte ich noch nicht. Das war kein Behandlungszimmer. Dafür war er viel zu groß. Und zu bequem. Sessel, zwei bequeme Sofas, eine Hänge-Schaukel, jede Menge Bücher und Zeitschriften und eine kleine Kinderspielecke. “Das ist unser Warteraum für Angehörige!”, erklärte die Krankenschwester, als sie keine zwei Minuten später zu uns kam und die Tür hinter sich schloss. “Hierher können sich die Angehörigen von Patienten zurückziehen, deren Behandlung länger dauert! Und Sie werden sicherlich die nächsten zwei Stunden hier sein!” Ah ja. Na dann. “Bevor die Frau Doktor zu Ihnen kommt, um Paul das Abführmittel zu geben, würde ich Ihnen empfehlen, ihm die privaten Kleidungsstücke auszuziehen. Es kann gut sein, dass die sonst in Mitleidenschaft gezogen werden! Ich habe ihnen Wechselwäsche mitgebracht. Braucht Paul vorher noch eine frische Windel?” Sie taten es schon wieder. ÜBER mich reden. Nicht MIT mir. Blöde Kuh. Onkel Phil spürte, wie sehr mir das gegen den Strich ging. “Um mich geht es in diesem Fall ja nicht!”, bremste er die gute Frau ein wenig aus. “Besprechen Sie Ihre Fragen doch bitte mit Paul selbst!” Klatsch, das hatte gesessen! Ich schnaufte zufrieden, die Schwester zwinkerte irritiert hektisch mit dem rechten Augelid. Es war ganz offensichtlich, dass es jetzt sie selbst war, die sich in ihrer Haut nicht mehr ganz so wohl fühlte. Also alles nochmal von vorne. Das bekam sie dann aber doch ganz gut hin. “Hast du alles verstanden, Paul?” Ja, hatte ich. “Brauchst du vielleicht vorher noch eine frische Windel?” Ich antwortete nicht sofort, sondern nahm mir die Zeit, mich auf die Windeln zu konzentrieren, Schien so gut wie trocken zu sein. Also ein Kopfschütteln. “Wunderbar!”, kam sie zum Schluss. “Dann zieh dich doch bitte schonmal um, es geht in 10 Minuten los!”
Autor: Der Beobachter (eingesandt via E-Mail, exklusiv)
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