Alles wird besser, vielleicht sogar gut (1)
Windelgeschichten.org präsentiert: Alles wird besser, vielleicht sogar gut (exklusiv bei Windelgeschichten.org)
Ich hatte es verbockt. Aber so richtig. Das durfte doch alles nicht war sein. Wochenlang hatte ich meine Mutter angebettelt, diesen Urlaub machen zu dürfen. Mit Onkel Phil. Papas jüngerem Bruder. Phil war so ziemlich die coolste Sache, die meine Abstammung väterlicherseits mit sich brachte. Ganz im Gegensatz zu meinem Herrn Vater selbst. Der hatte sich vor drei Jahren nach Südamerika abgesetzt hatte. Mit unseren Ersparnissen und einer wirklich schwer zu ertragenden Kellnerin, die sich für mindestens so attraktiv hielt wie Heidi Klum und ständig von ihrer langsam in Fahrt kommenden Model-Karriere faselte. Is klar. Selbst als damals fast Achtjähriger hatte ich schnell herausbekommen, dass sie bei einer weltbekannten Burgerbraterei “kellnerte” und sich ihre Model-Erfahrung auf einen Auftritt ihrer Fingernägel in einem “Nur ab Mitternacht auf einem regionalen Spartenkanal zu sehenden”-Werbespot für ein Sonnenstudio mit angeschlossener “Nagel-Manufaktur” handelte. Sehr arm. Aber doch anziehend genug, für meinen alten Herrn. Noch viel ärmer.
Er verschwand also. Einfach so, über Nacht. Nicht, dass das irgend etwas geändert hatte. Er war auch vorher praktisch nie da gewesen. Abwechselnd beruflich Dauerunterwegs oder auch mal im Knast. Weil immer mal wieder selbstständig und in steuerlichen Angelegenheiten nicht ganz so eine große Leuchte. Seitdem waren Mama und ich alleine. Oder besser: zu dritt. Denn da gab es ja noch Sandy, bzw. Sandra. Meine große Schwester. Und groß, meint in diesem Fall beides: Alter und Körperbau. Sandra war 21, studierte Sport und nochwas auf Lehramt und spielte nebenher Basketball in der Bundesliga. Ich mochte meine große Schwester. Sie war cool, nett und praktisch fast nie da. Entweder in der Uni, oder beim Training, oder beim Spiel, oder mit ihren coolen Freunden unterwegs. Alles Galaxien enfternt, für nicht ganz so groß und beeindruckend geratenen Nachzügler wie mich. Aber : sie ließ mich in Ruhe. Außerdem war es hin und wieder ganz praktisch, eine “berühmte” und körperlich so ziemlich jedem Kerl überlegene Schwester zu haben. Die meisten Spinner ließen mich deshalb in Ruhe.
In meinem kleinen Mikrokosmos hatte sich seit dem Abgang meines Papas also theoretisch nicht viel verändert. Praktisch aber alles. Der Grund war, natürlich das Geld. Mama arbeitete halbtags als Arzthelferin bei einem Dermatologen und musste nach dem Papa-Exit umstellen auf eine 100%-Stelle. Damit kamen wir gerade so über die Runden. Aber vor allem deshalb, weil wir im geerbten Häuschen von Mamas Großeltern lebten und meine Mutter sich wenig um teure Trends scherte, die ein Neunjähriger so anschleppt. “Wir sind ein Durchschnittsfamilie, der ein Durchschnittsmann fehlt!”, war ihr Lieblingsspruch. Ich hasste diese Floskel. Weil sie davon unter gar keinen Umständen abweichen würde. Niemals. Knsequenz war in solchen Dinge ihr zweiter Vorname. In der Welt eines Schüler ist “Durchschnitt” der Eintrittskarte ins Niemandsland. Vor allem, wenn man auf eine Privatschule geht. Eine sündhaft teure Privatschule. Die einzige Extravanganz, die Mama sich (und wie sie hoffte mir), zugestand. Und hey, für jemand, der den Mangel an staatlichen Bildungseinrichtungen kennt, war die Bucheckern-Schule sicher so etwas wie der Himmel auf Erden. Kleine Klassen, topmodern ausgestattete Klassenzimmer, ein wirklich saucooler Pausenhof mit Labyrinth, Quad-Bahn und chilligen Lounge-Möbeln. Nachmittags dann keine klassische Schüleraufbewahrung, sondern Neigungsangebote. Was so ziemlich alles sein konnte: Klettern an der schuleigenen Kletterwand, Downhill-Mountainbiken, Programmieren, Diskutieren und so ziemlich jeder Ballsportart, die man sich vorstellen konnte. Noten? Ja, die gab es, bestimmt. Sie interessierten in der Grundschule, bzw. der Unterstufe nur wirklich niemand. Es ging um einen ganzheitlichen, kooperativen Bildungsansatz. Sitzenbleiben ausgeschlossen. So ein pädagogisches Wunderding hatte eine beinahe magische Anziehung auf ganz bestimmte Gesellschaftsschichten: Neureiche Nachkommen der zweiten Alt-68er-Generation, Sprösslinge des alten Geldadels und Vertreter des besserwisserischen Bildungsbürgertums. Ein Durchschnitts-Paul war im strategischen Plan unserer Schule nicht vorgesehen. Und genau das war mein Problem. Nicht falsch verstehen: Mobbing oder Gewalt gab es in meinem Umfeld nicht. Höflichkeit und ein anständiger Umgang miteinander waren Grundregeln, die an der Bucheckern-Schule definitiv nicht verhandelbar waren. Glaubt mir: bedeutungloser Smalltalk kann schlimmer sein, als eine gut gepflegte Feindschaft. Ich bot zudem denkbar wenig Angriffsfläche. Meine Mutter achtete trotz ihres knappen Budgets peinlich genau darauf, dass ich immer gut angezogen war. Klassische aber hochwertige Jeans, schlichte Shirts und Pullover. Immer dunkle Schuhe. Alles Immer möglichst Ton in Ton. Gerne aus der Erbmasse von Cousins und anderen Durchschnittstypen. Ich besaß in der Tat nur eine Hose, die man mit ein bisschen gutem Willen als modern bezeichnen konnte. Dazu maximal zwei Shirts, die so etwas wie ein Markenlogo trugen. Dazu eine leicht zu rekonstruierende 08/15-Frisur. Ich war die Nachwuchs-Ausgabe eines städtischen Verwaltungsangestellten. Alles kein Problem, so lange der Rest der Klasse noch nicht viel auf bestimme Marken, TV-Serien und Styles gibt. Anstrengend wurde es eigentlich erst im letzten Jahr. Während um mich rum die Klamotten bunter und teurer, die Frisuren abgefahrener, die Smartphones größer und die Themen jugendlicher wurden, veränderte sich bei mir: nix. Zumindest nicht äußerlich. Dafür drehte sich die Stimmung in meinem Kopf. Das war schon immer so. Meine Realität spielte sich seit ich denken kann in meinem Kopf ab. Da war ich mutig, schlagfertig, clever und aufmüpfig. In der Welt draußen kam davon aber praktisch nie was an. Es war, als führten mein Hirn und mein Körper zwei getrennte Leben. Kurz nach meinem zweiten Geburtstag änderte sich das. Zumindest ein bisschen. Aus dem pflegeleichten Paul wurde ein bockiger Einzelgänger. Schule? Interessierte mich nur noch am Rande. Körperlich anwesend. War ja auch kein Problem. So ganz ohne Notendruck. Ich konnte nicht dazugehören. Also kapselte ich mich ab. Fokussierte mich auf meine Tagträume. Und meine tragbare Spielkonsole. Die hatte ich mit meinem letzten positiven Zeugnis, das bei uns “Jahreszusammenfassung” hieß, meiner Mutter abgetrotzt, die eigentlich keinerlei Verständnis für solche Technik-Spielzeug hatte. Onkel Phil schon. Er besorgte mir das Ding, inklusive einer ganzen Sporttasche voller Spiele. Mama wusste natürlich nur von ein paar wenigen Games. Die Tasche mit meinem Spiele-Schatz stand, als Onkel Phil längst wieder auf dem Heimweg war, einfach so in meinem Zimmer.
Ab diesem Zeitpunkt war ich dem Ding verfallen. Jede freie Minute daddelte ich. Und ich hatte Zeit. Viel Zeit. Schule war easy. Viele Hobbys hatte ich nicht. Und die wenigen Aktivitäten, die regelmäßig anstanden, schraubte ich auf Null herunter. Pfadfinder und Schwimmkurs? Alles Geschichte. Mama versuchte sporadisch, etwas gegen meine sich entwickelnde Spielsucht zu unternehmen. Als Verbote und festgelegte Spielzeiten nicht halfen, kassierte sie die Spiele ein. Sie wusste ja nichts von der Tasche im Keller mit einem quasi unerschöpflichen Nachschublager.
Praktisch gleichzeitig mit dem Einzug der Spielkonsole entstand auch die Idee mit dem Urlaub bei Onkel Phil. Der wohnte in einem umgebauten Bahnhof an der dänischen Grenze und wollte sich in den Herbstferien 14 Tage auf Sylt und Römö erholen. Er war Mode- und Werbefotograf und hatte in der Zeit vorher prall gefüllte Auftragsbücher. Jede Woche ein anderes Land, bzw. ein anderer Kontinent. “Da will ich mal eine Weile nichts anderes als Wind und Wellen sehen!”, erklärte er meiner Mutter. Und fragte ganz beiläufig, ob Sie was dagegen hätte, mich mitzunehmen. Der Knaller. Ich war sofort hin und weg. Natürlich. Abgesehen von Baggersee und einmal Kurzurlaub bei Oma Lieselotte im Allgäu war mein Ferienerlebniskonto chronisch im Minus. Der Rest war eine Kombi aus Hundeblick (ich), Argumenten (Phil), Betteln (ich), Argumenten (Phil), heulen (ich) und Argumenten (Phil). Tatsächlich dauerte es auch wirklich nicht lange, bis Mama einwilligte. Es passte sogar ganz gut. Parallel zu Job und der Betreuung ihres vorpubertären Sohns büffelte Mama nämlich für ihre Heilpraktikerprüfung und konnte ein bisschen Ruhe im Haus sehr gut gebrauchen.
Das Problem: Die nächsten Monate. In der Schule. Privat. Und überhaupt. Ich daddelte praktisch ununterbrochen. Meine Aufgaben im Haushalt blieben alle liegen. Ich verschwand praktisch aus dem Alltag. Das Fass zum Überlaufen brachte eine schriftliche Information der Schule über meinen aktuellen Leistungsstand, die am letzten Schultag vor den Ferien ins Haus flatterte. Zwei Tage vor der geplanten Abreise mit Onkel Phil. Inhalt: Paul ist lediglich körperlich anwesend. Hält sich nicht an Regeln. Ignoriert Arbeitsaufträge und erledigt keine der ihm übertragenen Aufgaben. Grande Katastrophe. Ich rechnete mit dem Anschiss meines Lebens. Der blieb aber aus. Statt dessen griff sie zum Telefon, wählte eine Nummer und sagte, nach den üblichen Begrüßungsfloskeln: “Nein Phil, Paul wird nicht mit dir in den Urlaub fahren!”. Schockstarre. Dann “Was passiert ist? Das soll er dir schön selbst sagen!”. Pause. Dann drückte sie mir das schnurlose Telefon in die Hand, schob mich in mein Zimmer und schloss die Tür. Erst jetzt spürte ich, wie mir die Tränen über die Wangen liefen. Ich zitterte. Und hörte aus weiter Ferne Onkel Phils Stimme, der wissen wollte, was denn los sei? Sprechen ging aber noch nicht. Ich hatte Rotz in der Nase, einen Klos im Hals und war komplett panisch. Phil ließ mich heulen. Blieb einfach in der Leitung. Nach zehn Minuten hatte ich mich soweit im Griff, dass zumindest wieder so etwas wie ein Gespräch zustande kommen konnte. Und dann redeten wir. Oder besser: ich redete. Der ganze Frust der letzten drei Jahre kam hoch. Mein dämlicher Vater, diese ätzende Schule, die Ungerechtigkeit, die Demütigungen als Durchschnitts-Niemand. Einfach alles. Phil sagte wieder nicht viel. Ein gefühltes Leben später war ich fertig. Alles Leer. Feuerrote Augen und ein klatschnasses Kopfkissen mit TKKG-Bezug. Wie ich diese Bettwäsche hasste. Wieder so ein Erbstück. Phil atmete tief aus und sagte dann: “Wir kriegen das wieder hin! Versprochen!” Was? Wovon träumte der denn? Da gab es nichts mehr hinzukriegen. Niemand. Wirklich niemand konnte meine Mutter umstimmen. Nicht Frau 1000 Prozent. “Gib mir mal deine Mutter!”, sagte die Stimme aus dem Telefon optimistisch. “Ich bin gleich bei euch!”. Was? Erst jetzt bemerkte ich, dass Phil offensichtlich aus dem Auto telefonierte. Wie lange denn schon, um Himmels willen? Wie ferngesteuerte schwankte ich in Mamas Büro. Sie war blass. Ich drückte ihr das Telefon in die Hand und ging zurück in mein Zimmer. Es war spät. 21.30 Uhr. Eigentlich sollte ich seit einer Stunde im Bett sein. Nicht noch mehr Angriffsfläche bieten, sagte irgend eine Stimme in meinem Hinterkopf. Also zog ich mich aus. Der verheulte blaue Pulli musste in die Wäsche. Überall Tränen und Rotz. Dann die Jeans, der weiße Rolli, das Unterhemd, die grüne lange Unterhose und die grauen Kniestrümpfe mit Superman-Logo. Mein Standard-Outfit, wenn hier auf dem Land der Herbst mit aller Macht durchs Land fegte. Alles flog in die Wäsche. Dann Zähne putzen, Haare kämmen und den TKKG-Schlafanzug anziehen. Der nervte mit eigentlich tierisch. Aber auch da war Mama eisern. Ich hatte vor zwei Jahren Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, die volle TKKG-Ausstattung zu bekommen. Als ich alles zusammen hatte, war ich glücklich. Das war aber vor zwei Jahren. Inzwischen war mir der ganz kindische Detektiv-Quatsch einfach nur peinlich. Aber: Ich hatte massig Zeug mit TKKG-Logo. Und alles passte noch. Wie gesagt, ich war wirklich kein Riese. Heute war mir das ganz egal. Ich marschierte vom Bad ins Büro meiner Mutter. Sie telefonierte immernoch. Oder wieder? Mit Onkel Phil? Nicht wirklich, oder? Statt einfach zu fragen, schaute ich sie nur aus kleinen verheulten Augen an. Ihre Antwort war ein kurzes Kopfnicken in Richtung meines Zimmers. Ihr Blick leer, enttäuscht, ratlos. Ohne ein weiteres Wort schlich ich in mein Bett. In die atemlose Stille mischten sich nur die leisen Wortfetzen von Mama am Telefon und das fast unhörbare Knistern des Matratzenschoners unterm blauen Spannbettlaken. Noch so ein Ding, das einfach nicht aus meinem Leben verschwinden wollte. Ich hatte bis zu meinem achten Lebensjahr immer mal wieder ins Bett gemacht und das volle Bettnässer-Programm hinter mir. Inklusive unzähligen Arztbesuchen, Blasenpiegelung, Ultraschall, Klingelhose und Tabletten. Gebracht hatte alles nichts, also war Mama kurz nach meiner Einschulung auf diese Trainerhöschen umgestiegen. Eigentlich kein Problem, abgesehen davon, dass man mit 8 eigebntlich schon mal gerne auswärts übernachten möchte. Das kam für mich aber nicht in Frage. Kurz vor meinem neunten Geburtstag war der ganze Spuck dann vorbei. Ganz von alleine. Seitdem war ich “trocken”, wie mein Kinderarzt Dr. Weißgerber es bei den üblichen U-Untersuchungen in meine Patientenakte notierte. Was blieb, war dieser schreckliche Matratzenschoner. Sie werde das Ding ganz sicher nicht kurz vor meiner Pubertät entsorgen, sagte meine Mutter beim letzten Mal, als ich beim Wechseln der Bettwäsche die Diskussion um das Teil wieder anheizte. Da werde der Matratzenschoner sicher noch gebraucht. Ich hatte nicht wirklich eine Vorstellung, wie sie das gemeint hatte. Gab mich aber, wie eigentlich immer, geschlagen.
Heute war eh alles egal. Ich würde die nächsten 14 Tage zu Hause verbringen, statt mit Onkel Phil am Meer. Und wahrscheinlich würde Mama auch die Spielkonsole einkassieren. Durchschnittsferien eines Durchschnittstypen. Und alles nur, weil ich meinen Alltag nicht in den Griff bekommen hatte. “Du Vollidiot!”, war der letzte Gedanke, bevor ich einschlief und eine letzte Träne ihren Weg ins feuchte Kopfkissen suchte.
Kein Traum, nichts. Als ich am nächsten Morgen die Augen öffnete, konnte ich mich tatsächlich an keinen Traum erinnern. Seit ich denken konnte, träumte ich. Von meinem “echten” Leben, als mutiger Kerl. Beliebt. Reich. Außergewöhnlich. Nicht so in dieser Nacht. Da war einfach ein schwarzes Loch im Kopf. Das versetzte mich fast schon in Panik. Wozu noch aufstehen, wenn ich nichtmal mehr in meine Träume flüchten konnte? Und warum lag ich eigentlich auf der Gäste-Matratze unter meinem Hochbett? Weil es aus dem Flur nach Kaffee roch, schlich ich leise in unsere große Küche. Dort saß Mama und, das war jetzt ein Schock, Onkel Phil, der mich ernst ansah. Keine übliche High-Five-Begrüßung. Nur ein kurzes “Hallo Paul!”. Er hatte das am Telefon also tatsächlich ernst gemeint. Dass er auf dem Weg sei. Aber es war doch erst Samstag. Eigentlich sollte er erst am Sonntag hier eintreffen. Was war denn hier los?
“Guten Morgen!”, begrüßte mich meine Mutter knapp. “Wir mussten dich heute Nacht in dein Gästebett umziehen!”, beantwortete Mama eine der Fragen, die mir durch den Kopf gingen. “Dein Bett war klatschnass!” Panisch sah ich an mir herunter. Ins Bett gepinkelt? Mit 12? Okay, fast 12? Nein, oder? Ich trug den bekannte TKKG-Schlafanzug. Gut, den hatte ich doppelt. Onkel Phil kam mir zur Hilfe. “Du hast sehr viel geheult, Paul!”. Uff. Okay. Erstmal die Atmung wieder in den Griff bekommen. Immerhin auf meine Blase konnte ich mich also auch in Ausnahmesituationen verlassen. Ich muss ein ziemlich komisches Bild abgegeben haben. Ein Beinahe-Teenager im Kinderschlafanzug, der mit gesenktem Kopf im Türrahmen steht, seine roten Schlaf-Socken mit Bob-der-Baumeister-Druck anstarrt und nicht so richtig weiß, wohin mit sich. Onkel Phil rettete die Situation. Er stand auf und drückte mich an sich. So fest, wie das nur Onkel Phil durfte. Ich begann schon wieder zu Schluchzen. Er trug mich zum Tisch und setzte mich auf meinen Stuhl. Ein unförmiges Ding, das früher mal ein Baby-Hochstuhl gewesen war und laut Hersteller ein echtes Wunderding war, weil es mit seinem Besitzer mitwuchs. Vom Babystuhl zur Teenie-Sitzgelegenheit. Eine Sensation des modernen Möbelbaus. Und ein echter Bestseller. Es saßen also ganz sicher unzählige Heranwachsende auf so einem Ding, das zwar nicht wirklich cool, aber saubequem war. Das tut jetzt aber nichts zur Sache. Entscheidend war, was dann folgte.
Mamas Vortrag zur Lage der Nation, bzw. meiner Situation. Überraschenderweise keine Vorwürfe. Dafür aber Konsequenzen. Die hatten es in sich, ließen sich aber immerhin alle auf konkrete Verfehlungen zurückführen. Die nächsten Monate würde ziemlich wenig Freizeit für mich bedeuten. Quasi gar keine. Eine fiese Kombi aus schulischen Nacharbeiten, Hausarbeit und organisierten Aktivitäten. Immer unter Aufsicht. Das Ziel: Ich sollte fit gemacht werden, für den Übergang auf ein “normales” Gymnasium. Kein Privatschul-Schlendrian mehr. Sondern das echte Leben. In einer echten Schule. Mit Durchschnittsschülern. “Los geht’s nach deinem Urlaub!”, erklärte meine Mutter. “Der wird auf knapp vier Wochen verlängert, weil deine neue Schule gerade saniert wird!”. Ich war noch dabei, die ganzen neuen Regeln in meinem Kopf einzusortieren und hatte den letzten Satz gar nicht wirklich mitbekommen. “Mh, ja”, nuschelte ich. “Schon okay. Darf ich bitte aufstehen? Ich bin satt.” Onkel Phil schüttelte grisend den Kopf. “Erde an Paul? Hast du deiner Mutter gerade zugehört?” Verwirrung. Dann, einmal im Kopf zurückspulen, soweit das bei dem ganzen Chaos da oben möglich war. Was hatte sie noch gleich gesagt? Nach “Nachhilfe”, “Förderkurs” und “Mathe-Camp?”. Ach ja, “Urlaub”. Aber der war ja gestrichen. War er doch? Halt, nein. Sie hatte gesagt “nach deinem Urlaub!”. Wie jetzt. Die Erkenntnis traf mich mit der Wucht eines Leberhakens. Phil hatte sie also tatsächlich rumgekriegt? Ich fiel Mama um den Hals. Und dabei liefen mir schon wieder die Tränen übers Gesicht. An der Heulerei musste ich wirklich mal arbeiten.
Über drei Wochen mit Onkel Phil am Meer. Das wird “Wahnsinn!”, platzte es aus mir heraus! “Ganz sicher”, kam es von Phil. “Wahnsinnig anstrengend!”. Bitte was? Warum denn das? Und dann kam der zweite Teil des Vortrags. Kurz zusammengefasst: Der Urlaub wurde zur Bildungsreise umgebaut. Viel frische Luft und jede Menge Aktivitäten. Aber auch ein straffes Lernprogramm. Mit Phil. Und diversen Nachhilfestunden. Jeden Tag. Drei Wochen lang. Bei der kleinsten Verfehlung hatte meine Mutter Phil das Versprechen abgenommen, mich umgehend in den Zug nach Hause zu setzen. Scheiß drauf, das würde sicher nicht passieren. Mama beendete ihren Monolog mit einem Fingerzeig in Richtung Aschentonne. “Schau mal rein!”. Unsicher marschierte ich zum Mülleimer. Deckel auf. Und schon wieder Tränen. Es war ein Massaker. Alle Spiele meiner Spielkonsole, fein säuberlich mit dem Hammer zerkleinert. Ganz unten blickte mit das gesprungene Display der Spielkonsole vorwurfsvoll an. Schöne Scheiße. Aber irgendwie hatte ich ja damit gerechnet. Der Schmerz war dennoch brutal. Und mit dem Schmerz kam die Wut. Die hatte aber keine Gelegenheit, sich richtig breit zu machen. Onkel Phil erkannte, dass ich drauf und dran war, die Fassung zu verlieren. Er schob mich ins Wohnzimmer um dort mit mir den detaillierten Plan für die Ferien zu besprechen. Inklusive der Mahnung, meiner Mutter jetzt auf keinen Fall einen weiteren Grund zu liefern, die Sachen abzublasen. Und diesmal final. Mama sollte währenddessen meine Taschen packen. Das machte sie eh immer. Die Marotte sorgte zudem dafür, dass sie ausschließen konnte, dass irgendwelche Daddelgeräte mit auf die Reise gehen konnten. Zwei Stunden später war der Ferien-Plan fertig, In meinem Zimmer stand eine kleine Reistasche und ein ziemlich großer Koffer. Im Koffer befanden sich vor allem Schulbücher und Lernmaterialien. In der Reisetasche meine Klamotten. Viele waren es nicht. Ich war aus vielen Wintersachen “endlich” rausgewachsen. Also hatte Mama enfach alles in die Tasche gepackt, was noch an warmen Klamotten verfügbar war. Zwei warme Thermohosen, zwei paar warme Kniestrümpfe, ein paar Slipboxer, vier bunte Knben-Slips, Unterhemden, Rollis, Pullover, Mützen, ein paar Handschuhe, einen Schneeanzug, eine Regenjacke, zwei Schals, einen Schlafanzug, gefütterte Gummistiefel, warme Filz-Hausschuhe, einen Jogginganzug, meine Badehose und fünf dicke Strumpfhosen, die aus dem Bestand eines Cousins stammten. Ich trug in der kalten Jahreszeit bereits seit ein paar Jahren eigentlich ausschließlich lange Unterhosen unter der Jeans. Die waren aber alle, bis auf die Grüne, die ich gestern Abend in die Wäschetonne geworfen hatte, deutlich zu klein geworden und längst entsorgt. Nachschub gab es erstmal nur aus der Reservekiste. Und die enthielt unter anderem die Strumpfhosen von Cousin Mike. Bis auf ein weinrotes Exemplar, alles gedeckte Farben. Immerhin. Ich wusste von den letzten Besuchen, dass Mike noch ganz andere Strumpfhosen auf Lager hatte. Der arme Kerl hatte drei große Schwestern. Seine Mutter war Mamas ältere Schwester und topte sie in Sachen Konsequenz und Sparsamkeit um Welten. Heißt: Mike hatte immer wieder das Vergnügen, die Klamotten seiner großen Schwestern aufzutragen. Rote Strumpfhose unter der Jeans. Im Sportunterricht. Da brauchst du ein dickes Fell. Und das hatte Mike. Neben einer echt kompromisslosen rechten Geraden und einer fundierten Ausbildung im Boxverein.
Egal. Hauptsache Urlaub. Der Rest war schnell erledigt. Duschen, Zähne putzen. Anziehen? Zog sich. Wäre heute ein normaler Tag, hätte ich bei der Klamottenwahl meiner Mutter sogar eine echte Szene gemacht. Weil die restliche warme “anständige” Kleidung im Koffer war, hatte Mama mir eine Garnitur meiner Ersatzklamotten rausgelegt. Standard-Unterwäsche mit wirklich fiesen Elefanten drauf (Slip, Unterhemd), grünes T-Shirt, gerippte hellbraune Strumpfhose, ein dunkelblauer PowerRangers-Pullover (ja, auch die fand ich mal gut) und eine ausgewaschene Latzhose. Eigentlich kein Drama. Bis auf die Latzhose. Die hatte mir lange Zeit gute Dienste geleistet, was deutlich an den geflickten Knien zu sehen war. Das Problem war auch gar nicht der Zustand der Hose, sondern die Tatsache, dass es eine Latzhose war. Wie peinlich. Onkel Phil saß derweil entspannt auf meinem Schreibtischstuhl, scrollte durch sein Smartphone und beobachtete interessiert, wie ich erst mit der Strumpfhose, dem Langarm-Shirt und schließlich der Latzhose kämpfte. “Ich ziehe das nicht an!”, motzte ich in meinen noch lange nicht sprießenden Bart. “Das ist doch Scheiße!”. Verzweifelter Blick. Wut, Trotz. Hilflosigkeit. “Wo ist denn dein Problem?”, kam von Phil. Einfache Frage, keine Antwort. Sah er denn nicht, wie peinlich diese Latzhose war? Offensichtlich nicht. “Paul, du führst dich auf, wie ein bockiges Kleinkind. Weil du eine HOSE anziehen sollst, die was ist? Alt? Blau?” Er verstand es anscheinend wirklich nicht. War aber noch nicht fertig. “Ich will eigentlich einen sehr coolen Urlaub mit meinem Neffen verbringen. Mit Wakeboarden, Bogenschießen und all dem Kram. Welche Klamotten du dabei trägst, ist mir völlig wurscht! Du kannst hier jetzt ein Fass aufmachen. Mit deiner Mutter. Unsere Abreise verzögern und dir selbst den Start in unseren Urlaub vermiesen. Oder du triffst jetzt ein paar Entscheidungen und setzt Prioritäten! Du bist mit den Sachen, die deine Mama dir rausgelegt hat nicht einverstanden? Dann musst du das künftig selbst machen. Und da gewöhnst du dich am Besten sehr schnell daran. Ich bin nämlich während unseres Urlaubs ganz sicher nicht dafür zuständig, dir Klamotten aus dem Schrank zu legen. Du entscheidest, was du anziehst. Was in die Wäsche muss. Ende der Durchsage! Ich warte im Wohnzimmer auf dich. Ich fahre mit dir hier um 12 Uhr los. Ob mit Latzhose, oder ohne.” Abgang, Tür zu. Wieder standen mir die Tränen in den Augen. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Elende Heulsuse. Aber hatte Onkel Phil 12 Uhr gesagt? Scheiße, das war in sechs Minuten. Ich riss meinen Kleiderschrank auf. Die Alternativen checken. Die Auswahl: sehr dürftig. Da hing noch mein dunkler guter Anzug, den ich während meiner Kommunion getragen hatte. Und dann noch zwei dünne Stoffhosen. Ein paar Bermudas. Alles nichts für Temperaturen um den Gefrierpunkt. Der Rest war ja in der Reisetasche. 4 Minuten. Vor meinem Auge sah ich schon, wie Phil mich mit Softshell-Jacke, Mütze, Schal, Gore-Tex-Stiefeln und brauner Strumpfhose ins Auto schleifte. Nur weil ich mit dieser dämlichen Latzhose auf Kriegsfuß stand. 2 Minuten. “Was bin ich nur für ein Rindviech”, sagte ich zu mir selbst und stiegt in die Latzhose. Den Pulli zog ich, einer Eingebung folgend, drüber und sorgte damit dafür, dass die Träger nicht zu sehen waren. Ein schneller Blick in den Spiegel. Cool war anders. Aber peinlich auch. Bitte, geht doch. Dann Schritt auf dem Flur, Onkel Phils Kopf in der Tür. Ein freundliches “Können wir los?” Sonst nichts. Als hätte es die Ansage von gerade eben nie gegeben. Krass.
Während Onkel Phil mein Gepäck in seinem Wagen verstaute, verabschiedete ich mich von Mama. Es gab natürlich wieder Tränen. Immerhin nicht nur bei mir. Sie drückte mich fest und flüsterte mir ins Ohr “Wir packen das schon!”. Das schnürte mir echt die Kehle zu. Es musste anders werden. Alles musste anders werden! Der Fresskorb, den Mama für uns hergerichtet hatte, holte mich aus der Sentimentalität. Jede Menge Brötchen, Kuchen und Snacks. Kaffee Cola für Onkel Phil, Apfelschorle für mich. War ja klar. Aber man konnte schließlich nicht alles haben. Gemeinsam gingen wir nach draußen. Mama nutzte die Gelegenheit, mich an die Regeln zu erinnern. Und an die Konsequenzen, wenn ich mich nicht in den Griff bekam. Heimfahrt. Umgehend. Ohne Vorwarnung. Ihr Blick war eindeutig und brannte sich fest in meinem Gedächtnis ein. Das würde nicht passieren. Ganz sicher nicht!
Natürlich kamen wir nicht ganz ohne Peinlichkeitseinlage los. Ich stand gerade sprachlos von Onkel Phils neuem Wagen. Ein ziemlich großes schwedischer Kombi. Helles Leder, wahnsinnig viel Platz und mehr Knöpfe als jedes technische Gerät, das wir im Haus hatten. Den Sicherungskasten im Keller inklusive. Wahnsinn. Unser winziger Korea-Kleinwagen, der daneben stand, hätte locker in den Kofferraum gepasst. Ich wollte gerade hinten einsteigen, als Mama mit den Worten “Himmel, den hätten wir fast vergessen” meinen “Kindersitz” aus unserem Auto zerrte. Ich wäre vor Scham gerne im hellen Teppich des Teppichs im Fußraum versunken. Ging aber nicht. Ja, ich war noch nicht 12 und ja, ich hatte auch längst noch nicht die erforderliche Mindestgröße, um ohne Sitz mitfahren zu dürfen. Und “Kindersitz” traf es natürlich auch nicht so richtig. Es ging konkret um eine Sitzerhöhung mit Rückenlehne und integrierter Kopfstütze. Kennt jeder. Und eigentlich kein Problem. Wenn die Farbe nicht wäre. Giftgrün mit lustigen kleinen Figuren drauf. Mama hatte das Ding bei einem Preissausschreiben unserer Krankenkasse gewonnen. Seitdem bestand ich immer öfter darauf, dass sie mich in der Querstraße vor der Schule rausließ. Das Teil war einfach zu schlimm. Das sah denn wohl auch Onkel Phil so und beugte sich mit einem “Den werden wir nicht brauchen” über die Rücksitzbank. Ein Griff und zwei Sekunden später, klappte ein Teil der Sitzfläche nach oben. Drunter schon sich eine Fußauflage nach Vorne. Lehne und Kopfstütze klappten nach Innen und formten ein Rückenteil, das der Lehne meines Kindersitzes ähnelte. Nur halt mit schickem hellen Leder bezogen. Zauberei. “Das haben ich Schweden alle Familienautos”, erklärte Phil meiner Mutter. “Ist viel sicherer, als diese wackeligen Einbaudinger!” Sprach’s und schob mich auf den Sitz. “Ich zeig dir einmal, wie du dich anschnallen musst. Künftig machst du das dann selbst!” Mit zwei Handgriffen war der Gurt an Ort und Stelle und ich im Sitz sicher angeschnallt. Mit einer Art Gurt, den ich so bislang nur in Rennwagen gesehen hatte. Krass! Mama war mehr als angetan, drückte mir einen Schmatzer auf die Backe und schickte uns auf die Reise.
Es dauerte über eine Stunde, bis ich meine Gedanken im Kopf sortiert hatte. Onkel Phil telefonierte währenddessen mit einem Auftraggeber und seiner Lebensgefährtin Mette. Die war Architektin und für sechs Wochen in Dubai. Sturmfrei, also für uns. Als Onkel Phil aufgelegt hatte, sagte ich, sehr leise und mit einem Klos im Hals “Danke. Für alles!”. Mehr nicht. Und Onkel Phil nickte und lächelte. “Wir werden jede Menge Spaß haben, verlass dich drauf!”.
Das tat ich. Und hatte es jetzt selbst verbockt. Wobei ich ja eigentlich unschuldig war. Aber das würde mir ja eh keiner glauben. Ich saß in einem saukalten Kellerbüro eines großen Elektronikmarktes auf Westerland und wartete auf Onkel Phil. Den riefen die Kaufhausdetektive gerade an, nachdem sich mich erwischt hatten. Ich hatte noch versucht, wegzulaufen. Blieb aber nach wenigen Metern an einem Regal hängen und hatte einen filmreifen Abgang die Treppe runter. Mein rechtes Handgelenk tat höllisch weh, von meinem linken Hosenbein und der grünen Strumpfhose drunter war nicht mehr viel übrig. Ich war klatschnass und roch erbärmlich. Auf dem Schreibtisch vor mir lag der Inhalt meines Rucksacks, inklusive zweier Spiele für eine mobile Spielkonsole, die ich gar nicht mehr besaß. Aber das wussten die beiden schrankbreiten Typen natürlich nicht. Ich hatte während der ganzen Aktion außer Phils Telefonnummer keinen Ton von mir gegeben. Was hätte ich auch sagen sollen? “… Wir informieren dann auch gleich die Polizei. Dazu sind wir verpflichtet! Und bitte bringen Sie frische Klamotten mit, die Kleidung ihres Neffen hat ziemlich gelitten!” Das war eine sehr zurückhaltende Beschreibung für meinen Zustand. Eine zerrissene Hose wäre sicher kein Problem gewesen. Es war aber alles noch viel schlimmer. Ich war von der Hüfte abwärts klatschnass. Und nein, es hatte an dem Tag nicht geregnet. Als mich der zweite Kaufhausdetektiv nach meinem Treppen-Stunt unten in Empfang nahm, öffneten sich bei mir vor Angst alle Dämme. Meine Blase war von der vielen Cola zum Bersten gefüllt. Vor Schreck wollte sich auch noch mein gereizter Darm entleeren, der mit einer halben Packung nicht ganz durchgegarten Bratwürsten kämpfte. Es kostete mich mein letztes bisschen Konzentration, meinen Schließmuskel wieder unter Kontrolle zu bekommen. Viel war es nicht, was in die Hose gegangen war. Aber es reichte, um mich mit jedem Atemzug daran zu erinnern. Bei meiner Blase hatte ich den Kampf aber verloren. Jetzt also auch noch die Polizei. Das war zu viel. Mein schöner Urlaub. Onkel Phil wird mich hassen. Mama wird kein Wort mehr mit mir sprechen. Scheiß Leben. Ich zitterte am ganzen Körper. Alles brach zusammen. Dabei war ich doch nur das Opfer. Schuld war nur diese kleine blonde Arschloch Ben.
Den hatte ich bereits am zweiten Tag auf Sylt kennengelernt. Wir waren nur eine Nacht in Onkel Phils Bahnhof geblieben. Dann hatten wir jede Menge Drachen, Foto-Equipment und Sportgeräte in den Kofferraum gepackt und waren nach Sylt gefahren. Dort teile sich Onkel Phil ein kleines Ferienhaus mit einem befreundeten Ehepaar. Im Herbst und Winter hatte er es praktisch zur freien Verfügung. Es war großartig. Ich hatte mein eigenes Zimmer. Und das kleine Büro im Keller wurde zu meinem Nachhilfe-Hauptquartier. Jeden Tag büffeln. Wie geplant. Lustig ist anders. Aber ich zog es durch. Auch weil Onkel Phil es mir selbst überließ, mich zu organisieren. Das kannte ich so nicht. Wollte aber alles dafür tun, diese Freiheit nicht wieder zu verlieren.
Am zweiten Tag auf der Insel, wir zogen gerade schwer bepackt auf der Suche nach schönen Foto-Motiven durch die Dünen, trafen wir Ben. Der saß auf einem alten Holzpfahl und tippte gelangweilt auf seinem Smartphone rum. Ich hätte ihn niemals angesprochen. Ben war 12, fast 13 Jahre alt und kam ziemlich offensichtlich aus einer anderen Galaxie. Hellblonde, halblange Haare, die unter einer sauteuren Skater-Mütze hervorquollen. Strahlend blaue Augen. Lässige Klamotten. Ein Pfahl weiter lehnte ein Longboard. Das Gegenteil von mir. Elite statt Durchschnitt. Und selbstbewusst bis zu den Haarspitzen. Trotzdem freundeten wir uns an. Oder besser: Er gab sich mit mir ab. Wahrscheinlich aus Mangel an Alternativen. Sylt im Herbst ist nicht gerade voll mit Jugendlichen. Außerdem war ich ja in Begleitung von Onkel Phil und der hatte noch nie Probleme gehabt, zu den Durchschnittsmenschen gezählt zu werden. Und so waren wir auch am nächsten Tag zu dritt unterwegs. Ben war, wenn man mal die ganze Kruste aus Überheblichkeit, Arroganz und Verwöhntheit abgekratzt hatte, eigentlich nicht besser dran als ich. Auch eine neue Erkenntnis, irgendwie. Er war mit seiner Mutter regelmäßig auf Sylt. Sie wohnten in einer sündhaft teuren Ferienwohnung mit Meerblick. Oberste Etage eines Luxuswohnanlage. Der zur Familie gehörende Vater war im Vorstand einer international agierenden Immobilienfirma und dementsprechend international aufgestellt. Heißt: nie da. Bens Mutter verbrachte die Sylt-Tage fast ausschließlich auf dem Golfplatz, dem Spa-Bereich oder auf irgendwelchen Empfängen. Ben hatte also praktisch immer Zeit. Und Langeweile. Entsprechend schnell kam er auf die Idee, Teil unseres Programms zu werden. Kein Problem für Onkel Phil, der sich trotzdem von Bens Mutter am Telefon ihr Einverständnis holte, dass ihr Sohn mit uns über die Insel zog. Alles easy. Für mich aber der Beginn der Katastrophe.
Am Tag drauf waren wir erst mit den Lenkdrachen am Strand und verbrachten dann den restlichen Tag beim Bogenschießen. Wir waren gar nicht schlecht. Und ich genoss es, mit gleich zwei coolen Typen unterwegs sein zu können. Komischerweise spielte es für Ben überhaupt keine Rolle, wie verschieden wir waren. Onkel Phil bekam zwischendurch einen kleinen Auftrag rein, den er am nächsten Vormittag erledigen wollte. Modefotografie am Strand. Der Gipfel der Langeweile. Ben und ich laberten also so lange auf Onkel Phil ein, bis der sich breitschlagen ließ, uns beide am nächsten Tag alleine auf Tour zu lassen. Klar: Handy an, erreichbar bleiben und um 15 Uhr pünktlich zurück zu Hause sein. Läuft.
Mit etwas Verspätung setzt Onkel Phil setzte mich am nächsten Morgen vor der Wohnanlage ab, in der Ben mit seiner Mutter logierte. Ich hatte ewig gebraucht, um mich für ein Outfit zu entscheiden. Zum Schluss hatte ich mich für meine einzige Cargo-Hose entschieden. Kombiniert mit einem lilfarbenen Pullover eines großen Sportartikelherstellers. Nichts Herausragendes, aber für Mr. Durchschnitt schon sehr gewagt. Bens Mutter war beim Frisör und würde erst gegen Nachmittag zurück sein. Wir hatten die riesige Wohnung also für uns. Inklusive sämtlicher Annehmlichkeiten. Nach einem Frühstück aus süßen Croissants und Unmengen Kakao hingen wir eigentlich pausenlos vor der Glotze. Die war so groß wie unsere Wohnzimmerwand. Pay-TV, Spielkonsole, Online-Games. Sofort war meine Sucht wieder da. Die guten Vorsätze? Scheiß drauf. Dazu gab’s Chips und Cola. Viel Cola. Was die Sache nicht besser machte. Gegen Mittag warf Ben eine Packung Bratwürste in die Pfanne, die wir aus Zeitmangel halb roh runterwürgten. Woher die Hektik? Nun, Ben hatte in Erfahrung gebracht, dass es im großen Elektronikmarkt ab 12.30 Uhr die Möglichkeit gab, einen neuen Ego-Shooter auszuprobieren. Da mussten wir hin. Dass die Wohnung aussah, als hätte ein Rudel wilder Hunde darin gehaust, störte Ben nicht weiter. Am Nachmittag kam die Putztruppe. Pünktlich um 12.30 hingen wir also an den Controllern im Elektronikmarkt und ballerten uns die virtuelle Munition um die Ohren. Ich war wie im Rausch. Für Ben stand nach 30 Minuten fest, dass er dieses Spiel haben müsse. “Hast du denn so viel Geld dabei?”, fragte ich ins Spiel versunken. “Ja,ja!”, kam unter der Skatermütze hervor, bevor Ben zwischen den Regalen verschwand. Zehn Minuten später stand er wieder neben mir, reichte mir meinen Rucksack und zog mich mit einem “Lass uns gehen!” zum Ausgang. So weit kamen wir aber gar nicht. Als der erste Kaufhausdetektiv neben uns auftauchte, überschlugen sich die Ereignisse. Ben verschwand blitzartig zwischen den Gängen und war wenige Augenblicke später verschwunden. Ich wusste nicht mal ansatzweise, was los war. Wollte aber einem Reflex folgend ebenfalls türmen. Mit bekanntem Ergebnis. Treppen-Sturz, Hose kaputt, Hand-Aua, Eingepinkelt, Panik, Onkel Phil, Polizei.
10 Minuten später der erste Lichtblick. Ein Klopfen an der Tür, dann kniete Onkel Phil vor mir. Warf eine Decke über mich und schloss mich in die Arme. “Pass auf, ich bin ganz nass!” war das Einzige das mir einfiel. “Scheiß drauf. Aber ich muss das jetzt kurz mit den beiden Detektiv-Schränken klären. Wartest du kurz?” Mehr als ein Nicken und ein Schniefen bekam ich nicht zustande. Reichte ja aber auch. Im Vorraum, sah ich Onkel Phil mit den beiden diskutieren. Inzwischen waren auch zwei Polizeibeamte da. Einer davon, eine junge Beamtin, kam kurz darauf mit Onkel Phil zu mir. Der sagt nur “Paul, du wirst Frau Breier jetzt die ganze Geschichte erzählen. Alles. Jedes Detail. Und nichts als die Wahrheit. Sonst kann ich nichts mehr für dich tun!”. Ich wurde bleich. Nickte aber. Und dann erzählte ich den ganzen Mist noch einmal. Danach ging alles ganz schnell. Frau Breier ließ sich die Aufnahmen aller Überwachungskameras zeigen. Und die bestätigten so ziemlich alles, was ich erzählt hatte. Und noch viel mehr. “Kuck an, der Ben!”, meinte ihr Kollege im Anschluss. “Der hat in so ziemlich jedem Laden der Stadt Hausverbot. Ein chronischer Ladendieb. Obwohl er das nun wirklich nicht nötig hätte.” Jetzt war ich baff. “Und wie kamen die beiden Spiele in Pauls Rucksack?”, fragte Onkel Phil. “So”, mischt sich einer der Detektive ein und hielt ein Bildschirmfoto von einer der Überwachungskameras in die Runde. Darauf zu sehen: Ben, wie er die beiden Verpackungen in die Seitentasche meines Rucksacks steckte. “Dieses Arschloch!”, flüsterte ich, bevor zitternd in die Knie ging. Ich hatte das erst Mal das Gefühl gehabt, dazu zu gehören. Nicht mehr nur Durchschnitt zu sein. Und dann sowas. Verarscht und gedemütigt von so einem Premium-Windbeutel. Onkel Phil wechselte noch ein paar Sätze mit den Beamten, unterzeichnete das Protokoll und bekam dann grünes Licht, mich mit nach Hause zu nehmen. Ohne zu zögern nahm er mich in die Decke gehüllt auf den Arm und meinte beim Rausgehen “du riechst ganz schön streng, Kollege. Lass uns zusehen, dass wir dich in die Badewanne bekommen”.
Ich war durch den Wind. Aber so richtig. Von der Fahrt vom Elektronikmarkt zu unserem Ferienhaus bekam ich praktisch nichts mit. Ich fror erbärmlich, war verwirrt, gedemütigt, durcheinander, erschöpft und hatte fiese Bauschmerzen. Diese verdammten Würstchen. Als wir in die Auffahrt fuhren, fragte Onkel Phil ob ich den Weg ins Haus selbst schaffen würde? Das sollte gehen, meinte ich. Ging auch. Ich kam bis zur Toilette. Schloss mich ein, streifte die Decke ab und knöpfte meine Hose auf. Aus der Strumpfhose zu kommen, war deutlich schwieriger. Und eine echt eklige Sache. Diese kalte klamme Nässe. Und dann noch die grauenvolle Erwartung, wie meine Unterhose aussehen würde. Mir war schlecht. Mein Darm fuhr Achterbahn. Half ja alles nichts. Ich musste jetzt aus diesen versifften Sachen raus. Gefühlt dauerte es eine Ewigkeit. Dann war ich das klamme Zeug wirklich los. Den Anblick meiner Unterhose konnte ich kaum ertragen. Onkel Phil klopfte nur einmal kurz an. Keine Fragen. Nichts. Nur eine knappe Info: “Vor der Tür liegt ein blauer Müllsack. Stopf da einfach alles rein, was du loswerden willst. Außerdem ein altes T-Shirt von mir. Das kannst du drüber ziehen, bevor du ins Badezimmer gehst. Ich lasse dir das Badewasser ein und leg dir Klamotten raus!”. Das tat so gut. Ich holte die Sachen rein und verzog mich erstmal auf die Toilette. Danach ging’s mir besser. Noch lange nicht gut. Aber besser. Zwei Stunden später saß ich auf dem Sofa. Frisch gebadet. Der Kamin spuckte Unmengen heiße Luft ins Zimmer, Onkel Phil hatte mir einen Kamillentee gebraut und zwischenzeitlich Toilette und Badezimmer wieder auf Vordermann gebracht. Sehr ekelig. Kalt war mir dennoch. Trotz dicker Strumpfhose, Jogginghose und Wollpullover. “Das ist der Schock”, meinte Onkel Phil. Das wird auch noch ein bisschen dauern, bis du das weggesteckt hast. In meinem Kopf überschlugen sich die Ereignisse noch immer. “Wir rufen jetzt deine Mama an”, hörte ich Onkel Phil plötzlich sagen. Das war ja klar. Musste ja so kommen. “Kannst du das bitte machen?”, sagte ich mechanisch und steuerte mein Zimmer an. “Ich geh dann schonmal packen…”.
30 Sekunden später lag die Reisetasche auf meinem Bett. Ich heulte, wie ein kleines Kind. Das war mir in diesem Augenblick aber völlig egal. Ich hatte es vermasselt. Ich würde in spätestens zwei Stunden im Zug nach Hause sitzen. Ende Gelände. Als die Tür aufging war klar, dass Onkel Phil ins Zimmer kam. Ich konnte ihm nicht in Gesicht schauen sondern pfefferte meine gesamten Habseligkeiten in die Tasche. Irgendwann tippte Onkel Phil mir auf die Schulter. “Was machst du da eigentlich?”, fragte er mich allen Ernstes. “Siehst du doch. Ich habe ganz großen Mist gebaut. Und wir hatten die Regel, dass ich in dem Fall zurück nach Hause muss. Also ziehe ich die Konsequenzen und packe meine Sachen! Das wollt ihr doch immer. Mama und Du. Dass ich Verantwortung für meine Handlungen übernehme. Mach ich jetzt!” Oh. Das klang jetzt aber sehr heftig. Hab ich das wirklich so gesagt. Ja, offensichtlich. Onkel Phil kuckt, als hätte er gerade einen Geist gesehen. Hielt natürlich nicht sehr lange an, der Zustand. “Ich hoffe, du hast kein Fieber”, antwortete er kurz und knapp. Warf mich auf mein Bett und gab das Kommando “zuhören!”. Tat ich dann auch. Es folgte ein für Onkel Phils Verhältnisse sehr langer Monolog darüber, wie er die Sache sähe. Und übrigens auch meine Mutter. Schuld, so erklärte er, haben wenn überhaupt dieser Rohrkrepierer Ben. Und er selbst. Er hätte mich niemals alleine mit ihm rumziehen lassen sollen. Habe er aber, und das täte ihm unendlich leid. Also, kein Ticket zurück. Sondern ein Sonderlob dafür, dass ich im Gespräch mit der Polizistin so ehrlich war. Und, weil er wirklich ein schlechtes Gewissen hatte, heute Abend das Essen meiner Wahl. Inklusive Nachtisch. Wahnsinn. Ich war sprachlos. Vor Glück. Aber trotzdem überfordert. So viel verrücktes Zeug, alles an einem Tag.
“So, und jetzt packst du ganzen Krempel wieder aus und ziehst dir bitte was an, mit dem wir einkaufen können! Ich brauche ja schließlich Zutaten für dein Festessen. Was soll’s eigentlich geben?” Blöde Frage.”Spaghetti Carbonara, natürlich! Und als Nachtisch Panna Cotta!” Alles easy, meinte Onkel Phil. “Aber dann machen wir auch die Spaghetti selbst!”. Und so folgte dem katastrophalsten Tag meines Lebens ein wirklich cooler und sehr langer Abend. Weil es natürlich eine Ewigkeit dauerte, bis ich den Dreh mit der Pastamaschine raus hatte. Außerdem bestrafte Onkel Phil jeden Fehler mit einer Ladung Mehl, die quer durch die Küche flog. Und ich revanchierte mich nach Kräften. Die Küche sah aus wie ein Schlachtfeld. Aber ich war glücklich. Und sah aus wie ein Mehl-Monster. Zum Glück hatte ich mich dazu entschieden, Jeans und Pullover vor der Kocherei in meinem Zimmer zu lassen. Das gelbe T-Shirt und die hässliche weinrote Strumpfhose mussten reichen. Außerdem war mir, anders als heute Nachmittag, inzwischen auch wirklich wieder warm. Fast schon zu warm. Vor dem Essen schickte Onkel Phil mich in weiser Voraussicht noch ins Bad, um meinen Schlafanzug anzuziehen. Ich warf also die ehemals weinrote Strumpfhose und das ehemals weiße Shirt in den Wäschekorb und setzte mich auf die Toilette. Ich hatte wirklich viel Kamillentee und Apfelschorle getrunken. Die Flüssigkeit wollte jetzt raus. Das klappte aber nur bedingt. Außerdem brannte es beim Pinkel ein bisschen. Egal. war ja insgesamt ein ziemlich verrückter Tag. Und außerdem hatte ich wirklich Hunger. Während des Nachtischs forderte der lange Tag dann seinen Tribut. Ich schlief nach langem Kampf am Tisch ein. Mit einem Löffel Panna Cotta in der Hand. Onkel Phil trug mich leise in mein Zimmer, legte mich aufs Bett und deckte mich zu. Er hatte noch einiges zu tun. Viel Wäsche waschen, zum Beispiel. Und eine Küche zu putzen. Und einer Mutter reinen Wein über ihren missratenen Sohn einzuschenken.
Es sollte eine kurze Nacht werden und noch viel zu tun geben. Aber davon wusste er jetzt noch nichts.
Ich schlief wie ein Stein, träumte von blonden Computerspiel-Monstern, Wellness-Mami-Zombies und einer eiskalten Flutwelle, die mich in die Tiefe riss. Ich schrie, strampelte und versuchte zu atmen. Keine Luft, Kälte. Dann: Nichts mehr. Nur wohlige Wärme, ein Licht und eine Hand, die sich auf meine Stirn legte. Das Licht kannte ich. Es war der Halogenstrahler in meinem Zimmer. Zur Hand kam dann noch eine Stimme, die mich endgültig aus dem Land der Träume holte. “Paul, du hast im Schlaf geschrien!”, erklärte Onkel Phil ruhig. “Ich fürchte, du hast Fieber.” Aha. Ja und? “Dann muss ich jetzt schlafen”, grummelte ich und wollte nur möglichst schnell wieder unter die Decke. “Ich fürchte, das geht nicht”, sprach Onkel Phil ruhig weiter. “Wir müssen vorher dein Bett frisch beziehen”. Was? Jetzt war ich wirklich wach. Meine rechte Hand fuhr zu meiner Hose. Alles nass. Bettlaken? Auch. Bettdecke. Ebenfalls nass. Sofort kam die Panik in mir hoch. Und die Scham. Ich hatte nach so vielen Jahren wieder ins Bett gepinkelt. Im Ferienhaus von Onkel Phil. Wie tief konnte man denn bitte noch sinken? Während ich in Scham und Selbstmitleid zerfloss, hatte Onkel Phil längst wieder in den Verstands-Modus geschaltet. “Geh bitte ins Bad und zieh die nassen Sachen aus. Vielleicht willst du dich auch schnell duschen?” Ich lege dir gleich frische Sachen vor die Tür. So kam es dann auch. Statt eines Schlafanzugs lagen da aber ein grüner Slip, ein ein grünes Unterhemd, eine hellblaue Strumpfhose und ein T-Shirt. Häh? Ach so. Mama hatte mir ja nur einen Schlafanzug eingepackt. Konnte ja keiner damit rechnen, dass sowas passiert. Der Rest der Nacht verlief dann vergleichsweise ruhig. Ich wurde erst gegen kurz vor 9 Uhr wach und schlich in die Küche. Da hatte Onkel Phil schon den Frühstückstisch gedeckt und sah mich besorgt an. “Du siehst nicht gut aus”, begrüßte er mich mit einem gequälten Lächeln. “Ja, sehr witzig”, antwortete ich gereizt. “Ich pinkle ins Bett wie ein Kleinkind und latsche in Strumpfhosen durch die Gegend. Wie soll man da schon aussehen?” Sieh an, mein Humor funktionierte also noch. “Netter Versuch, Kollegen”, kam die Antwort. “Du weißt genau, dass es darum nicht geht. Du hattest Fieber. Hast es wahrscheinlich noch. Deshalb marschieren wir gleich im Anschluss zum Arzt. Ich habe bereits einen Termin gemacht, wir werden schnell drankommen!” Na toll. Auf der anderen Seite fühlte ich mich wirklich hundeelend. Und dann war da wieder dieses Brennen auf der Toilette. Auf dem Weg zu Kinderarzt Dr. Eisenmann wäre dann beinahe das nächste Missgeschick passiert. Kaum hatte ich einen Fuß in die Praxis gesetzt, musste ich unfassbar dringend pinkeln. Ich stürzte zur Toilette und schaffte es so gerade eben, die nächste Blamage zu verhindern. Aus dem Brennen war zwischenzeitlich ein fieses Stechen geworden. Mir traten die Tränen in die Augen. Das Tat höllisch weh, verdammt. Tapfer brachte ich die Sache zu Ende. Dr. Eisenmann, ein sehr alter Herr mit dicker Brille, braucht keine fünf Minuten für die Diagnose. “Eine akute Blasenentzündung. Nicht ungewöhnlich, wenn man die Geschichte des gestrigen Tages kennt. Nicht schlimm, sehr gut zu behandeln. Aber halt ein bisschen langwierig. Das kann schon 14 Tage dauern, bis das alles wieder normal funktioniert! Ich schreibe dir jetzt ein Mittel gegen die Schmerzen auf. Und dann noch ein Antibiotikum. Damit wird es dir schnell besser gehen!” Na toll. Den Rest des Urlaub Medikamente. Ich hatte einen echten Lauf, gerade. “Können wir denn trotz Antibiotikum raus gehen?”, fragte Onkel Phil? “Aber unbedingt”, führte der Doc aus. “Nur halt keine körperlichen Belastungen. Sehr viel trinken. Und lieber eine Schicht mehr drunter ziehen! Und für die Nacht schreibe ich Ihnen noch Einlagen auf. Prophylaktisch. Ich habe in deiner digitalen Krankenakte gelesen, dass du eine Weile Probleme mit der Blase hattest?” Pling. Schon wurde ich knallrot. “Aber ich will keine Windeln!”, wimmerte ich. “Einlagen, junger Mann. Und das Rezept ist rein vorsorglich. Es kann gut sein, dass ihr es überhaupt nicht braucht!” Damit gab ich mich erstmal zufrieden. Ich hatte ja keine andere Wahl. Irgendwo ganz tief drin wusste ich aber, dass wir das Rezept bei meiner aktuellen Glückssträhne definitiv brauchen würden…
Wird vielleicht fortgesetzt…
Teil 2
Bei der Rückfahrt von Dr. Eisenmann hatte ich nicht viel zu sagen. Ich war einfach nur sauer. Auf … ja auf was denn eigentlich? Das war so UNGERECHT. Warum konnte nicht einmal was nach Plan laufen. Statt den Urlaub mit Onkel Phil genießen zu können, stolperte ich vom einen Desaster ins nächste. Erst der Mist mit Ben, dann die Blasenentzündung. Wenn’s ganz blöd lief, durfte ich wieder mit Windeln schlafen. Ja, genau: WINDELN. So hießen diese blöden Dinger. Egal wie Doc Eisemann die nannte. Ich wollte das alles nicht. Wo ist denn so eine verfluchte Zeitmaschine, wenn man sie gerade braucht. Das klappte doch in jedem billigen Computerspiel auch. Computerspiel. Ganz falsches Thema. Diese Spielkonsole war doch Schuld an dem ganzen Schlamassel. Wie konnte man nur so blöd sein und als Elfjähriger spielsüchtig werden. Mann Paul, was bist du nur für ein Trottel. Selbstmitleid. Da war es wieder. Darin war ich gut. Und sonst so? Was kann ich denn bitteschön gut, außer Onkel Phil und meiner Mama Sorgen zu bereiten. “Hör auf damit!”, kam es plötzlich vom Fahrersitz. Äh, was bitte? Im Rückspiegel sah ich Onkel Phils warme grüne Augen. Er machte sich Sorgen. Dafür musste man kein Hellseher sein. Und er hatte irgendwie durchschaut, was mir durch den Kopf ging. “Mit was denn”, fragte ich dennoch mit gespielter Ahnungslosigkeit. “Damit, dir permanent Gedanken und Vorwürfe zu machen. Ich sehe genau, was in die Vorgeht! Und damit ist jetzt Schluss. Niemand hat Schuld. Was passiert ist ist passiert. Und wir werden das Beste draus machen. Okay, wir werden nicht Wakeboarden können. Dann machen wir eben was anderes. Wir haben noch fast drei Wochen. Und die lassen wir uns nicht kaputt machen. Nicht von Ben. Nicht von einer Blasenentzündung. Und nicht von irgendwelchen medizinischen Hilfsmitteln. Klar!?” Wahrscheinlich hätte ich jetzt “Ja, Sir!” antworten müssen. Tat ich aber nicht. Denn Onkel Phil war noch nicht fertig. “Wir machen das jetzt so: Da vorne an der Ecke kommt eine große Apotheke. Da lösen wir die Rezepte für Schmerzmittel und Antibiotika ein. Das dritte Rezept ist erstmal nicht mein Problem!” Sprach’s, und reichte mir den rosafarbenen Zettel, mit dem ich in jeder Apotheke eine große Packung Windelhosen bekommen würde. Maximale Saugstärke. Größe XS. Solche Dinger zum selbst hoch- und runterziehen. Schon beim Gedanken an die raschelnden Einlagen stellten sich mir die Nackenhaare auf. “Du hast das Rezept, du entscheidest, ob und wann wir es einlösen. Von mir wirst du dazu nichts mehr hören. Da wir das Haus regelmäßig vermieten, haben alle Matratzen Schonbezüge. Die eine oder andere nasse Nacht wird also außer einer Sonderschicht für Waschmaschine und Trockner keine Schäden anrichten!” Bämm. Er hatte es schon wieder getan. Statt mich klein und hilflos zu fühlen, ging’s mir jetzt besser. Meine Entscheidung. Mein Rezept. Und ich würde dieser dämlichen Blasenentzündung sicher nicht kampflos das Feld überlassen. In der Apotheke ging’s dann ganz schnell. Und das war auch gut so. Ich musste nämlich plötzlich extrem dringend pinkeln. Wir waren kaum die Einfahrt hochgefahren, da stürzte ich bereits aus dem Auto, den Haustürschlüssel in der Hand. Keine zehn Sekunden später hatte ich es geschafft. Keinen Augenblick zu früh. Immerhin war das Brennen kaum noch zu spüren. Das Schmerzmittel wirkte also. Trotzdem, das konnte ja heiter werden. Weil man ja sein Glück nicht überstrapazieren soll, verbrachten wir den Rest das Tages zu Hause. Ich musste einen Tag Schulstoff nacharbeiten. Außerdem wollten wir die Fotos sichten, die wir bei unserer Tour durch die Dünen geschossen hatten. Zwischendurch telefonierte Onkel Phil mit Mama und brachte sie auf den neusten Stand. Und obwohl ich ihn mit Blicken anflehte, es nicht zu tun, erzählte er ihr auch vom Windelrezept. Ihre Reaktion war klar. Sofort einlösen das Ding. So eine Entscheidung könne man doch nicht einem Elfjährigen überlassen. Nicht auszudenken, wenn die Matratzen Schaden nähmen. Und dann noch der Aufwand. “Jetzt mach dir mal nicht meinen Kopf!”, bremste Onkel Phil darauf gekonnt aus. “Paul ist durchaus in der Lage, das selbst zu regeln”. Zu Hause kannst du das dann gerne anders regeln. Hier machen wir das so, wie ich das für richtig halte. Damit was das Thema für Onkel Phil beendet. Für Mama eigentlich auch. Sie meckerte dennoch ein bisschen an der Sache herum. Willigte aber schließlich ein. Unter der Bedingung, dass sie lückenlos Bericht erstattet haben wollte. “Kein Problem”, meinte Onkel Phil. “Auch das wird Paul selbst machen! Du bekommst ab heute jeden Abend eine Mail mit einem Tagesbericht von ihm. Das Thema freies Erzählen und Orthografie steht schließlich auch auf dem Nachhilfeplan!” Mama war sehr be-, ich sehr entgeistert. “Äh, wann wolltest du mir das eigentlich sagen, Onkel Phil?” platzte es aus mir heraus, als er aufgelegt hatte. “Und seit wann darf ich eigentlich wieder an den Computer?” Onkel Phil lächelte verschlagen. “Oh, habe ich das nicht? Sachen gibt’s. Aber sehen wir’s doch mal positiv. Der Preis für den wiedererlangten Zugang zum Computer ist eine tägliche Mail nach Hause. Das halte ich für einen fairen Deal!” Er hatte das geplant. Von langer Hand. Ganz ohne bitten und betteln. Sensationell. Und sehr lehrreich.
Es wurde auch an diesem Abend wieder ziemlich spät. Das Essen ging schnell (belegte Brote, Gemüsesticks und jede Menge Dips). Aber wir spielten noch ewig mit diversen Bildbearbeitungsprogrammen rum. Onkel Phil fand meine Fotos handwerklich noch ziemlich lausig. Aber immer mit coolen Bildausschnitten. “Keine Ahnung, ob aus dir mal ein Fotograf wird”, meinte er, während er meine Tagesmail an Mama redigierte. “Aber du bist auf jeden Fall ein sehr guter Beobachter und hast einen interessanten Blick für Details! Aber, du hast eine lausige Grammatik. STR+A, ENTF. Alles nochmal von vorne!” Na toll. Mit der dritten Fassung war er dann schließlich zufrieden. Als er sie abschickte, schlief ich schon. Wieder in Strumpfhose und T-Shirt. Der Schlafanzug war zwar schon gewaschen. Aber ich hatte es einfach nicht mehr geschafft, mich umzuziehen. Ich war überhaupt nicht mehr im Bad gewesen. Und auch nicht auf der Toilette. Keine gute Idee, wie sich kurz nach Sonnenaufgang zeigte. Ich träumte mal wieder wirres Zeug. Wieder war da ein blonder Zombie mit blutgetränkter Skatermütze und schiefem Lächeln, der mit vergifteten Würsten um sich warf. Dieser dämlichen Ben musste doch irgendwann aus meinem Kopf verschwinden, zum Teufel. Tat er aber erstmal nichts. Ich rannte und rannte, bekam kaum Luft. Mein Flucht endet schließlich in einem dieser öffentlichen Toilettenhäuschen. Als sich die Tür schloss, fühlte ich mich kurzzeitig sicher. Dann rumorte es in den Eingeweiden des Plastik-Klos. “Reinigung aktiviert”, sagt eine verzerrte Computerstimme. Ach du Scheiße. Die Dinger säuberten sich nach jeder Benutzung selbst. Mit Chemikalien und Hochdruck-Wasserstrahlen. Ein Wunderwerk der Technik. Aber halt nur, wenn man es von Außen betrachtete. Jetzt war ich drin. Und hämmerte panisch gegen die Edelstahlverkleidung. Vergeblich. Mit einem Zischen öffneten sich die Abdeckklappen der Reinigungsdüsen und ich verschwand in einem Strudel aus Schaum, Wasser und grünlich schimmernder Reinigungsflüssigkeit. Immerhin war das Wasser schön warm, dachte ich bei mir, bevor mich mein Unterbewusstsein langsam zurück in die Realität entließ. Noch in den letzten Schlaf-Resten verknüpften meine Synapsen (schlafen die eigentlich nie?) dieses wohli warme Empfinden in den letzten Traum-MInuten mit dem eigentlichen, sehr realen Ereignis, das das Gefühl ausgelöste hatte. Schlagartig war ich hellwach. Nein! NEIN! Das konnte nicht wahr sein. Bitte NICHT! Mit einem einzigen Satz sprang ich aus dem Bett und stand in den ersten warmen Strahlen der Morgensonne, die sich an den Vorhängen vorbei in mein Zimmer geschlichen hatten. Es war so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Ich war vom Bauchnabel abwärts komplett nass. Die Feuchtigkeit hatte die eigentlich hellblaue Strumpfhose dunkelblau verfärbt. Bis runter zu den Knöcheln war alls klatschnass. Dort paddelte dämlich grinsend ein nerviger Clownfisch über die Maschen, über den ich mich vor Jahren im Kino kaputtgelacht hatte. Welche Ironie. Nemo musste endlich nicht mehr im Trockenen schwimmen. Witzig fand ich aber gerade gar nichts. Mir war zum Heulen zumute. MIr war schlecht. Ich eckelte mich vor der warmen Feuchtigkeit und dem süßlichen Uringeruch, der sich in der Kühle des Morgens dampfend in meinem Zimmer verteilte. Laut Panik-Plan in meinem Kopf hätte ich jetzt komplett zusammenbrechen und heulend darauf warten müssen, dasss Onkel Phil mich aus dieser Notsituation befreit. Und die Tränen flossen tatsächlich. Ja, heulen konnte ich wirklich gut. Zum allerersten Mal war da aber nicht nur Verzweiflung und Ratlosigkeit. Ein kleines bisschen Rest-Verstand weigerte sich ganz offensichtlich, hier vollgepinkelt auf den weiteren Lauf der Dinge zu warten. Es war noch längst kein Plan. Aber das konnte ja noch werden. “Hör auf damit, dir andernd Gedanken und Vorwürfe zu machen!”, hatte Onkel Phil im Auto gesagt. Na gut. Dann würde ich das mal versuchen. Ich löste mich aus der Schockstarre und spürte dabei, wie ein letzter Schwall Urin den Weg in meine Unterhose fand. Das war jetzt auch schon egal. Breitbeinig watschelte ich zu meinem Bett. Da war nichtmehr viel zu machen. Spannbettlaken, Bettbezug. Alles musste runter. Mit spitzen Fingern fummelte ich an den Knöpfen herum und schaffte es nach einer gefühlten Ewigkeit, die dicke Winterdecke von ihrer feuchten Hülle zu befreien. Beim Spannbettlaken ging’s schneller. Beides landet auf einem Haufen vor meiner Zimmertür. Scheiße, der Matratzenschoner hatte ganze Arbeit geleistet. War aber triefend nass. Also, auch runter. Bei jedem Handgriff musste ich mit dem Brechreiz kämpfen. Aber ich zog es durch. So, jetzt musste der ganze Mist nur noch ins Badezimmer, wo hinter einer halb abgetrennten Nische Waschmaschine und Trockner standen. Ich stopfte den müffelnden Wäscheberg in die Maschine. Beim Anstellen würde Onkel Phil mir helfen müssen. Aber damit konnte ich leben. Ich war gerade auf dem Rückweg in mein Zimmer um die Fenster zu öffnen und den Bettnässer-Geruch aus dem Raum zu kriegen, da öffnete sich dir Haustür. Ich zuckte zusammen und hatte doch tatsächlich kurz ein Bild des Würstchen-Zombies vor Augen. Tatsächlich war es aber Onkel Phil, der ziemlich verschwitzt vor mir stand. Ebenso überrascht und mit einem großen Fragezeichen im Gesicht. “Was machst du denn schon ….?” setzte er zu einer Frage an, brach dann aber ab und zeigte auf die feuchten Meeresbewohner an meinem Knöchel: “Übst du schonmal für unseren Ausflug ins Aquarium des Meeresbioogischen Instituts?” Wie gesagt, ich fand das ja eigentlich überhaupt nicht witzig. Musste aber trotzdem grinsen. “Geh schonmal ins Bad”, schaltete Onkel Phil schon wieder in den “Rationales Handeln”-Modus. “Ich ziehe schnell das Bett ab und lege dir frische Sachen raus!” Das sei nicht nötig, antwortete ich. Die Bettwäsche sei bereis in der Maschine, ich habe soweit alles im Griff. Stirnrunzeln bei Onkel Phil. “Wird ja langsam besser”, meinte er mit einem zufriedenen Kopfnicken. “Vielleicht sogar gut!”.
Stolz darauf zu sein, dass ein Elfjähriger sein vollgepinkeltes Bett selbst abzog und sich selber frische Klamotten aus dem Schrank holte, das wollte mir einfach nicht gelingen. Beim besten Willen nicht. Wäre wahrscheinlich auch nicht richtig gewesen. Dennoch fühlte ich mich nicht ganz so deprimiert, wie gestern in gleicher Situation. Der Blick in den Kleiderschrank war dann aber doch ziemlich ernüchternd. Keine Slipboxer mehr. Alle nass. Oder längst im Müll. Also musste ich wirklich so einen peinlichen bunten Slip und das passende Unterhemd anziehen. Grün, Gelb, Rot. Die Wahl zwischen Pest und Cholera. Also grün. Obwohl ich für diese Art Unterwäsche wirklich zu alt, aber halt noch nicht zu groß war, hatte die Situation wieder etwas Komisches. Weil: Vorne auf der Unterhose schaufelte ein Comic-Bauarbeiter fleißig ein Loch. Eine Baustelle. Leben, Schule, Blase. Alles eine einzige Baustelle. Bei den Strumpfhosen sah es nicht besser aus. Nur noch zwei, die verfügbar warein. Eine war bei der Elektronikmarkt-Aktion draufgegangen, die andere lag nass im Wäschekorb. Also, sparen. Ich griff zu meiner blauen Jogginghose und zog mein zweites Paar grauer Superman-Kniestrümpfe an. Schwarzes T-Shirt und grüner Kapuzenpulli. So konnte ich doch bitte in den Tag starten, oder?
Konnte ich nicht. Als ich nämlich in die Küche kam wartete dort kein leckeres Frühstück, sondern lediglich eine Tasse Kamillentee (würg) und der ziemlich dick eingepackte Onkel Phil. Ein Traum in Softshell und Microfasern. “Äh, ich hatte versprochen, nichts zu deiner Klamottenwahl zu sagen, Paul!”, kam es von Onkel Phil. “Aber ich weiß nicht, ob wir so weit kommen werden!?” Jetzt hatte ich das Fragezeichen im Gesicht. Hatte ich was nicht mitbekommen? Offensichtlich. Und dann fiel es mir ein. Ich hatte gerade die dritte Version von Mamas Tagesbericht in Arbeit und wieder mal nicht richtig zugehört. Mein Hirn spulte hektisch zurück. Irgendwas mit Hiking-Tour. Bunker und Aquarium. Oh. Das war heute? “Egal was du mal beruflich machst”, sprach das Softshell-Männchen lachend. “Du brauchst auf jeden Fall eine Sekretärin!” Also alles von vorn. Gemeinsam marschierten wir zurück in mein Zimmer. “Das Wetter ist fies, heute. Es ist saukalt, sehr windig. Und am Nachmittag könnte es auch noch regnen! Du packst also besser mindestens zwei Sets Wechselwäsche ein. Hab ich auch so gemacht! Und denk an den Zwiebellook! Viele Schichten übereinander, dann kann man auf unterschiedliche Temperaturen reagieren!” Stimmt. Wir sprachen darüber. Und jetzt war plötzlich auch der Plan für heute wieder da. Kleiner Morgenmarsch ins Nachbardorf. Dort wollten wir in einem gemütlichen Kaffee frühstücken. Dann weiter zu den alten Bunkern, die im zweiten Weltkrieg überall auf der Insel verbuddelt wurden. Anschließend ins Aquarum des Meeresbiologischen Instituts. Dann eine kleine Stärkung beim Burgerbrater meiner Wahl und auf dem Rückweg einkaufen fürs Abendessen. Ein volles Programm. Und über 15 Kilometer Strecke. Davor hatte ich echt Bammel. Aber vor allem die Bunker waren wohl jede Anstrengung wer. Das hatte ich gestern Abend noch im Internet recherchiert. Eng, dunkel und ein bisschen gruselig. Ich hatte richtig Schiss. Und wollte genau deshalb dort hin. Aber jetzt musste ich erstmal die ganzen Klamotten zusammenstellen. Wie aufs Stichwort kam Onkel Phil mit einem Wäschekorb ums Eck. Meine frisch gewaschenen Sachen. So ein Glück. Ich nahm eine der khakifarbenen Thermohosen und stapelte darauf ein Set Unterwäsche (gelb), die rote Notfall-Strumpfhose (Benjamin Blümchen!!), ein paar dicker Socken, ein braunes T-Shirt und einen gelben Pullover. Das war die absolute Notfall-Garnitur. Ganz unten im Rucksack. Dann eine der wirklich peinlichen Schlupfmützen und einen dunklen Schal. Dazu die alten Ski-Fäustlinge. Die zweite Garnitur bestand aus der Latzhose, dem grünen Kapuzenpulli, einem weißen Langarm-Shirt, blauem Slipboxer-Set und meiner gelben Strumpfhose, die beim Nudelmachen gelitten hatte. Obendrauf kam der wasserdichte Regenoverall. Den würde ich erst bei den Bunkern brauchen. Die eigentliche Kleidung für die Tour bestand im Wesentlichen aus einem blau/schwarzen Thermo-Overall, den mir Onkel Phil eigentlich fürs Wakeboarden besorgt hatte. Drunter eine nagelneue rote Falke Ski-Strumpfhose aus Funktionsmaterialien. Die gehörte zum Overall und machte aus einem eigentlich hochnotpeinlichen Kleidungsstück plötzlich eine cooles Outdoor-Accessoir. Die grüne Unterwäsche behielt ich an. Man musste es ja nicht übertreiben. Drüber dann ein weißer Rolli und ein blauer Fleecepullover. Eine hellblaue Mütze und neue Thermo-Softshell-Handschuhe rundeten den Auftritt ab. Ja, so machte auch ein Durchschnitts-Paul was her! Den restlichen Platz im Ruckack füllten wir mit ein paar kleinen Flaschen Wasser, eine Thermoskanne Tee, ein paar Müsliriegeln und Feuchttüchern aus. Konnte losgehen. Onkel Phil zwang mich noch, den Kamillentee runter zu stürzen. Damit ich wenigstens etwas Warmes im Magen hätte. Kann ja sein, dass das vernünftig ist. Aber entschuldigung. Wir sprechen von Kamillentee. Widerlich! Pünktlich um 6.30 Uhr verließen wir das Haus. Es war wirklich arschkalt. Das spürte man aber nur auf dem Gesicht, das von einer dicken Schicht Creme geschützt war. Fünf Kilometer hatten wir zu gehen. Durch Dünen, an Feldern entlang. Durch den dichten Morgennebel, der von der schwächlichen Herbstsonne nur in Zeitlupe vertrieben wurde. Das gab bestimmt tolle Bilder. Ich knipste, wie ein Wahnsinniger. Sowas hatte ich noch nie gesehen. Dieses Licht. Die feuchten Schafe im Nebel, die versuchten, die letzte Kraft der Sonne für ihren Start in den Tag zu nutzen. Der Wind, der würzige Duft nach Meer. “Wenn du so weiter machst, dann brauchen wir eine größere Speicherkarte!”, kommentierte der Profi-Knipser meinen Foto-Flash. Normalerweise habe ich bereitrs nach zwei Kilometern Schulweg die Schnauze voll. Aber hier vergingen die fünf Kilometer wie im Flug. Wir redeten über den Wechsel der Jahreszeiten, rechneten aus, wie lange ein Landwirt braucht, so eine riesige Weide einzuzäunen und versuchten, in dem ganzen Gestrüpp seltene Pflanzen zu entdecken. Nebenbei erzählte mir Onkel Phil die wichtigsten Regeln beim Fotografieren. Goldener Schnitt, und so. Ich habe erst kurz vor unserer Frühstückspause geschnallt, dass wir damit quasi im Vorbeigehen mein ganzes Tagespensum an Lernstoff abgearbeitet hatten. Und das hatte natürlich einen Grund.
Als wir die zum Kaffee umgebaute Scheune betraten, war ich fast traurig, eine Pause einlegen zu müssen. Wir waren echt gut in Fahrt. Die wohlige Wärme und das mitten im Raum platzierte offene Feuer erinnerten mich dann aber doch daran, dass ich eigentlich richtig Hunger hatte. Und dringend aus den Klamotten raus musste. Himmel, war das warm hier. Onkel Phil hatte längst die oberste Softshell-Schicht samt der schweren Schuhe ausgezogen und lümmelte entspannt auf einem Fellsofa. Vor ihm stand ein niedriger Tisch voll mit dem coolsten Frühstück, das ich jemals gesehen hatte. Erst jetzt erkannte ich, dass das kein klassische Café war, sondern eine Art Wikinger-Schänke. Wie cool war das denn bitte? Onkel Phil hatte mein Staunen bemerkt. “Das gehört zu einem Freilichtmuseum, das einem Wikingerdorf nachempfunden ist! Gefällt’s dir?” Mehr als ein Nicken brachte ich nicht heraus. Ich war mit dem Reißverschluss des Overalls beschäftigt. Hatte sich verhakt, das blöde Ding. So ein Mist. Wahrscheinlich wäre ich ohne Hilfe einfach geschmolzen. “Vielleicht beschäftigst du dich beim nächsten Mal etwas früher mit deiner neuen Ausrüstung”, prustete Onkel Phil. “Eigentlich ist das nämlich ganz einfach”. Und damit griff er auf Höhe meiner Knöchel zu einem weiteren Reißverschluss und zog ihn ganz nach oben. Schon stand ich linksseitig im Freien. Das ist ist praktisch, stammelte ich, während ich die Klettverschlüsse meiner Stiefel öffnete, um auch mit dem anderen Bein aus dem Overall zu kommen. Jetzt war’s besser. Und ich war nicht mehr zu halten. Überall hingen Schwerter, geschnitzte Symbole, Helme und anderes Wickinger-Zeug. Und alles sah so echt aus. Die Schwerter waren sogar richtig scharf. Dass ich nur in einer roten Strumpfhose durch ein Café flitzte, war mir in diesem Moment völlig Wurscht. Ich stellte gefühlt 10.000 Fragen, die Onkel Phil alle geduldig beantwortete. Als unsere Getränke kamen, beendete Onkel Phil meine Rennerei. “Jetzt wird gefrühstückt!” Und wie! Ich lümmelte auf der Nachbildung eines Eisbärfells und piekste mir mit einem kleinen Wikingerdolch, die Leckereien zusammen. Es war so cool! Einziger Haken: Onkel Phil hatte wirklich wieder Kamillentee bestellt. Der dampfte zwar in einem kleinen Trinkhorn stilecht vor sich hin, das machte die Sache aber nur bedingt besser. Kann ich nicht bitte einen Kakao haben, bettelte ich? Onkel Phil verzog die Augen. “Ungern. Es ist keine zwei Tage her, da hast du dir mit halbrohen Würsten den Magen verdorben. Ich weiß nicht, ob Kakao schon wieder Richtige ist! Aber bitte, du entscheidest!” Genau. Das tat ich. Mein Magen war wieder fit. Also: Kakao. Ein großer Becher. Es schmeckte herrlich! Als Onkel Phils Handy bimmelte, war das die Erinnerung, meine Medikamente zu schlucken. Tat ich natürlich. Onkel Phil hatte aber noch ein Thema, das er mit mir besprechen wollte. “Paul, ich habe mit deiner Mutter besprochen, dass du während des Urlaubs auch ein paar Besuche bei einem Spezialisten machst, der sich mit Kindern und Jugendlichen auskennt, die keine ganz leichte Zeit hinter sich haben. Erinnerst du dich?” Das tat ich. Ein Pyschotherapeut. Ein Seelenklempner. Muss ich da echt hin? Ich bin doch nicht bescheuert! “Das bist du in der Tat nicht. Aber du bist haarscharf an einer Spielsucht vorbeigeschrammt. Hast große Probleme in der Schule. Und hast irgendwo tief drin sicher noch mit dem Verlust deines Vaters zu kämpfen. Das muss irgendwo hin. Und Marc Breier, so heißt der Therapeut, kann dir dabei helfen! Der erste Termin ist heute Nachmittag! Zwei Stunden zum Kennenlernen. Im Wesentlichen werdet ihr zusammen was Basteln, Und spielen. Mehr nicht!” Hab ich eine Wahl? “Klar!” Ne, hab ich nicht. Ich weiß, dass das was Gutes ist. Aber hab keine Ahnung, was auf mich zukommt. Ich mach’s aber. “Gut”, beendete Onkel Phil das Thema. “Ich hab gewusst, dass du ein kluger Kerl bist. Manchmal!”
Also ich nach dem Frühstück ziemlich dringend Pinkeln musste und es so grade eben noch auf die Toilette schaffte, war ich erstmal froh, dass ich den Overall noch nicht wieder angezogen hatte. Das hätte ins Auge gehen können. Oder in die Hose. So langsam nervte mich dieser Blasenscheiß. Außerdem rumorte mein Magen. Erstmal nicht weiter schlimm. Aber vielleicht war das Riesenfrühstück mit Riesen-Kakao doch keine ganz so glänzende Idee. Egal. Ich wollte jetzt zu den Bunkern. Ein paar Minuten später zogen wir weiter durch den kalten, aber klaren Herbstwind. Die frische Luft tat gut, durch die Bewegung schien sich auch mein Magen wieder zu beruhigen. Na bitte, geht doch. Keine halbe Stunde später blieb Onkel Phil vor einer kleinen Düne stehen. “Wir sind da!” Bitte was? Wie jetzt? Wo ist denn hier bitte ein Bunker? “Wart’s ab!” Wir gingen hinter die Düne und da war tatsächlich ein sorgfältig ausgeschachteter Einstieg. Sehr eng, sehr dunkel. Aber sehr cool. Ein Hinweisschild wies darauf hin, dass das Betreten auf eigene Gefahr und nur mit geeigneter Ausrüstung erlaubt sei. Es sei verboten, die mit Leuchtfarbe markierten Bereiche im Bunker zu verlassen! Alles klar. Begriffen. Die passende Ausrüstung hatte Onkel Phil im Rucksack. Helme und starke Taschenlampen. “Wir steigen hier ein. Nach der ersten Biegung kommen wir auf der rechten Seite in einen großen Raum, der relativ gut erhalten und als Aufenthaltsbereich markiert ist. Da ziehen wir dann die wasserdichten Overalls an.” Alles klar. Onkel Phil kroch voraus. Eine Minute später gab er mir mit der Taschenlampe das Zeichen, nachzukommen. Mein Herz schlug bis zum Hals, als ich erst meinen Rucksack und dann mich selbst durch den engen Einstieg schon. Ungefähr bei der Hälfte kam die Panik hoch. Bis auf das kleine Licht der Taschenlampe vor mir war es stockdüster. Es roch muffig, nach abgestandener Luft, Feuchtigkeit und Verderben. Ich war kurz davor, abzubrechen. Was tat ich hier eigentlich? Ich musste doch bitte nicht den Helden spielen! 30 Sekunden später war alles vorbei. Onkel Phils starke Hand zog mich in einen erstaunlich hohen Durchgang und stellte mich auf die wackligen Beine. “Atmen, Paul! Respekt, dass du nicht aufgegeben hast. Der enge Durchgang hat schon viele Erwachsene zur Kapitulation gezwungen!” Oh, echt jetzt? Sofort kam ein Teil meiner Neugier zurück. Ein ein bisschen Selbstbewusstsein. Ich knipste meine Stirn- und die Taschenlampe an und folgte Onkel Phil um die erste Biegung. Krass. Ein gigantischer Betonkeller. Voller Graffiti, eingeritzten Symbolen und diversen Anweisungen, die noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammten. Gruselig. Nach dem Rechtsknick öffnete sich ein großer Raum, dessen Eingang tatsächlich mit fluoreszierender Farbe markiert war. “Bunker-Basis”, stand in Großbuchstaben über dem zwei Meter dicken Türsturz. In den massiven Angeln hing eine mindestens so dicke Stahltür, die sich wahrscheinlich nie wieder auch nur einen Millimeter bewegen würde. Die “Basis” war in der Tat nur ein großer Raum, die gesamte “Ausstattung” bestand aus Sitzbänken, ein paar Metalltischen und Metallschränken, die mit Vorhängeschlössern verschlossen werden konnten. Aus einer Alu-Box nahm Onkel Phil ein schwarzes Heft heraus, in das er unsere Namen, Datum und Uhrzeit eintrug. “Das Bunker-Buch muss von jedem ausgefüllt werden, der hier reinkommt. Reine Sicherheitsmaßnahme. Abends wird überprüft, ob alle, die sich eingetragen, sich auch wieder ausgetragen haben!” Gar nicht mal so doof, dachte ich mir. Anschließend schälte sich Onkel Phil aus zwei Schichten Thermoklamotten und streifte einen gelben wasserdichten Overall über. Hier unten war es verhältnismäßig warm. Da war es kein Problem, ein wenig vom Wärmepanzer abzulegen. Ich braucht natürlich wieder eine gefühlte Ewigkeit, bis ich aus dem Thermooverall raus war. Aber immerhin klappte es ohne Hilfe. Mein Regenoverall war leuchtend Rot. Man würde uns beide also auf keinen Fall übersehen können.
Der Rest war das coolste, was ich in meinem gesamten Leben mitgemacht hatte. Wir gingen, kletterten, krabbelten, krochen und wateten durch ein nie enden wollendes Gewirr aus Gängen, Räumen und Spalten. Ohne die Markierungen hätte ich bereits nach der zweiten Abzweigung völlig die Orientierung verloren. Ich redete wie ein Wasserfall. Stellte Fragen zur Bewaffnung der Tunnel, dem Verlauf des Krieges, dem Leben unter der Erde und so ziemlich allem, was man eben nicht im Geschichtsunterricht lernt. Onkel Phil geb geduldig Auskunft. Als er mit einem Blick auf seine Uhr dann verkündete, dass wir uns jetzt auf den Rückweg machen würden, wurde ich fast schon sauer! Jetzt schon? Gerade wo’s Spaß macht! “Wir sind seit etwas mehr als zwei Stunden hier drin. Bis wir raus sind, wird es Mittag sein!” Oh, echt? Krass, wie die Zeit vergeht. Also Rückweg. Ich war inzwischen Bunker-Profi und hatte keine Scheu mehr, mich durch enge Lücken zu zwängen oder ins Dunkel zu greifen. Zurück in der “Bunker-Basis” ließ die Anspannung langsam nach. Das Adrenalin in meinem Körper wurde abgebaut. Und schlagartig meldete sich meine Blase. Scheiße. Bitte nicht jetzt! Onkel Phil, ich muss dringend Pinkeln, rief ich panisch. “Im Nebenraum gibt’s zwei Camping-Toiletten. Rein mit dir!” Er zeigt durch einen niedrige Tür. Ich fummelte am Reißverschluss des Overalls herum, sprintete los und blieb noch in der Tür wie angewurzelt stehen. “Was ist, war’s doch nicht so dringend?”, frage Onkel Phil, der gerade aus seinem ziemlich dreckigen gelben Überzug stieg? Mein “Nein” ging in einem Schluchzer unter. Es war zu spät. In dieser Sekunde pinkelte ich mir in die Hose. Ich presste meine Hand gegen den Schritt und wollte, dass es aufhört. Es war ein jämmerlicher Versuch, der natürlich scheiterte. Ich konnte es einfach nicht stoppen. 30 Sekunden später sank ich auf die Knie. Tränen suchten lautlos ihren Weg über mein Gesicht und tropften auf den roten Overall, wo sie schmutzige Schlieren zogen. Onkel Phil war sofort bei mir. Wie immer, stellte er nicht viele Fragen. Er schob mich zu einer der Sitzbänke und schälte mich erstmal aus dem Overall. Der war nass. Außen und innen. Ich hatte ganze Arbeit geleistet. Shirt und Pullover hatte ich in die Strumpfhose gesteckt. Mit dem Ergebnis, dass jetzt alles nass war. Routinert zog Onkel Phil mir erst die Schuhe, dann die Strumpfhose aus und stellte mich dann auf ein Handtuch, dass er neben mich auf die Bank gelegt hatte. “Phil, du musst aus den Sachen raus! So warm ist es hier unten auch wieder nicht! Zieh jetzt bitte den Pulli und den Rolli aus. Ich hole die Ersatzkleidung!” Ich funktionierte wie ein Roboter. Ferngesteuert. Schließlich stand ich nur noch in der nassen Unterhose da. Mr. Bauarbeiter budelte immernoch. Langzeit-Baustelle. Als Onkel Phil mit der Latzhose, dem grünen Kapuzenpulli, einem weißen Langarm-Shirt, blauem Slipboxer-Set, meiner gelben Strumpfhose und den Feuchttüchern zurückkam, legte er die trockenen Sachen neben mich und begann, die eingesauten Klamotten in einen blauen Müllsack zu stopfen, in dem sich bereits sein Overall befand. “Ich gehe jetzt kurz nach hinten, damit du dich mit den Feuchttüchern grob saubermachen und frische Unterwäsche anziehen kannst! Soll ich dir beim Rest helfen?” Ich nickte. Wenige Augenlicke später war er zurück. Ich hockte auf der Bank. In frischer Unterwäsche und mit der gelben Strumpfhose in der Hand. Verzweiflung in den Augen. Die coole Funktionsunterwäsche. Alles versaut. Warum passiert mir das? Warum denn jetzt auch am Tag? Onkel Phil arbeitete strukturiert das Programm ab. T-Shirt und Pulli anziehen. Dann die Strumpfhose. Statt der Latzhose steckte er mich wieder in den Thermooverall. Zum Schluss Schuhe an, Rotz aus dem Gesicht putzen und das restliche Chaos beseitigen. Insgesamt hatte das ganze Drama keine 15 Minuten gedauert. Für mich fühlte es sich an wie eine Ewigkeit. “Paul, komm jetzt bitte wieder runter. Dr. Eisemann hat gesagt, dass genau das passieren kann. Jetzt ist es passiert. Und es ist echt keine Riesen-Sache. Aus genau diesem Grund hat man Wechselklamotten dabei! Mach dich jetzt fertig, wir machen uns jetzt auf den Weg zurück an die Oberfläche!”
Die frische Luft und der kalte Wind brachten wieder etwas Ordnung in das Chaos in meinem Kopf. Onkel Phil verordnete uns vor dem Eingang eine kurze Snack-Pause. Müsliriegel und Gummibärchen. Zucker macht glücklich. Mal sehen, ob’s klappt. Tat es. Zumindest ein bisschen. Wasser und Tee rührte ich nicht an. Und kassierte dafür auch postwendend einen Rüffel. “Doc Eisenmann hat betont, wie wichtig es ist, dass du viel trinkst. Du hast die Wahl: nichts mehr Trinken und die Entzündung nie los werden, oder Vernunft annehmen, trinken und eventuell den einen oder anderen Unfall zu riskieren!” Er hatte ja Recht. Das wusste ich. “Du warst heute super-mutig, Paul! Du bist durch einen Bunker gekrochen, in den sich viele Erwachsene im Leben nicht reintrauen würden! Und das Malheur zum Schluss haben wir doch super in den Griff bekommen, oder? Also für mich war das ein durch und durch erfolgreicher Nachmittag!” Und wieder hatte er Recht. Alleine die Bunker-Story würde locker fünf Seiten im Tagesbericht füllen. Das war so krass! Und trinken musste ich jetzt eh etwas. Die nächste Medikamenten-Ration stand an. Eine Flasche Wasser später hatten wir bereits die Hälfte der Strecke zum Aquarium hinter uns gebracht. Mein Magen fühlte sich nach wie vor nicht ganz gesund an. Kein Wunder. Erst das Frühstück, dann die Aufregung im Bunker. Egal. Im Aquarium würden wir die erste Hälfte des Tages entspannt ausklingen lassen. Nach der nächsten Biegung kamen dann auch das Ziel unserer Tour in Sicht. Das Aquarium des Meeresbiologischen Instituts. Ein eigentlich unscheinbarer Betonbau, der aus der Düne zu wachsen schien. Bunte Fahnen flatterten im Wind. Auf dem Parkplatz standen nur wenige Autos. Noch gut 200 Meter. Ich legte einen Schritt zu. Der Magen. Ich wollte vor dem Rundgang auf jeden Fall noch aufs Klo. Nein, ich wollte nicht, ich musste. Soweit aber noch alles im Grünen Bereich. Das Problem. Der Eingang lag auf der anderen Seite. Man kam nur über den Strand ins Museum. Jetzt wurde es aber langsam dringend. Geschafft. Während Onkel Phil die Tickets löste, folgte ich einem Leuchtschild zu den Toiletten im Keller. So lange ich in Bewegung blieb, war alles kein Problem. Pobacken zusammenkneifen, dann wir das schon klappen.Tat es nicht. Als ich unten ankam, trennten mich nur noch die letzte Stufe und wenige Schritte von der rettenden Toilette. Letzte wurde mir zum Verhängnis. Schritt zu kurz. Kein Halt mehr. Zu viel Schwung. Meine linke Hand griff suchend ins Leere. Ich knallte mit einem leisen “Uff” der Länge nach hin, schrammte mit dem Kinn über den Boden. Stille. Im Kopf. Und im Keller. Offensichtlich nicht viel passiert. Auf ein paar blaue Flecken hin oder her kam es jetzt auch nicht mehr an. Ich wollte mich gerade aufrappeln und verlagerte das letzte bisschen Konzentration auf einen einigermaßen würdevollen Bewegungsablauf. Ganz großer Fehler. Die Konzentration fehlte nämlich jetzt an anderer Stelle. Noch während ich dies realisierte, verschwand sämtliche Farbe aus meinem Gesicht. Ich hatte mich gerade auf den Knien aufgerichtet, das explodierte mein Darm. Mit einem Schmatzen, das man wahrscheinlich bis nach New York gehört haben musste, suchte sich mein mühsam im Zaum gehaltener Darminhalt einen Weg nach draußen. Es gab nichts mehr, was ich tun konnte. Durchfall allererster Güte. Die weiche, teileweise dünnflüssige Massen verteilte sich schlagartig. Nur Augenblicke später spürte ich, wie sich Teile davon der Schwerkraft folgend ihren Weg an meinen Oberschenkeln herunter suchten. Ich zitterte am ganzen Körper. Die totale Erniedrigung. Schock, Ekel, Scham, Hass. Auf mein Leben. Auf mich selbst. Auf Ben. Ohne diese Arschgeige wäre das alles nicht passiert. Dann Panik. So konnte ich hier nicht bleiben. Das durfte niemand mitbekommen. Ich sprang auf. Dadurch verteilte sich die Masse noch schneller. Ich wimmerte. Onkel Phil, bitte hilf mir. Bitte!
Er fand mich wenige Minuten später. Ich kauerte neben einem Getränkeautomaten, der in einer Kellernische vor sich hinbrummte. Von der Treppe aus war ich fast unsichtbar, konnte aber meinerseits ziemlich gut sehen, wer da runterkam. Zwei Jungs waren vor Onkel Phil nach unten marschiert. Sie hatten mich nicht entdeckt. Als ich Onkel Phils Stiefel auf der Treppe erkannte, reichte ein kurzes “hier”, um ihn auf mich aufmerksam zu machen. Aber wahrscheinlich hätte er mich auch so gefunden. Der Geruch, der mich umgab, war eindeutig. Und wegweisend. “Wie schlimm ist es?”, fragte er, als er sich zu mir herunterbeugte. Mein leerer Blick war Antwort genug. “Scheiße. Bleib hier und beweg’ dich so wenig wie möglich. Ich finde eine Lösung. Hörst du! Wir kriegen das hin!” Und er bekam es hin.
Fünf Minuten später stand er mit einem Schlüssel zurück, an dem ein Korkanhänger mit einem Rollstuhl-Emblem baumelte. “Das Museum hat einen gut ausgestattetes Badezimmer für Rollstuhlfahrer und Menschen mit Behinderung. Das trifft zwar auf dich nicht zu, aber das hier ist ja wohl ein Notfall, oder? Wir müssen aber wieder nach oben! Schaffst du das?” Ich nickte. Laufen ging ja noch. Und meine Klamotten würden wir eh komplett verbrennen müssen. Zwei Stockwerke höher führte Onkel Phil mich in das riesige Badezimmer, in dem sich neben einer tiefen Toilette mit diversen Haltgriffen noch ein höhenverstellbares Waschbecken und ein großer Tisch befand, der mit einer großen weichen Gummiauflage bespannt war. “Wickeltisch”, beantwortete Onkel Phil die Frage, die ich gar nicht gestellt hatte. So groß? “Paul, es gibt genügend Menschen, die aus medizinischen Gründen auf Windeln oder Einlagen angewiesen sind. Die müssen sich ja irgendwo umziehen!” Beim Satz mit den “medizinischen Gründen” viel bei mir der Groschen. Ich traf eine Entscheidung. Aber vorher musste ich aus den versauten Kleidern raus.
Das erste Mal hatte Onkel Phil keinen kompletten Plan. “Lass mich kurz überlegen, wie wir das so elegant wie möglich hinbekommen…”. Am Waschbecken fand er eine Packung mit Einweg-Handschuhen. Die konnte er sehr gut gebrauchen. “Erstmal, den Overall aus. Vielleicht ist der noch zu retten”. War er tatsächlich. Auch wenn das Teil sicher zwei Vollwaschgänge brauchen würde. Der Löwenanteil hing wirklich in der gelben Strumpfhose. Und auch die Slipboxer hatte viel weggesteckt. Beide waren jetzt aber endgültig nicht mehr zu retten. Schlimm war, dass ich mich neben den Getränkeautomaten gesetzt hatte. Dabei war ein Teil der Masse Richtung Rücken gedrückt worden. Also waren auch Shirt und Kapuzenpulli reif für die Tonne. Onkel Phil war großartig. Strumpf- und Unterhose bekam er ziemlich gut von mir runter. Er war so einiges gewohnt, aber hier musste selbst er immer wieder würgen. Shirt, Pulli und Unterhemdn waren eine echte Herausforderung. Über den Kopf ziehen? Ausgeschlossen. “Sorry Paul, das geht jetzt nicht anders” Aus seinem Rucksack zauberte er eine Schere und schnitt Schicht für Schicht an der Seite auf. So konnte ich alles wie eine Jacke ausziehen, ohne die Masse weiter zu verteilen. Bis auf den Overall wanderte alles in einen leeren Müllsack und dann weiter in einen großen Mülleimer mit Deckel, der neben dem Tisch stand. Darin lagen zwei ziemlich große Windeln. “Scheint gut besucht zu sein, der Raum”, versuchte Onkel Phil die Situation aufzuheitern. Blieb die Unterhose. “Ich weiß, dass du dich schämst. Ich werde dir deshalb nur helfen, wenn du einverstanden bist!” Natürlich war ich das. Und so trat Onkel Phil hinter mich und Schnitt mit der Schere erst die eine Seite der Slipboxer auf, dann die andere. So konnte er das Stück Stoff wie eine Windel hinter mir rausziehen. Was zurückblieb, bot ein schlimmes Bild. Und es gab hier keine Dusche. Also musste es mit Feuchttüchern gehen. Zum Glück hatten wir die ganze Packung mitgenommen. Und die brauchten wir bis zum letzten Tuch. Ich war wirklich wieder sauber. Fühlte sich fast an, wie frisch geduscht.Ich roch ein bisschen nach Babylotion, aber das war jetzt auch egal. Onkel Phil legte kurz darauf das letzte Set Klamotten auf den Wickeltisch: Gelbe Unterwäsche, die rote Notfall-Strumpfhose, das braune T-Shirt, den gelben Pullover und die Latzhose, die wir im Bunker nicht gebraucht hatten. “Kuck, wir haben zur Not immer noch eine Hose übrig” meinte er, während ich mich anzog und er den Raum wieder auf Vordermann brachte. Sehr witzig. Was hier gerade passiert war, roch ein Blinder mit Krückstock. Aber sehen konnte man es eben nicht. Ich war sogar wieder absolut vorzeigbar und roch richtig gut. Cool war anders, aber vorzeigbar. Ich war am absoluten Tiefpunkt angekommen. Aber ich hatte eine Entscheidung getroffen und wusste, dass ich mich immer auf Onkel Phil verlassen konnte. Und auch wenn es sehr abgedreht klingt, ich fühlte mich gar nicht mal so schlecht. Ab jetzt konnte es nur besser werden. Ich fiel ihm um den Hals. Okay, ich umarmte seine Hüfte. Größenunterschied, und so. Er streichelte mir über den Rücken und wunderte sich nicht wirklich, dass ich keine große Lust mehr aufs Aquarium hatte. Außerdem musste ich ja noch was erledigen.
Teil 3
Es war kurz nach 15 Uhr, als wir zurück in der Stadt waren. Unterwegs hatten wir ein bisschen Laugengebäck gegessen und Wasser getrunken. An einen fettigen Burger traute ich mich nicht ran. Onkel Phil wollte gerade in Richtung Ferienhaus abbiegen, da zupfte ich ihn am Ärmel seiner Jacke. Hast du noch kurz Zeit für einen Abstecher? Ich müsste noch was erledigen, stammelte ich? Und streckte ihm das Rezept entgegen, das ich im Rucksack deponiert hatte. “Klar!”, antwortete Onkel Phil. “Und du bist dir sicher, dass du das machen willst?” Ja, das war ich. Kannst du mit reinkommen? “Klar!”. Mein Herz pochte bis zum Hals, als wir die riesige moderne Apotheke betraten, die fast auf dem Weg lag. Onkel Phil postierte sich im hinteren Bereich des Ladens. Aber immer so, dass ich ihn noch sehen konnte. “Guten Tag junger Mann”, sprach mich eine braunhaarige Frau mit weißem Kittel an, die an den Tresen trat. “Wie kann ich dir helfen”. Ich muss was abholen, nuschelte ich und schob mit knallroten Ohren das Rezept zu ihr rüber. “Ah, Okay. Kein Problem. Du müsstest dich jetzt nur noch für ein bestimmte Einlage entscheiden. Wir haben mehrere zur Auswahl!” Ach du liebe Güte. Sie führte mich in einen Raum hinterm Tresen, der voll mit den verschiedensten Windeln und Einlagen war. “Meine Ecke” war ganz links. Die kleinste Größe mit der größten Saugstärke. Fünf Hersteller, zig verschiedene Varianten. Mit Klettbändern oder ohne, für Tag oder nur für die Nacht, mit Folie ohne Folie. Mir rauchte der Kopf. Die Verkäufern erkannte schnell, dass ich keine Ahnung hatte und hielt mir schließlich eine hellblaue Windel hin: “Schau mal, die ist eigentlich ein super Kompromiss. Dick genug für die Nacht, aber auch tagsüber unauffällig genug. Die kannst du hoch und runterziehen, wie eine Unterhose. Wenn sie benutzt ist, reißt man die Bündchen an der Seite auf, Fertig. Die verkaufen wir in deiner Größe ziemlich häufig!” Ich dachte ich höre nicht richtig. Wie, häufig? Fragte ich nach. “Nun, bis zum zwölften Lebensjahr ist eines von fünf Kindern Bettnässer. Und wir haben hier auf Sylt im Sommer 100.000ende Kinder und Jugendliche in Zeltlagern. Da kommt einiges zusammen!” Kuck an, dachte ich mir. “Möchtest du gleich eine anprobieren?” Jetzt, war ich wirklich überfordert. Warum? “Solche Einlagen müssen passen. Es hilft nichts, wenn sie schlecht sitzen, reiben oder auslaufen!”. Ach so. Äh, das kann ich ja dann zu Hause machen! Und wenn sie nicht passen, tauschen wir sie einfach um. “Wie du meinst. Wir haben aber hinten auch einen Raum, in dem du dich umziehen könntest”. Ich gab mir einen Ruck. Ich hatte mich bei “Ganz oder gar nicht” für “ganz” entschieden. Frau Mayer, so hier die Verkäuferin, führte mich in einen weiteren Raum. Mit Sessel, Liege und ein paar Regalen. Die Windel legte sich auf die Liege. “Komm einfach wieder nach vorne, wenn du fertig bist. Wenn du die Einlage nicht anbehalten möchtest, dann kannst du sie hier in dem Eimer entsorgen!”. Ich bat sie noch, Onkel Phil Bescheid zu sagen, dass ich noch einen kleinen Moment brauchen würde. So, Mut zusammen nehmen und los gehts.
Das Handling der Windel war wirklich super-einfach. Ich zog meine Gore-Tex-Stiefel aus, dann die Latzhose, die Strumpfhose und die Unterhose Dann stieg ich in die Windel. “Vorne”-Schriftzug nach vorne. Hochziehen. Fertig. Das war ja easy. Ich betrachtete mich im Spiegel. Statt in Tränen auszubrechen, fühlte sich das völlig in Ordnung an. Natürlich nicht überragend. Wir reden hier immerhin von einer Windel. Aber das Ding war recht bequem, kratzte und knisterte nicht. Okay, man bekam einen ziemlich dicken Po. Aber das ließ sich nicht ändern. Ich beschloss, die Windeln erst zu Hause auszuziehen. Wenn sie dann immernoch gut saß, würde es heute Nacht sicher kein Problem geben. Also, alles wieder anziehen. Mit der engen Strumpfhose drüber, fiel das Windelpaket schon fast nicht mehr auf. Und als ich die Latzhose wieder anhatte, hätte ich auf den ersten Blick selbst nicht mehr sagen können, ob ich einen Windel drunter hatte, oder nicht. Ich marschierte nach vorne und verkündete Frau Mayer, dass ich mich für dieses Modell entschieden hatte. Sie hatte den passenden Karton bereits nach vorne gebracht. 50 Stück. Ein Riesending. “Das ist leider die kleinste Menge, die wir haben”, entschuldigte sie sich. Macht ja nix. Jetzt hatte Onkel Phil seinen ersten Auftritt. “Ich nehm das schon”, meinte er. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Das Paket, auf dem überall groß und deutlich lesebar der Inhalt und Anwendung aufgedruckt war (für mittlere bis schwerste Inkontinenz) selbst du die Straßen zu schleppen, hätte ich einfach nicht gepackt. So weit war ich dann doch noch nicht.
Um ziemlich genau 16 Uhr waren wir zu Hause. Während Onkel Phil den Windelkarton in meinem Zimmer deponierte, musste in der Küche erstmal eine Flasche MIneralwasser dran glauben. Jetzt, wo die Toilette in Wurfweite war, gab’s mit der Trinkerei auch kein Problem. “Lass uns gleich die Rucksäcke ausräumen. Später haben wir dann sicher keine Lust mehr drauf”, meldete sich Onkel Phil aus meinem Zimmer zurück. “Und ich hab dann ja noch einges zu waschen”. Ich kniff die Lippen zusammen. Alles wegen mir. “Quatsch. Wann willst du eigentlich wirklich mal mit dem Selbstmitleid aufhören? Ich fand dich vorhin in der Apotheke so mutig! Du hast dich alleine für den Schritt entschieden und hast das durchgezogen. Ich kenne nicht viele Erwachsene und schon gar keinen Elfjährigen, der sich das getraut hätte. Ich bin sehr, sehr stolz auf dich!” Kann sein. Viel schlimmer konnte es ja schließlich nicht werden. Was glaubst du, wie lange werde ich die Dinger anziehen müssen? “Bis jetzt hatte Doc Eisenmann doch mit allem Recht. Also glaube ich ihm. In 14 Tagen sollte der Spuk vorbei sein.” Onkel Phils Rationalität wirkte mal wieder beruhigend auf mich. “In dem Paket waren zwei Packungen mit je 25 Windeln. Ich habe dir mal 15 Stück in den Schrank gelegt. Neben deine Unterwäsche. Du nimmst sie dir raus, wann du magst, okay!?” Klar. Und fändest du es schlimm, wenn ich ab und zu auch tagsüber so ein Teil anziehen würde? Jetzt schaute Onkel Phil ehrlich überrascht. “Nein, warum? Ich kann mir vorstellen, dass du sowas wie heute nicht noch einmal erleben willst. Ich bleibe dabei: Du entscheidest selbst, wie du das handhabst!” Okay. Dann werde ich das mal versuchen. “Eine Detail müssen wir aber noch besprechen. Es ist wirklich sehr, sehr wichtig. Nasse Windeln müssen ausgezogen werden! Immer so schnell wie möglich. Urin ist sehr aggressiv zur Haut. Da hast du Ruckzuck eine Entzündung an Stellen, an denen du ganz sicher keine haben möchtest! Außerdem fangen die Dinger ziemlich schnell an zu riechen. Deshalb wird morgens ab sofort geduscht. Immer und ohne Ausnahme. Die benutzten Windeln kommen in den Eimer im Badezimmer. Steht neben dem Waschbecken! Passt das für dich?” Ich nickte. Die nächsten 30 Minuten verbrachten wir damit, die Rucksäcke auszuräumen. Bei mir ging das schnell. War ja nicht mehr viel drin. Immerhin hatte ich zwei Sätze Klamotten “verbraucht”. Alleine beim Gedanken daran schüttelte es mich. Onkel Phil hatte mit dem versauten Overall aus dem Aquarium und dem Müllbeutel aus dem Bunker deutlich mehr zu kämpfen. Er stopfte alles in die Waschmaschine und gab reichlich Wasch- und Desinfektionsmittel dazu.
“Bist du fertig?” fragte er mich, als er aus dem Badezimmer kam? Fertig womit? “Die korrekte Frage lautet: wofür!” Gut, wofür. Und dann erinnerte ich mich. Das Kennenlernen mit dem Therapeuten. Das hatte ich ja völlig vergessen. “Um 17 Uhr sollst du da sein, um 19 Uhr werde ich dich wieder abholen!” Das war ja grundsätzlich kein Problem. Ich hatte nur noch die Windeln an und wollte ungern gleich beim ersten Termin mit dem Seelenklempner in Windeln auflaufen. In einer trockenen Windel, um genau zu sein. Keine Chance. Onkel Phil schob mich bereits Richtung Auto. “Los jetzt, wir sind eh schon spät dran!” Im Auto blieb Onkel Phil seiner Linie treu. Alles kann, nichts muss. “Du weißt selbst, was du wann mit Marc Breier besprechen willst, und was nicht! Wenn du willst, kannst du ihn auch zur absoluten Verschwiegenheit verpflichten. Dann erfährt nichtmal deine Mama, was ihr während der Sitzungen besprecht!”
Ich war natürlich pünktlich. Marc Breier aber nicht. Onkel Phil hatte mit um Punkt 17 Uhr am Empfang seiner Praxis abgeliefert und die Formalitäten geklärt. Die Sprechstundenhilfe, die in dieser Praxis Assistentin hieß, führte mich in ein Zimmer, in dem ich Marc Breier treffen sollte. Das könne aber noch ein paar Minuten dauern. Ich könne mir aber gerne etwas zu Trinken nehmen und mit allem spielen, was im Zimmer stand. Was soll da schon rumstehen, dachte ich mir. Und fiel im nächsten Moment vom Glauben ab. Riesen-Flatscreen, ein kleiner Basketball-Korb, ein sehr cooler Retro-Kühlschrank, Gummibären, ein Trampolin, Bälle, Pupen ohne Ende, eine nagelneue Spielkonsole, Fahrzeuge und eine unfassbare Menge Lego und Lego Technik. Das ist der Himmel und keine Prasxis, nuschelte ich in meinen nicht vorhandenen Bart und setzte mich erstmal schüchtern auf einen kleinen Hocker. Dabei spürte ich deutlich die Windeln, die inzwischen meine Körperwärme angenommen hatte und deshlab kaum noch zu spüren war. Sie war nach wie vor trocken. Und noch spürte ich nichts was darauf hindeutete, dass sich das in absehbarer Zeit ändern könnte. Das hatte aber nichts zu bedeuten, wie ich mittlerweile ja aus Erfahrung wusste. Dank der Blasenentzündung ging das ja alles gerade überfallartig. Die Spielkonsole übte eine geradezu magische Anziehungskraft aus. Wahrscheinlich war nichts dabei, wenn ich mal kurz ein Spiel … Stop! Jetzt nur nicht schwach werden, sagte ich zu mir selbst. Ich hatte mir selbst geschworen, nie wieder auf Typen wie Ben oder solche Daddelkisten reinzufallen. Nie wieder. Ich entscheide selbst und damit basta! Dann also Lego Technik. Hatte ich ewig nicht mehr gespielt. Dazu musste ich quer durch den Raum bis zu einer weichen blauen Matte, die als Spielunterlage diente. Zwei kleine Kärtchen wiesen darauf hin, dass man vor dem Betreten der Matte bitte die Schuhe ausziehen sollte. Kein Problem. Es war eh ziemlich warm im Zimmer. Ich wollte die Gelegenheit nutzen und gleich noch den warmen Pullover loszuwerden. Also, Latzhose auf, Träger runter, Pulli über den Kopf. Und gerade, als ich den Kopf durch den Pullover zog und kurzzeitig nichts mehr sehen konnte, öffnete sich die Zimmertür und Marc Breier stürmte herein. “Oh”, meinte er erstaunt. “Ich bin zwar Arzt, aber freimachen steht bei mir eigentlich nicht auf dem Programm!” Sehr witzig. Ich zog meinen Kopf wieder ins Freie und war jetzt knallrot im Gesicht. Der Pullover. Die Schuhe. Lego. Mir war so warm… “Alles gut, Paul. Es gibt hier nicht viele Regeln. Eine lautet: Keine Kleiderordnung. Wenn du magst, kannst du dich auch gerne im Skianzug hier reinsetzen. Oder in der Badehose. Und wenn’s dir wirklich zu warm sein sollte, dann kannst du auch gerne deine Latzhose anziehen. Wie ich sehe, hast du ja noch was drunter! Ach übrigens, ist das Benjamin Blümchen?” Die Anspielung auf meine Strumpfhose sorgte dafür, dass meine rote Gesichtsfarbe konstant blieb. Ja, aber das sind nur meine Notfall-Klamotten. Wir waren heute im Bunker und … Warum quasselte ich eigentlich so viel? Ich kannte den Kerl doch seit gerade mal 45 Sekunden. Der hatte mich völlig überrumpelt. “… und was?”, versuchte Marc Breier meinen Satz fortzusetzen. Na ja, da hab ich mir … weil ich hab doch da diese Blasenentzündung. Was war nur los mit mir? So viel hatte ich im ganzen letzten Schuljahr nicht geredet. Also außerhalb meines Kopfes, meine ich. “Ja, das habe ich gelesen. Doc Eisenmann hat mir deine Krankenakte geschickt. Verrückt. Es war, als kenne ich diesen großen, dunkelhaarigen Typen seit vielen Jahren. Woher wusste ich eigentlich, dass ich ihm vertrauen konnte? Weil er Arzt war? Weil Onkel Phil das gesagt hatte? Vielleicht. Vielleicht aber auch, weil es ganz gut tat, mal mit jemand tu reden, der nicht meine ganze Familiengeschichte kannte. Und der im Zweifel nichts von dem weitersagen durfte, was ich mit ihm besprach. Außerdem war da diese unfassbare Menge Lego Technik. Ich hatte zu Hause gerade mal einen Schuhkarton voll. Nichts Zusammenhängendes. Einzelteile. Marc Breier hatte praktisch alle Modelle im Regal, die ich mir mal gewünscht hatte: Hydraulik-Truck, Formel-1-Auto, Allrad-Geländewagen. Alles da. Ich musste mir das einfach ansehen. Marc Breier bemerkte meine Neugier. Lego Technik? Dann los. Lass uns was bauen! Also bauten wir. Und wir redeten. Über Gott, die Welt, die Schule, Mama, Papa, Ben. Alles. Und nichts. Irgendwie. Ich kannte die ganzen Geschichten ja schon. Mein Leben halt. Irgendwan saß ich wirklich nur noch in der Strumpfhose auf der Baumatte. Es war aber auch warm hier. Dass ich drunter die Windel anhatte, war ganz weit weg. Wir sprachen auch über Benjamin Blümchen. Ich fand’s peinlich. Marc Breier nicht. Er sammelte Benjamin Blümchen-Sachen. “Jeder Mensch hat irgend einen Vogel!” meinte er, als ich ihn erstaunt ansah. Ich kann ihnen gerne die Strumpfhose schenken, grummelte ich. Er verschluckte sich fast an seiner Cola Light und prustete: “So weit geht die Sammelleidenschaft dann doch wieder nicht. Ich sammle eigentlich nur die Originalzeichnungen der Cover von den Hörspielkassetten”, erklärte er. “Die sind teilweise sehr wertvoll!” Irgendwann, ich hatte längst das Gefühl für die Zeit verloren, ging der Flatscreen an. “Ich hab lust auf eine Runde Zocken!”, verkündete Marc Breier. Meine Finger krallten sich in einen Softball, den ich gerade in den Basketballkorb werfen wollte. Ich darf … ich will das nicht. Bitte. Stotterte ich. Es kostete mich alle Kraft, mich nicht neben Marc Breier zu setzen und den Zombies auf dem Bildschirm ein Magazin Sprenggeschosse in die Schädel zu jagen. “Wie du magst. Ich würde es auch niemand weitererzählen!”, bohrte er weiter. Ich biss die Zähne aufeinander. Bitte nicht. Das macht alles kaputt… Und dann brachen alle Dämme. Ich redete und redete. Nicht mehr nur belangloses Zeug. Der ganze Hass, die Wut und Enttäuschung kam raus. Marc Breier unterbrach mich kein einziges Mal. “Ich würde vorchlagen, du ziehst dich jetzt wieder an!”, sagte er schließlich freundlich. Dein Onkel wartet sicher schon draußen. Und wenn du magst, sehen wir uns am Montag! Das war alles? Keine Medikamente, Hausaufgaben oder sonstwas? “Nö, warum? DU bist doch nicht krank…!” Bevor wir loskamen, wolle Marc Breier Onkel Phil noch kurz unter vier Augen sprechen. In seinem Büro kam Marc Breier gleich zur Sache: “Er ist ein großartiger kleiner Kerl. Ein bisschen verloren, gerade, zwischen Kindheit und Pubertät. Und er tut sich schwer, sich in seinem privaten Umfeld zu positionieren. Da sind diese starken Frauen in seiner unmittelbaren Nähe. Die für ihn übermächtigen, ihm angeblich überlegenen Mitschüler. Er ist kein echter Außenseiter. Er hält sich selbst für unsichtbar und hat sich in dieser Nische eingerichtet, obwohl er eigentlich da raus will. Es braucht sicher nicht viel, um ihm zu helfen. Er braucht AUfmerksamkeit. Von einer männlichen Bezugsperson. Der Urlaub hier bei Ihnen ist deshalb goldrichtig. Aber er braucht gleichaltrige Freunde. Jungs. Die seine Interessen teilen!” Onkel Phil nickte. “Ich glaube, er hat riesiges Potenzial!” Jetzt nickte auch Marc Breier. “Er hat eine extrem ausgeprägte Beobachtungsgabe”. “Das haben Sie auch schon bemerkt?”, fragte Onkel Phil? “Ich bin Fotograf. Und er hat defintiv Talent!”. Marc Breier lächelte. “Das wäre defintiv ein Ansatz. Und vielleicht gehen sie mit ihm mal shoppen. Ein bisschen Freiheit. Und Selbstbestimmung. Sie werden überrascht sein, dass er dabei ganz sicher nicht über die Stränge schlagen wird!” Das würde er nicht. Da war sich auch Onkel Phil sicher.
Was habt ihr denn so lange besprochen, wollte ich wissen. Durfte man fragen, fand ich. Die saßen fast eine halbe Stunde bei Marc Breier im Büro. “Och, gar nicht so viel”, antwortet Marc Breier. Dass wir morgen nach Helgoland fahren, zum Beispiel. Und dann weiter nach Dänemark. Insgesamt vier Tage, davon zwei auf See. Und wir unterwegs ein bisschen shoppen gehen.” Wie, auf See? Und einkaufen? Was denn? “Was du magst. Klamotten, Spiele. Ganz egal.” Aber ich hab kein Geld, jammerte ich. “Da machst du dir mal keine Sorgen. Du wirst ein bestimmtes Budget zur Verfügung haben. Und du entscheidest, was du einkaufst. Ich werde dabei nur dein Bodyguard und Taschenträger sein!” Krass. Das ist gar keine so doofe Idee, grinste ich. Bevor wir uns auf den Weg nach unten machte, meinte Onkel Phil, dass er schonmal voraus ginge um das Auto zu holen. Er parkte ein ganzes Stück entfernt und es regnete in Strömen. Schneeregen. Es war noch ein Stück kälter geworden. “Und wir müssen ja nicht beide durch den Regen rennen!”. Ich nahm also noch kurz im Wartezimmer Platz und wünscht mir keine zwei Minuten später, lieber im kältesten Regen der Welt zu stehen. Nackt, von mir aus. Ich hörte das “Pling” der Aufzugtür. Dann wurde ein junger Kerl ins Wartezimmer geschoben, die Arme bockig ineinander verschränkt. Seine linke Gesichtshälfte war blau. Und ein Unterarm eingegipst. Ben. Mein Herz setzte eine Sekunde aus. Sofort waren Panik, Hass und Wut wieder da. Und jede Demütigung, die ich durch ihn ertragen hatte. Ich zitterte. “Kuck an, Pauli-Bubi muss auch beim dämlichen Marc aufs Sofa”, ätzte er. “Ich wusste, dass mit dir was nicht stimmt. Jeder normale Mensch hätte sich nicht von den trotteligen Kaufhausschnüfflern erwischen lassen! Wenigstens hat dein Abgang über die Treppe meine Flucht gedeckt. Aber die beiden Spiele sind futsch! Und die wirst du mir ersetzen, klar!” Wer war denn jetzt bitte verrückt? Er wollte Geld für zwei Spiele haben, die er geklaut hatte? Da kannst du lange warten, nuschelte ich. “Das werden wir ja noch sehen. Ich habe die Abreibung meines Lebens kassiert, als meine Eltern von der Sache erfahren haben. Das wirst du mir büsen. Ich wäre an deine Stelle sehr vorsichtig, in der nächsten Zeit!” Ich war kurz davor die Beherrschung zu verlieren. Mühsam versuchte ich in meinem Kopf die Worte zu einer passenden Antwort zusammenzukriegen. Dass dabei ein großer Teil der Cola, die ich bei Marc Breier getrunken hatte, meinen Körper verließ, bekam ich gar nich mit. Fertig. Jetzt musste ich nur noch den richtigen Moment abwarten. Der kam, als ich durch die Glastür Onkel Phil im Treppenhaus sah. Ich weiß ja nicht, ob ich hier richtig bin, fauchte ich mit letzter Kraft. Aber bei dir bin ich mir da zu 100% sicher! Dann stürmte ich aus der Praxis. Ich sah nicht zurück, sondern flog im Trepenhaus Onkel Phil in die Arme.
Jetzt kamen die Tränen. Und die Erkenntnis, dass ich dringend die Windel loswerden musste. Während ich Onkel Phil von der Begegnung mit Ben erzählte, gingen wir langsam die fünf Stockwerke nach unten. Die Windel hing schwer zwischen meinen Beinen. Alles war besser, als eine nasse Hose. Aber eklig war es trotzdem. “Ich werde mit Marc sprechen”, meinte Onkel Phil, als er sich gerade anschnallte. “Solche Terminüberschneidungen lassen sich ganz leicht verhindern.” Die Sache mit der Windel hatte ich noch nicht erzählt. Musste ich aber. Früher oder später würde es eh rauskommen. Und so beichtete ich Onkel Phil, dass ich die Windel aus der Apotheke gar nicht ausgezogen und sie gerade auch benutzt hatte. “Ja, und? Dafür ist sie doch da? Ich hab dir die Entscheidung freigestellt, was du wann anziehst. Wenn dir die Windel tagsüber Sicherheit gibt bin ich der Letzte, der damit ein Problem hat!” Okay, also alles halb so schlimm. Aber wollte ich das wirklich. Windeln auch am Tag. Sicher nicht. Auf der anderen Seite war nichts schlimmer, als bei jedem Ausflug panisch Ausschau nach der nächsten Toilette halten zu müssen. Und so kam ich mit mir selbst zu einem Deal: Zu Hause und hier in der Stadt würde ich versuchen, ohne diese Dinger auszukommen. Wenn wir unterwegs waren, dann erstmal mit. “Passt für mich, meine Onkel Phil. Und wenn es bis nächste Woche nicht besser wird, dann schauen wir nochmal kurz bei Doc Eisenmann vorbei. Einverstanden?” Klar.
Der Rest des Abends ist schnell erzählt. Onkel Phil hatte gekocht. Schonkost. Kartoffeln, ein bisschen Gemüse, Putenfleisch. Kein Risiko mit Pauls Magen. Die Botschaft war eindeutig. Vor dem Essen, musste ich aber noch die klatschnasse Windel entsorgen. Das klappte problemlos. Statt die Bündchen aufzureißen, stiegt ich aus der Windel, wie aus einer Unterhose. Das Saugkissen war gelb. Aber nicht allzu sehr. Das Ding machte nicht den Eindruck, an der Belastungsgrenze zu sein. Gut so. Ich warf meine erste Windel seit fast vier Jahren in den Müll und wusch mir in der Dusche die Ereignisse des Tages vom Körper. Nach dem Abtrocknen griff ich zum frischgewaschenen Schlafanzug und zögerte. Jetzt schon die Windel für die Nacht? Warum nicht. Ich würde wahrscheinlich eh wieder am Schreibtisch einschlafen, so müde war ich. Und genau so kam’s. Nach dem Essen brauchte ich wieder drei Versuche, bis Onkel Phil zufrieden mit dem Tagesbericht war. Es war eine Qual. Mein Kopf war voll, vieles wirr. Und das alles kam auch so auf dem Papier an. Das musste besser werden, war das letzte, an das ich mich erinnern konnte, bevor ich am Tisch einschlief und Onkel Phil mich ins Bett trug.
“Guten Morgen, Schlafmütze!” Irgend jemand kitzelte mich am Fuß. Onkel Phil. Pah. Wenn er wollte, dass ich aufstand, musste er schon härtere Geschütze auffahren. Ich hatte geschlafen wie ein Stein. Nichtmal an einen Traum konnte ich mich erinnern. Außerdem war es grade herrlich warm im Bett. Also, Decke über den Kopf und tot stellen. 30 Sekunden später war die Decke weg. Hallo, geht’s noch, grunzte ich. “Die nehme ich erstmal mit”, kam es aus der Richtung, in die meine Decke verschwunden war. “Es ist jetzt 8.30 Uhr”, verkündete Onkel Phil. “Um 10.30 fahren wir los, sonst verpassen wir unser Schiff! Und du wirst mitkommen, das verspreche ich dir. Egal, wie du bist dahin aussiehst. Wenn’s ein muss, schleife ich dich auch im Schlafanzug an Bord!” Himmel ja. Unser 4-Tages-Ausflug. Und ich hatte noch nichtmal gepackt. OhneMampfkeinKampfmusserstmalwasfrühstücken, gähnte ich und sprang aus dem Bett. Auf dem Weg in die Küche versperrte mir Onkel Phil aber den Weg. “Bei aller Toleranz, Kollege. Aber so will ich dich ganz sicher nicht am Tisch haben!” Was hatte er denn? Dann sah ich in den Spiegel im Flur. Oh. Ich hatte wirklich schonmal vorzeigbarer ausgesehen. Meine Frisur sah aus, als hätte ein Hamster drin geschlafen. Um den Mund waren noch die Reste vom Abendessen zu erkennen. Und meine Schlafanzughose hing tief im Schritt. Drei Erkenntnisse: 1. Ich hatte offensichtlich sehr tief geschlafen. 2. Mein Schlafanzug und damit das Bett waren trocken geblieben. Yes! 3. Diese Windel war definitiv an ihrer Belastungsgrenze. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wenn das alles ins Bett gegangen wäre… Also, erstmal Badezimmer. “Vor der Waschmaschine stehen zwei Körbe mit frischer Wäsche”, rief mir Onkel Phil hinterher. “Wir schauen nach dem Frühstück, was du alles einpacken solltest!” Alles klar. Der Schlafanzug flog erstmals in diesem Urlaub nicht direkt in die Wäsche, sondern landete zur Wiederverwendung auf dem Rand der Badewanne. Ein gutes Gefühl. Meine letzte verbliebene Slipboxer landete aber genauso in der Wäschetonne, wie das Unterhemd und die bunten Wollsocken, die ich immer zum Schlafen trug. “Jeder Mensch hatte einen Vogel!”, hatte Marc Breier ja gesagt. Und ich liebte die kuscheligen selbstgestrickten Strümpfe meiner Oma. Die Windel war ein Alptraum. Mit einem dezenten Würgen und an spitzen Fingern ließ ich das pralle Paket aus Papier, Kunststoff, Zellstoff und Superabsorber in den Windeleimer plumpsen. Ah, das tat gut. Frischluft. In der Dusche brauchte ich nur zwei Minuten. Schnell abtrocknen, die Haare kämmen und nur schnell die Unterwäsche drüber ziehen. Ich griff in den Wäschekorb und erwischte den roten Slip. Diesmal also kein Baurbeiter, sondern eine dicke Hummel im Schritt. Passte auch irgendwie. Hummeln waren fleißig. Und ich hatte ja auch noch viel zu tun. Beim besten Willen wollte sich aber das passende weiße Unterhemd mit den roten Ziernähten nicht einfinden. Ich hatte aber weder die Zeit, noch die Lust für eine umfassende Suchaktion und griff deshalb zur nächstbesten Alternative. Es war das gelbe Unterhemd. Das Gegenstück zum Bauarbeiter. Mit einem “Under Construction”-Schild auf Brusthöhe. Gegen kalte Füße zog ich ein frisches Paar Wollsocken über die Zehen. Das musste erstmal reichen. Onkel Phil hatte das Frühstück schon fertig. Grießbrei mit Zimt und Zucker. Himmlisch. “Oh, hab ich den Clowntag im Kalender übersehen?” fragte er mit einem Blick auf meine spezielle Farbzusammenstellung? Ich gönnte ihm den Lacher und schaufelte riesige Mengen Grießbrei in mich rein. Dann noch ein Becher Tee (Kamille, natürlich), Zähne putzen und schon standen wir in meinem Zimmer um zu packen. “Overall und Strumpfhose aus dem Bunker konnte ich in der Waschmaschine retten”, eröffnete Onkel Phil die Klamottensortiererei. “Wir werden den ganzen Tag auf dem Schiff sein. Da reicht einen Jogginghose. Wenn wir an Deck gehen, ziehst du dann den Overall drüber, okay?” Läuft, sagte ich, während ich vier Garnituren Unterwäsche in meinen großen Rucksack stopfte. Dazu noch alle verbliebenen drei Strumpfhosen, zwei Paar Schlafsocken, die Filzhausschuhe, zwei Jeans, drei Pullover, fünf T-Shirts, die Ersatz-Schlupfmütze, einen Ersatz-Schal und meine dicke Winterjacke. Obendrauf kam mein Toilettenbeutel und eine Tüte mit meinen Gore-Tex-Stiefel. “Vergiss deine Schulsachen nicht!” Danke Onkel Phil. Hätte so schön werden können, der Tag. Noch so ein Stimmungskiller: die Windeln. Beide Rucksäcke waren voll. Also umladen. Toilettenbeutel und Schuhe wanderten zu Onkel Phil in den Rucksack. Den neu geschaffenen Stauraum nahmen 15 Windeln ein. “So viel?”, fragte Onkel Phil. Ja. Sicher ist sicher. 10 Minuten bis zur Abfahrt. Jetzt aber flott. Mechanisch griff ich zu einer der Windeln aus dem Schrank. “Soll ich rausgehen?”, wollte Onkel Phil wissen? Warum? Weil ich mich gerade anziehe? Quatsch. Unterhose runter, Windel an, Unterhose hoch. 10 Sekunden. Ich wurde immer besser. Drüber kam die rote Sport-Strumpfhose, die ich schon gestern im Bunker getragen hatte. Obenrum komplettierte ein weißes T-Shirt und der blaue Pulli des Jogginganzuges mein Outfit. Dann noch die graue Jogginghose, fertig. Saß ein bisschen eng am Po, aber das war nicht zu ändern. Zufrieden stieg ich in meine gefütterten Gummistiefel marschierte zur Garderobe. Softshelljacke, Mütze und Schal. fertig. Die Handschuhe stopfte ich in die Jackentasche. Konnte losgehen. Pünktlich auf die Sekunde.
Teil 4
Keine Viertelstunde später stellte Onkel Phil den Volvo in einer großen Halle am Hafen ab. Der Bereich war mit “Nur für Passagiere der MS Nordlicht” gekennzeichnet. MS Nordlicht. So hieß also unser Schiff. Onkel Phil hatte mir außer dem groben Reiseverlauf nichts über unseren Trip verraten. Vier Tage sollten wir unterwegs sein. Mini-Keuzfahrt, nannte sich sowas. Kreuzfahrtschiffe kannte ich aus dem Fernsehen. So ein Ding? Hier? Ja, genauGanz genau. Die MS Nordlicht war ein ausgewachseneswar echt ein ausgewachsenes Kreuzfahrtschiff. Der größte Pott, den ich je gesehen hatte. Nagelneu und ein riesiges Teil. Frisch aufgebaut für rund 9000 Passagiere, die sich ein paar nette Tage auf Nord- oder Ostsee machen wollten. Ich war komplett euphorisch. Vier Tage auf diesem Pott. Wahnsinn! Statt der knapp 9900 Gäste warteten am Pier allerdings keine 1150 Passagiere darauf, aufs Schiff zu kommen. Das war keine Überraschung. Die MS Nordlicht war erst vor wenigen Wochen in Dienst gestellt worden. Der Herbst war so eine Art Probelauf für den erwarteten großen Ansturm im Sommer. Entsprechend entspannt verlief das Boarding. Weil so wenig los war, bekamen wir statt der einfachen Innen-Doppelkabine eine geräumige Familien-Kabine mit kleinem Balkon. Die war der Knaller! “Das Kinderzimmer” der Kajüte war winzig und komplett blau gestrichen. Die beiden Etagen des Stockbetts waren wie die Balkone eines Kreuzfahrtschiffs bemalt und mit blauen und grünen LEDs beleuchtet. Eine kuschelige Unterwasserwelt. Onkel Phils Zimmer war gleichzeitig der größte Raum der Kabine. Großes Doppelbett, kleines Sofa. In in jedem Zimmer ein riesiger Flachbild-Fernseher. Mit einem Code gesichert, wie ich motzend feststellte. Daneben das wirklich kleine Bad mit einem in die Wand eingelassenen Wickeltisch. Familien-Kabine. Ich erinnerte mich. Alles in dezenten brauntönen. Bisschen spießig, wie ich fand. Aber Okay. Ich wollte natürlich umgehend das Schiff erkunden. Onkel Phil hatte da grundsätzlich nichts dagegen. Vorher gab’s aber eine mehr als deutliche Belehrung in Sachen Sicherheitsvorkehrungen. Und ein gelbes Armband. Jeder Passagier an Bord trug so ein Ding. Erwachsene konnten damit bezahlen. Außerdem ließen sich damit die Türen öffnen. Für mich hieß das: Ich konnte mich auf dem Schiff frei bewegen. An Deck kam ich aber nur in Begleitung “meines” Erwachsenen, auf den mein Armband codiert war. Ich war beeindruckt. So viel Technik!. “Paul, der Kahn ist riesig. Hier Hier kann man sich problemlos verlaufen! Solltest du dich irgendwo verirren, dann merk dir bitte unsere Kabinennummer. Oder mindestens die Farbe unseres Decks. Wir sind auf der Neptun-Seite des blauen Decks!” Alles abgespeichert. Und weg war ich.
Ich hatte eine Stunde. Zum Ablegen um 14 Uhr wollten wir uns vor der Bücherei treffen und das Manöver vom Oberdeck aus beobachten. Onkel Phil würde meinen Overall mitbringen. Erstmal orientieren. Bücherei, Kino, Restaurants, Fitnessbereich mit Wellness-Oase, Kaminlounge, Indoor-Spielplatz und ein paar Shops befanden sind alle auf den obersten beiden Decks. Drunter vier Decks mit den Passagierkabinen. Dann ein Deck fürs Personal und der Maschinenraum. Ich wollte das Kino sehen. Den Indoor-Spieplatz. Und die Bücherei. Die Sache mit der Orientierung hatte ich schnell raus. Eigentlich ging es nur darum zu wissen, wo das große zentrale Treppenhaus lag. Von da aus würde ich zumindest immer wieder aufs richtige Deck finden. Neptun-Blau. Der Indoor-Spielplatz war überraschend groß. Wenn auch ohne echte Highlights. Immerhin gab’s ein Trampolin. Würde ich aber erst später testen können. Erstmal die Bibliothek. Die hatte rund um die Uhr offen. Ich war viel zu aufgeregt, um jetzt was zu lesen. Aber ich nahm mir einen Flyer mit der erklärte, wie man mit seinem persönlichen Armband nicht nur Bücher, sondern auch Tablet-Computer, Musik und Spiele ausleihen konnte. Spiele? Großartig. Am Computerterminal reservierte ich mir Scrabble und trug als Abholzeit 19 Uhr ein. Nach dem Abendessen. Eine halbe Stunde noch, dann musste ich zurück bei Onkel Phil sein. Genug Zeit, um noch was zu trinken.
Auf dem Hauptdeck gab es zwei Cafés. Eines sah aus, wie ein österreichisches Kaffeehaus. Das andere wie eine Filiale einer modernen Kaffee-Kette. Da ging ich rein. Ich bestellte mir einen Früchtetee und gönnte mir dazu einen Schokoriegel. Onkel Phil hatte mir erklärt, dass ich an jedem Tag auf dem Schiff 15 Euro zur persönlichen Verwendung frei hatte. In ein paar Minuten würden davon nur noch 11 übrig sein. Ich platzierte mich in einer Lounge-Ecke mit möglichst gutem Rundum-Blick. Viel los war nicht. Wahrscheinlich waren die wenigen Gäste noch dabei, ihre Kabinen einzurichten. Dennoch nahmen nur wenige Minuten später drei Passagiere am Tisch neben mir Platz. Ein älteres Pärchen und ein ziemlich gut genährter Junge. Vielleicht in meinem Alter. Evtl. ein bisschen älter. Schwer zu sagen. Denn im Vergleich zu ihm war ich fast ein Punk. Er trug ein kariertes Hemd, das teuer aussah und bis zum obersten Knopf geschlossen war. Die Haare ordentlich gekämmt. Unterm Tisch konnte ich eine hellbraune Cordhose erkennen. Die Füße steckten in blau/weiß gestreiften Ringelsocken. Dazu trug er Birkenstock-Hausschuhe. Großeltern und ihr Enkel, dachte ich mir. Auch ich war schon mit Oma unterwegs gewesen. Aber niemals wären wir so steif an einem Tisch gesessen. Meine Neugier war geweckt.
Zunächst verlangten aber der Tee und mein Schokoriegel meine volle Aufmerksamkeit. Eine junge Servicemitarbeiterin balancierte das kleine Tablett geschickt auf meinen Tisch und scannte mit Ihrem Tablet mein Armband. “So Paul, du hast heute noch elf Euro übrig! Lass es dir schmecken und komm gerne wieder vorbei!” Hier konnte ich es aushalten. Während ich den Schokoriegel verputzte, beobachtete ich aus dem Augenwinkeln, wie dem Enkel am Nebentisch die Kinnlade runter klappte. Was hatte er denn? Hing mir ein Popel aus der Nase? Kuckte meine Windel raus? Ich sah an mir runter. Alles bestens. Die Windel war unsichtbar und unbenutzt. Und das würde sich nur ändern, wenn ich vor dem Ablegen vergaß, einen Stop auf der Toilette einzulegen. Während ich kaute, versuchte ich, dem Gespräch am Nachbartisch verfolgen. Es war eher eine Diskussion. Die beiden Großeltern waren offensichtlich nicht so ganz einverstanden mit dem Verhalten ihres Enkels. Und der wiederum war genervt. Oder traurig? Schwer zu sagen. Klärte sich aber alles auf. Der Junge hieß Julian, wurde aber offensichtlich Juli genannt. Seinen richtigen Namen bekam ich nur raus, weil Julis Oma zum Schluss ein Machtwort fauchte: “Julian, du hörst jetzt bitte auf, dich wie ein Kleinkind aufzuführen! Wir werden jetzt hier gemeinsam Kaffee trinken und hinterher vom Balkon aus das Auslaufen beobachten. Anschließend gehen wir zum Essen. Wenn du magst kannst du dir dann noch gemeinsam mit Opa ein Buch aus der Bücherei ausleihen und im Bett noch etwas lesen. Es war ein langer Tag!” Oha, die führte ja ein hartes Regiment. Dagegen war Mama ja ein geradezu sonniges Gemüt. Juli war aber noch nicht bereit, aufzugeben. “Oma bitte. Ich wollte doch nur kurz im Indoor-Spielplatz vorbei. Das ist gleich um die Ecke, ihr könnt mich doch fast sehen!” Oma blieb hart. “Keine Diskussion. Das Schiff ist viel zu unübersichtlich! Wenn du dich verläufst, finden wir dich nie! Wir bleiben zusammen und Basta!” Au weia. Sowas nennt man dann wohl ultrakurze Leine… “Aber der Junge da ist auch alleine unterwegs! Der ist sicher auch noch keine 13!” Moment mal, ich hätte fast meinen Tee durch die Gegend gespuckt, mit dem ich das Riesenstück-Schokoriegel runterspülen wollte. Ich hatte doch vor lauter Konzentration echt vergessen, zu kauen. Wie peinlich. Und was hatte ich überhaupt mit Julis Problemen zu tun? “Das kann ich mir nicht vorstellen, Julian. Kein Kind sollte auf so einem Schiff alleine unterwegs sein! Wo ist dein Vater, mein Junge?” Diese Frage galt mir. Wo mein Vater war? Keine Ahnung, nuschelte ich am Schokoriegel-Klumpen vorbei und wurde rot. Ich könnte ihr jetzt meine Lebensgeschichte runterrattern und gleich noch erklären, dass das Armband, das auch Juli trug, permanent seine Position an Bord des Schiffes übermittelte. Er konnte gar nicht verloren gehen. Geschenkt. Keine Lust, keine Zeit. Großer Schluck Tee, dann war mein Mund endlich wieder frei. Ich bin mit meinem Onkel Phil hier, schob ich hastig hinterher. Mit dem treffe ich mich in … Blick auf die Uhr … FUCK! Einer Minute. War nett sie kennengelernt zu haben! Ich sprang vom Lounge-Sofa und war nur Sekunden später in den Gängen verschwunden. Nächster Halt Bücherei. Ich war ziemlich außer Atem, als ich drei Minuten zu spät an der Bücherei ankam. Sorry, bin aufgehalten worden. Hundeblick. Half. “Kein Ding. Ich hab gesehen, dass du dich mit einer Familie unterhalten hast. Die ältere Dame war nicht sehr erfreut von deinem Abgang!” Ups, erwischt. “Du wirst der Dame nach dem Essen erklären, was das sollte! Du weißt, dass ich Unhöflichkeit nicht ausstehen kann!” Augen verdrehen. Wenn’s sein muss. Können wir jetzt bitte raus? Man hörte schon, wie langsam die Maschinen hochgefahren wurden. “Geduld, Kollege. Einmal Gesicht abwischen vorher!” Was war mit meinem Gesicht? Ein Wisch später hatte ich die Antwort, das Feuchttuch war voller Kakao. Dieser blöde Schokoriegel. Ich angelte mir den Thermo-Overall von Onkel Phils Schoß und war schon dabei, meine Schuhe auszuziehen. Dann noch die Jogginghose. “Die kannst du anlassen!”, meinte Onkel Phil. Nö, zu warm. Schuhe wieder an, Mütze auf, Handschuhe an, los! Der Übergang in die Kälte was brutal. Das Wetter hatte umgeschlagen. Zur Kälte kamen jetzt noch Windböen in Tornadostärke. Mindestens. War mit aber alles egal. Ich musste das Ablegemanöver aus der Nähe sehen! Wir platzierten uns direkt unter der Brücke. Ein fantastischer Blick auf die Pier. Dafür auch der zugigste, lauteste und kälteste Ort auf dem Schiff. Es war großartig. Nachdem die Arbeiter die oberschenkeldicken Taue gelöst hatten, ging der Anker hoch. Die dicken Kettenglieder wickelten sich langsam auf eine Rolle. Parallel schoben die Seitenstrahlruder die MS Nordlicht von der Kaimauer weg. Die Gischt spritzte, das ganze Schiff neigte sich leicht zur Seite. Ich redete ununterbrochen, spulte Lexikon-Wissen ab, das sich hier in eine praktische Anwendung verwandelte. Kann ruhig auch mal was lernen, der Onkel Phil, dachte ich. Der bekam bei all dem Getöse allerdings überhaupt nichts mit, von meinem richtungsweisenden Vortrag. Dafür schoß er großartige Fotos, die wir am selben Abend noch zu Mama mailten.
Wir waren längst auf See, als mich Onkel Phil endlich dazu brachte, wieder INS Schiff zu gehen. Ich motzte dennoch weiter, bemerkte aber schon nach wenigen Sekunden, dass das gar keine so schlechte Idee war. Gesicht, Hände und Beine waren quasi gefühllos. Meine Backen glühten, ich war glücklich. Daran konnte auch die Tatsache nichts ändern, dass ich noch während des Ablegemanövers in die Windeln gepinkelt hatte. Kein richtiger Unfall. Eher kalkuliertes Risiko. Ich schämte mich dennoch. Und wollte jetzt schleunigst in unsere warme Kabine. Außerdem hatte ich auf der Toilette noch ein weiteres Geschäft zu erledigen. Ich öffnete die Kabinentür mit meinem Armband und schälte mich noch im Vorraum aus dem Overall. Die Stiefel flogen in die nächste Ecke. Die Windel hing schwer zwischen meinen Beinen und wurde eigentlich nur noch von der Sport-Strumpfhose daran gehindert, mir nicht von den Hüften zu rutschen. Im Bad riss ich die Bündchen auf und deponierte die Windel erst einmal in der Badewanne. Dann war endlich der Weg zur Toilette frei. Geschafft. Kurz darauf wollte ich die gebrauchte Windel im Mülleimer entsorgen, fand aber lediglich so ein kleines Eimerchen. Da passte das Ding niemals rein. Wohin mit der Windel, rief ich Onkel Phil durch die geschlossene Badezimmertür zu. “Im Regal neben dem Waschbecken hat’s große Tüten, die extra für Windeln vorgesehen sind. Riech mal dran!” Tatsächlich, da war ein Karton mit lilfarbenen Plastiksäcken, auf denen “For diaper use only” geschrieben stand. Sie dufteten dezent nach Lavendel. Und ich konnte mir vorstellen, warum. Die Tüte hängte ich an einen Haken hinter der Tür. Dann Hände waschen und wieder anziehen. Wenige Augenlicke später lag ich nur mit Pullover und Strumpfhose bekleidet bei Onkel Phil auf dem Bett und berichtete von jedem Detail des Ablegemanövers. Onkel Phil war natürlich dabei gewesen, lies mich aber geduldig erzählen. Es hatte schließlich lange genug gedauert, bis sich meine Kommunikation aus meinem Kopf hierher verlagert hatte. Parallel massierte er meine eiskalten Füße. Und so langsam kehrte die Wärme in jedes einzelne Körperteil zurück. Die Wärme, und die Müdigkeit. Onkel Phil ließ mich schlafen. Bis zum Abendessen waren es noch 1,5 Stunden. Genug Zeit also, für ein kurzes Nickerchen!
30 Minuten vor dem Essen weckte mich Onkel Phil mit einem nassen Waschlappen. Bäh! “Täusche ich mich, oder hast du dich vorher nicht gewaschen, als du deine Windel ausgezogen hast?” Pling, hochroter Kopf. Natürlich konnte das sein. “Dann ab mit dir ins Bad. Warmes Wasser ist bereits im Waschbecken. Und zieh dir bitte eine frische Unterhose an. So richtig frisch riechst du nämlich nicht!” Ich beschloss zu schmollen. Widerworte zwecklos. Onkel Phil hatte ja Recht. Ich wusch mich sehr gründlich. Das war auch dringend nötig. An den Windelrändern war meine Haut schon ein bisschen rot. Also, der Rest des Abends besser ohne saugfähige Unterwäsche. Da konnte es nicht schaden, gleich auch nochmal auf die Toilette zu gehen. Auftritt frisch duftender Paul. Onkel Phil schnupperte und war zufrieden. Was soll ich denn anziehen, fragte ich mit ehrlicher Ahnungslosigkeit. “Wir sind heute Abend im französischen Restaurant. Das ist ziemlich schick. Ich sag’ mal so: Mit Jogginghose lassen sie uns da nicht rein!” Hm, dann hatten wir jetzt ein Problem. Ich hatte ja nur Pullis dabei. Auf mein lila Surfer-Hoodie ließ ich zwar nichts kommen, für ein vornehmes Restaurant war das aber nichts. Das wusste ich auch. “Mach dir keine Sorgen”, feixte Onkel Phil. Während du grade geschlafen hast, war ich schnell einkaufen. Die Auswahl an Bord ist nicht riesig, aber ich denke, ich hab was für dich gefunden.” Und schwups, zauberte ein beiges Papierpäckchen hinter seinem Rücken hervor. Für mich, echt? Onkel Phil nickte. Ganz vorsichtig riss ich die Verpackung aus Seidenpapier auf und fand zunächst ein weißes Hemd. Sehr schick. Und gar nicht spießig. Das war aber noch nicht alles. Ganz unten lag dann noch ein dunkelblauer Pullunder mit Superman-S auf der Brust. Ein saustarkes Teil. Ich steckte das Unterhemd ordentlich in die Unterhose und zog die Strumpfhose nach oben. Dann schlüpfte ich in mein neues Hemd. Es passt super. Pullunder drüber, fertig. Welche Hose? “Nimm die schlichte blaue Jens”, riet mir Onkel Phil. “Und dann machen wir noch was mit deinen Haaren!” Was war denn bitte mit meinen Haaren falsch? Ich mochte meine Frisur. Sie war pflegeleicht. Oder anders: Sie musste es sein, weil sie konsequent nicht gepflegt wurde. Offensichtlich wollte Onkel Phil daran heute was ändern. Er zog eine Dose Haarwachs aus seiner Kulturtasche und platzierte einen walnußgroßen Klecks in seiner linken Hand. Dann verteilte er die klebrige Masse zwischen den Händen und wuschelte mir mit ein paar gekonnten Handgriffen durch die Haare. Hm, das roch lecker. “Kokosnuss” lachte Onkel Phil. “Schau mal her. Ja, so langsam bist du vorzeigbar!” Was hieß hier so langsam? Ich hatte fast ein bisschen Schiss davor, in den Spiegel zu schauen. Traute mich aber doch. Und war erstmal überfordert. Ich würde ganz sicher nicht mein Traumtyp werden, aber hey, das sah ganz gut aus. Modern, aber nicht zu lässig. Und auf keinen Fall durchschnittlich. Wer hätte das gedacht. “Dann sind wir ja fast fertig”, riss mich Onkel Phil aus meinen Gedanken. Auch er trug jetzt ein weißes Hemd und eine lässige, blauschwarz schimmernde Jeans. Drüber ein anthrazitfarbener Pullunder. Ohne Superman-Logo. Tja, das konnte eben nicht jeder tragen. Aber was hieß denn fast? Was kam denn noch? “Das hier”, meinte Onkel Phil geheimnisvoll und griff in seine Hosentasche, um mir kurz darauf zwei schwarze Lederarmbänder unter die Nase hielt. Ein größeres und eines, wie gemacht für einen Kinderarm. Für mich? Echt jetzt! “Klar. Und schau dir mal an, was drauf steht!” Ich sehr mir mein Band genauer an. “Vielleicht sogar gut”, stand in silbernen Buchstaben auf der Innenseite. In Onkel Phils Version stand der erste Teil des Satzes: “Alles wird besser”. “Das ist unser Motto Paul! Und die Armbänder werden uns immer daran erinnern!” Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie etwas so Schönes bekommen. “Wehe du heulst jetzt wieder!”, ermahnte mich Onkel Ben scherzhaft. “Wir zwei Hübschen machen uns jetzt einen richtig netten Abend!
Scheiße, sahen wir gut aus. Vor dem “Chez Charlie”, dem französischen á la Carte-Restaurant des Schiffs, mussten wir nur kurz darauf warten, bis wir unseren Tisch zugewiesen bekamen. Aber die Zeit reicht um zu erkennen, wie perfekt Onkel Phil unseren Style ausgewählt hatte. Wir waren vielleicht nicht ganz so elegant gekleidet, wie der Rest. Sahen dafür aber deutlich moderner und dennoch sehr seriös aus. Das fühlte sich klasse an. Zumindest so lange, bis wir an unseren Tisch kam. Denn fast gleichzeitig nahmen auch drei andere Gäste am Tisch neben uns Platz. Juli und seine Großeltern. Die hatten mir gerade noch gefehlt. Immerhin war ich jetzt in Begleitung eines Erwachsenen und streunte nicht ohne Aufsicht durchs Schiff. “So ein Zufall”, meinte Onkel Phil, der die drei ebenfalls gesehen hatte. “Dann können wir das ja auch hinter uns bringen. Paul! Mitkommen!” Was sollte denn das jetzt bitte werden? Ich stand unsicher auf und folgte Onkel Phil zu dem Tisch, an dem Juli sich gerade größte Mühe gab sich hinter der großen weißen Serviette zu verstecken. Er sah uns kommen und hatten ebenfalls nicht die geringste Ahnung, was jetzt kam. Onkel Phil räusperte sich und sprach Julis Großeltern mit einer Stimme an, die ich noch nie an ihm gehört hatte. Sehr förmlich, sehr freundlich. Ein bisschen wie ein Teflon-Bratpfanne. “Verzeihen Sie bitte die Störung beim Essen, aber erlauben Sie mir bitte, dass ich uns kurz vorstelle: Mein Name ist Philipp Landenberger, ich nehme gemeinsam mit meinem Neffen Paul an dieser kleinen Kreuzfahrt teil. Ich musste heute Nachmittag leider mit ansehen, dass Paul sich Ihnen gegenüber nicht sehr respektvoll verhalten hat. Aber wir waren verabredet und Paul weiß, dass ich Unpünktlichkeit zu keiner Zeit toleriere! Dafür möchte ich mich in aller Form entschuldigen, Herr und Frau …?” Was war denn hier los? Wo war denn MEIN Onkel Phil hin verschwunden? Und wer war der Mann, der da gerade die beiden Herrschaften vollschleimte? “von Reifnitz-Dammgarten”, antwortete Julis Opa. Johannes und Josefa von Reifnitz-Dammgarten. Und das ist unser Enkel Julian.” Ich kam leider nicht dazu, einen lustigen Spruch über die gleichen Anfangsbuchstaben der Vornamen zu reißen, da sprach der steife Johannes schon weiter. “Eine Entschuldigung ist völlig unnötig, weehrter Herr Landenberger. Wir tragen an der Situation eine ebenso große Mitschuld. Wir hatten eine anstrengende Anreise hinter uns und waren noch etwas überfordert mit der Orientierung auf dem Schiff. Zudem macht Julian aktuell eine schwierige Phase durch. Deshalb haben wir etwas robuster reagiert, als wir das selbst von uns kennen. Ich hoffe, du kannst da Nachsicht walten lassen, Paul?” Als mein Name fiel, rutschte mir das Herz in die Hose. Was war denn jetzt passiert? Warum entschuldigte sich der denn jetzt bei mir? Onkel Phil gab mir einen Schubs. Ich nickte. Und bekam so grade eben ein Ssselbstversständlich gestottert. “Dann freue ich mich sehr, dass wir das aus der Welt schaffen konnten und wünsche ihnen einen wundervollen Abend!” So höflich wie er das Gespräch begonnen hatte, so stilvoll und konsequent bracht Onkel Phil es zu Ende. Ich hatte nach wie vor keine Ahnung, was da gerade passiert war. Aber ich war heilfroh, dass ich mich jetzt auch ein bisschen hinter meiner Serviette verstecken konnte. “Na, hast du heute was gelernt?”, fragte Onkel Phil mit einem unverschämt breiten Grinsen in einer Lautstärke, die ausreichend Abstand zu den von Reifnitz-Dammgartens ließ. Äh. Dass du schleimen kannst wie ein Großer, vielleicht? “Auch. Aber vor allem ging es darum dir zu zeigen, dass es oft viel effektiver ist einen Schritt auf den Gegner zuzumachen, als ihn zu bekämpfen!” Okay. Aber wen hatte ich denn bekämpft? “Natürlich niemand. Aber ich habe dir ja gesagt, dass ich die Szene beobachtet habe. Und ich war von Anfang an ziemlich genervt davon, wie sie ihren Enkel und dich angesprochen haben. Und ich wollte eine Entschuldigung. Und die hast du bekommen, oder?” Ja, hatte ich. Und schon wieder musste ich feststellen, wie ahnungslos ich doch durchs Leben ging. Das setzte sich übrigens nahtlos beim Essen fort. In Sachen Ernährung war Frankreich definitiv einen andere Galaxie. Die essen da Schnecken! Und Ziegenkäse! Ganz schlimm. Onkel Phil fand’s großartig. Ich rettete mich mit frischen Pommes Frites und einem Stück paniertem Fisch. Ich hatte dennoch meinen Spaß beim Essen. Das lag vor allem an Juli, der bei jedem abartigen Gericht, dass seine Großeltern verspeisten, die gleichen Grimassen schnitt wie ich, als Onkel Phil erst Schnecken aß und denn einen ganzen Hummer in seine Einzelteile zerlegte. Gruselig, einfach gruselig. Aber Juli war lustig. Und wenn man sich mal die schleimige Frisur, das steife Hemd und die wirklich lächerlichen Bommel-Slipper wegdachte war er mir eigentlich ganz symphatisch. Außer den Grimassen hatte er aber wenig zu lachen. Während Onkel Phil und ich bestens amüsierten und mit den Servicekräften scherzten, kassierte Juli für jeden falschen Schnaufer einen Rüffel. Ich wusste genau, wie er sich fühlen musste. Und ich wollte versuchen, ihm zu helfen. Ein bisschen. Dazu bräuchte ich aber Onkel Phils Hilfe. Mal wieder. Der war natürlich dabei, kündigte aber im Gegenzug an, das ganz sicher nicht nüchtern zu Ende bringen zu können.
Nach dem Dessert kam es also zum zweiten Auftritt des Pullunder-Duos. “Liebe Familie von Reifnitz-Dammgarten, bitte verzeihen Sie die erneute Störung. Aber ich hatte nach dem vorzüglichen Essen noch einen kleinen Aperitif im Kaminzimmer eingeplant und wollte sie ganz herzlich einladen, mir Gesellschaft zu leisten. Außerdem wäre das doch eine vorzügliche Gelegenheit für Julian und Paul, sich näher kennen zu lernen. Ich vermute, die beiden sind ungefähr im gleichen Alter!?” Julian war ehrlich überrascht. Aber seine Augen strahlten. Die Einladung war so freundlich vorgetragen, dass man sie gar nicht ablehnen konnte. Und so saßen wir wenige Minuten später in einer gemütlichen Nische des Kaminzimmers. Die Erwachsenen tranken Cocktails und übten sich in Gesellschaftskonversation. Juli und ich saßen am Nebentisch und spielten Scrabble. Onkel Phil machte seine Sache großartig. Und mit jedem Cocktail klappt das gestelzte Sprechen besser. “Wwwwwer ist denn auf die Idee gggggekommen”, wollte Juli wissen. Erst jetzt fiel mir auf, dass er stotterte. Na ja, ich hab ja erlebt, wie streng deine Großeltern sind. Und außerdem hatte ich auch Lust, hier auf dem Schiff jemanden in meinem Alter zu haben. Mehr nicht. Ich weiß genau wie das ist, wenn man von Erwachsenen voll ausgebremst wird. Bei meiner Mama ist das oft genauso. Der Rest ging dann wie von selbst. Der eine erzählte dem Anderen sein Leben in Kurzform. Juli war 12 und lebte seit sechs Jahren bei seinen Großeltern. Seine Mutter war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen und sein Vater war Drogenabhängig und lebte irgendwo in Spanien. Die letzten beiden Jahre waren ziemlich ätzend. Juli wurde in der Schule gemobbt, weil er in Stresssituationen anfängt stark zu stottern. Parallel fing er an, seinen Vater zu suchen, fand ihn aber nicht. Das frustrierte ihn so sehr, dass er anfing, in der Schule aggressiv zu werden und seine Wut vor allem an Jüngeren ausließ. Keine gute Mischung, wenn man auf ein Internat geht, das seit gefühlt 100.000 Jahren für die Ausbildung deiner Vorfahren verantwortlich zeichnet. Deshalb wird Juli nach den Ferien eine “Auszeit” vom Internat nehmen und erstmal eine staatliche Schule bei sich zu Hause besuchen. Seitdem sind seine Großeltern praktisch permanent an seiner Seite um ihn wieder auf den rechten Weg zu bringen. Ich hörte fasziniert zu. Da war jemand mit Adelstitel, traditionsreicher Familiengeschichte, praktisch keinen Geldsorgen und hatte so ziemlich die gleichen Probleme wie ich. Sachen gibt’s. Aber ich hatte ja Onkel Phil, zum Glück. Juli hatte niemand, der ihn in dieser Situation wirklich verstand. Ach ja, wohnt ihr eigentlich in einem Schloß? Juli verdreht die Augen. “Dass der gemeine Pppppöbel immer die gleichen Fragen stellen muss. Vor 500 Jahren hätte ich dich für diese Ffffffrage ganz entspannt über Bbbbbbord werfen lassen können!” Cool bleiben, euer Lordschaft. Ich hab ja nur gefragt. “Knappe Paul, ich bin heute in bester Stimmung und gewähre euch eine Antwort auf euer unverschämte Neugier!” Ach kuck. Wenn er frotzelt, stottert er nicht. Und damit kam er zurück aus seinem kleinen verbalen Ausflug ins Mittelalter. “Nicht ganz. Das Llllllandgut meiner Familie heißt zwar Schschschloss Liebenau, ist aber genau gegegegeenommen nur die umgebaute Scheune eines Bbbbbbauernhofes. Eines zugegeben brutal rrrrriesigen Bauernhofes. Der wurde allerdings Siebzehnhunderthastdunichtgesehen bei einem Fffffeuer zerstört. Seitdem wohnt meine Familie in der Scheune. In einem klklklkleinen Teil der Scheune. Der Rest ist ein Llllllllandhotel mit 120 Zimmern, Tagungszentrum, Pferdeställen und Vvvvvvvveranstaltungszentrum!” Ich war sprachlos. Nicht, wegen der Beschreibung. Sondern weil ich das Schloss kannte. Okay, das Schloss selbst nicht. Sondern den riesigen Abenteuerspielplatz im Wald dahinter. Praktisch jeder Schüler bei uns in der Gegend war da schonmal bei einem Wandertag. Und ich hatte mir auf der Korkenzieher-Rutsche auf dem Spielplatz mal den Arm gebrochen. Ich hatte einen Verdacht. Kann es sein, dass du auf deiner neuen Schule 10 Tage länger Ferien hast? “Ja, sssssstimmt”, brummelte Juli, der gerade versuchte, ein besonders kompliziertes Wort aufs Brett zu bekommen. Prima, dann sehen wir uns da ja öfter. “Was?” Juli war jetzt maximal verwirrt. Es gab aber keinen Zweifel. Wir würden auf die selbe Schule gehen. Wobei ich zu Fuß gehen konnte und Juli fast eine Stunde mit dem Bus unterwegs sein würde. Ob wir auch in die gleiche Klasse gehen würden, musste sich noch herausstellen. Juli war ja eigentlich eine Stufe über mir. Da er aber ebenfalls sein letztes Jahr komplett in den Sand gesetzt hatte, würde er die siebte Klasse definitiv wiederholen müssen. Und ich würde nur in die 7. eingestuft werden, wenn meine Aufnahmetest entsprechend gut ausfiel. Ich hatte also einen Ansporn mehr, mich während der Lernzeit in den Ferien anzustrengen. Plusquamperfekt! “Was?” Fragte Juli irritiert, der mit der neuen Entwicklung noch viel überforderter war als ich. Nix was. Plusquamperfekt, wiederholte ich mit einem Fingerzeig auf Scrabbel-Brett. Ich hab Plusquamperfekt gelegt. Eure Lordschaft kann also nur noch gewinnen, wenn ihr mich über Bord werft. “ Das kkkkkann doch wohl nicht … Na warte!” Und patsch, hatte ich eine Serviette im Gesicht. “Ich fordere Satisfaktion!”, prustete Juli. Ein Duell? Konnte er haben. Und ich wusste auch schon, wo.
Und so standen wir wenige Minuten später vor dem Tisch mit Onkel Phil und Juli Großeltern, um uns in Richtung Indoor-Spielplatz abzumelden. Dort gab es die größte Auswahl an Nerf-Waffen, die ich jemals gesehen hatte. Onkel Phil, das wusste ich, war das kleinste Problem. Es war erst kurz nach 20 Uhr und vor 21.30 war in den Ferien eh nie an Schlaf zu denken. Juli war sich aber ziemlich sicher, dass seine Großeltern ihn keinesfalls gehen lassen würden. Dass es dann doch ganz anders kam, war wieder mal Onkel Phil zu verdanken. Der hatte die von Reifnitz-Dammgartens mit der Cocktail-Karte sturmreif geschossen. Sprich: die beiden Herrschaften hatten ziemlich einen sitzen. Was nicht heißt, dass Herr von Reifnitz-Dammgarten sich nicht auch mit einer Mojito-Fahne entsprechend würdevoll artikulieren konnte. “Julian, du weißt, wie wenig wir von solchen Aktivitäten halten. Und du hast im Laufe des letzten Schuljahres eigentlich sämtliche Freiheiten verspielt. Diese Reise soll aber für uns alle auch eine Chance sein, für einen Neuanfang. Deshalb sind deine Großmutter und ich uns darin einig, dich heute gehen zu lassen. Wir werden dich um 21.30 Uhr dort abholen!” Onkel Phil zwinkerte mir zu und orderte währenddessen die nächste Runde Cocktails. Er fand zunehmen Gefallen an der Sache. “Viel Spaß!”, flüsterte er und zog mich zu sich. “Ein kleiner Hinweis: Um 21:30 Uhr ist Schluss. Keine Diskussionen, kein Gejammer. Sollte das klappen, dann haben wir später noch eine kleine Überraschung für euch!” Oha, Onkel Phil hatte also wieder einen Plan. Alles klar. Also war das heute Abend also eine Art Test. Kein Problem. Wir würden ihn bestehen.
Natürlich setzte ich Juli auf dem Weg zur Indoor-Arena ins Bild. Ihm war eh alles Recht. Der Indoor-Spielplatz war in einem der ehemaligen Frachträume untergebracht und deshalb vergleichsweise groß. Neben einer Ecke mit Spielkonsolen und diversen Spielautomaten gab es eine Kletterwand, zwei Trampoline, einen kleinen Bereich für Kleinkinder, ein Kletter-Labyrinth, einen Drohnenraum und eine Nerf-Battlezone. Für die musste man zwar kein bestimmtes Alter haben, dafür eine Mindestgröße. Und die schaffte ich mal so gerade eben. Juli überragte mich locker um 1,5 Köpfe und grinste, während ich in die prüfenden Augen der Mitarbeiterin sah, die den Eingang zur Battlezone “bewachte”. Also Hundeblick. “Okay, den Zentimeter schenke ich dir!”. Uff, geschafft. Dann noch mit den Schiffs-Armbändern bezahlen. 10 Euro für 60 Minuten. Ganz schön teuer. Aber der Tag war eh vorbei. Dann konnte ich die Kohle auch raushauen. Wenige Augenblicke später konnten wir eigentlich loslegen. Jeder hatte zwei Waffen vor sich liegen. Inklusive zwei Taschen voller Schaumstoffpfeil-Magazine. Einfache Plastikbrillen schützten unsere Augen. Die Mitarbeiterin des Indoor-Spielplatzes drückte uns noch jeweils ein paar Antirutsch-Socken in die Hand. Die waren vorgeschrieben. Schuhe waren im gesamten Spielebereich verboten. Und dann gab sie uns noch den Tip, möglichst viele warme Klamotten auszuziehen. “Hier, im Innenren des Schiffes, ist es immer ziemlich warm. Und wenn ihr nicht auf eurem eigenen Schweiß ausrutschen wollt, dann runter mit so vielen Klamotten wie möglich!” Ich zögerte. Klang alles vernünftig. Und es war wirklich ziemlich schwül hier drin. Also zog ich den Pullunder aus. Und das weiße Hemd. Das hätte die Aktion eh nicht unbeschadet überstanden. Sollte ich auch die Hose? Vor Juli in der Strumpfhose rumrennen? Das war praktisch und bequem, wollte aber nicht wirklich zu einem “Battlefield” passen. Fand ich. Juli sah’s anders. Auch er hatte sein steifes Hemd abgelegt. drunter trug er ein hellblau gestreiftes Unterhemd, das sich über seinen Bau spannte. Als Juli seine Cordhose nach unten zog, löste sich meine Anspannung. Keine Strumpfhose, aber eine lange hellblaue Unterhose mit breitem, besticktem Gummibund. Immerhin. Dazu trug er dunkelblaue, weißgeringelte Kniestrümpfe. Als Letztes flogen die braunen Bommelschuhe in hohem Bogen in eine der durchsichtigen Kunststoff-Kisten, in der man seine Sachen aufbewahren konnte. Ich nahm all meinen Mut zusammen und stieg aus meiner Hose. Die Kombination aus weißem Unterhemd (mit Supermann-Logo) und roter Sport-Strumpfhose war sicher nichts, mit dem man eigentlich in eine Schlacht ziehen sollte. Aber ich fühlte mich gleich viel leichter. “Heeeelden in Sssstrumpfhhhhosen”, lachte Juli. “Eigentlich bbbbbräuchten wir noch zwzwzwzwei Degen!” Quatsch nicht. Lass uns anfangen!
Parallel zogen wir uns die ABS-Socken an und suchten uns jeweils eine Deckung. 20:15 Uhr. Mit einem Blick auf die Uhr an der Wand rief Juli “Attacke” und wir legten los. Ich war schnell. Viel schneller als der nicht wirklich schlanke Juli, der mit seinem Gewicht und seiner Größe zu kämpfen hatte. Einen echten Vorteil brachte mir das aber nicht ein. Denn Juli glich die fehlende Beweglichkeit mit einer fast unheimlichen Zielgenauigkeit aus. Ich bezahlte jeden ungedeckten Zentimeter meines Körper mit einem Nerf-Pfeil, der genau dort einschlug. Wir waren also ungefähr gleich gut. Oder schlecht. Je nachdem. Im Endeffekt war es auch völlig wurscht. Ich hatte den Spaß meines Lebens. Wir waren die einzigen im Raum und hatten deshalb Platz und mussten auf Niemand Rücksicht nehmen. Wir kreischten lachten und brüllten ohne Hemmungen. Alles rauslassen. Auspowern. Die Realität vergessen. Es war wie ein Computerspiel. Nur 1000 Mal besser. Und 1000 Mal anstrengender. Ich schwitzte, wie noch nie in meinem Leben. Und auch Juli war klatschnass. Aber wir waren glücklich. Als ich mir gerade eine ganz gute Schussposition auf einem Kletterwürfel erarbeitet hatte und Juli von oben unter Feuer nehmen wollte, gab der plötzlich seine Deckung auf und ließ die Waffe sinken. Was war denn jetzt? Keine Munition mehr? Alles falsch. Juli zeigte auf die Uhr. Oha. 21:20 Uhr. Stimmt. Wir mussten ja unbedingt pünktlich vorne sein. Also Waffen abgeben und anziehen. So gut es ging. Wir mussten vor allen die nassen Sachen loswerden. Ich schälte mich aus Strumpfhose und Unterhemd und zog nur die ABS-Socken wieder an. Hemd drüber, Hose an. So sollte es gehen.Dann noch die Schuhe. Fertig. Juli tat es mir gleich. Und so standen wir um 21:28 am Eingang des Indoor-Spielplatzes. Knallrote Köpfe, Schweißperlen in den Haaren. Strahlende Augen. In dem Moment bogen Onkel Phil und die von Reifnitz-Dammgartens ums Eck. Onkel Phil grinste, Herr von Reinitz-Dammgarten nickte zufrieden. Nur Julis Oma war offensichtlich nicht ganz zufrieden mit dem etwas zerzausten Look ihres Enkels. Aber sorry Lady, wir hatten uns immerhin eine epische Schlacht geliefert! “Ich freue mich sehr, dass du dich ja doch an Absprachen halten kannst”, eröffnete Julis Opa das Gespräch. “Und deshalb werden wir morgen den nächsten Schritt gehen!” Aha. Und das sollte jetzt was bitte bedeuten? Onkel Phil sprang ein. “Jungs, wir haben uns lange unterhalten, während ihr euch offensichtlich ziemlich ausgepowert habt. Da das so gut geklappt hat, haben Herr und Frau von Reifnitz-Dammgarten nichts dagegen, wenn wir morgen zu dritt auf Tour gehen würden. Vorausgesetzt, ihr seht das genauso. Heißt: Ihr wärt’ morgen den ganzen Tag mit mir auf Helgoland. Deine Großeltern hätten endlich mal wieder einen Tag für sich, und ich hätte gleich zwei gelehrige Schüler, die ich mit meinem herausragenden biologischen, physikalischen und historischen Wissen beeindrucken könnte. Was sagt ihr?” Okay, die Frage war ein bisschen rhetorisch. Es war der Knaller! Onkel Phil war der Knaller. “Ein Hinweis in eigener Sache”, schloss Onkel Phil seinen Redebeitrag ab: “Das wird eine Exkursion, Freunde! Mit jeder Menge Schulstoff und schriftlichem Test am Abend. Fällt der gut aus, können wir über weitere gemeinsame Aktivitäten nachdenken. Aber halt auch nur dann!” Nicht nur Juli wusste, dass das ganz sicher nicht Onkel Phils Idee war. Spielte aber auch keine Rolle. Wir waren natürlich mehr als einverstanden. Wir klärten kurz ein paar organisatorische Fragen. Juli war nicht zu 100% auf Outdoor-Touren bei Schneeregen, 5 Grad und eisigem Wind vorbereitet. Wir würden also direkt nach dem Eintreffen auf der Hochsee-Insel ein bisschen einkaufen müssen. Und auch vom Zwiebel-Look hatten die Herrschaften noch nicht so viel gehört. Das war aber schnell besprochen. Nächster Halt: Frühstück um 7:30 Uhr.
Vorher steckte mich Onkel Phil aber noch in die Badewanne. “Und, glaubst du, du kriegst den Einstufungs-Test für die 7. hin, in knapp drei Wochen?”, fragte er mich durch die geschlossene Badezimmertür? Wie kam er denn jetzt darauf? Die Antwort konnte ich mir aber durchaus selbst geben. Wenn Juli und ich herausgefunden hatten, dass wir auf die gleiche Schule, eventuell sogar in die gleiche Klassenstufe gehen würden, dann wäre die Erwachsenen da sicher auf drauf gekommen. Worauf du dich verlassen kannst, antwortete ich durch eine Schaumwolke hindurch. Keine 20 Minuten später lag ich im Bett und tippte auf dem Laptop noch ein paar schnelle Zeilen an Mama. Onkel Phil steuerte ein Selfie von uns beiden bei, das wir auf dem Weg zum Essen gemacht hatten. Auch Onkel Phil war bei mir im Zimmer und stapelte die Ausrüstung für morgen auf dem unteren Bett. Ich schlief natürlich oben. “Soll ich ein paar Einlagen einpacken, oder willst du es morgen wieder ohne versuchen?”, fragte Onkel Phil. Ich zögerte nur kurz. Mist, daran hatte ich ja noch gar nicht gedacht. Ich bekam am Tag langsam wieder ein ganz gutes Gefühl für meine Blase. Von der Normalität war ich aber noch ein ganzes Stück entfernt. Im Fall der Fälle musste es nach wie vor schnell gehen. Sehr schnell. Also, doch eher mit Windel. Mal sehen, wie tolerant Juli wirklich war. Ich bat Onkel Phil also, drei Windeln einzupacken und sprang nochmal schnell aus dem Bett. “Was ist denn noch?”, fragte der etwas erstaunt? Ich tippte nur kurz auf meinen Po. Hab da was vergessen… Onkel Phil lachte. “Die Sache mit der Sekretärin müssen wir wirklich mal mit deiner Mutter besprechen!”.
Teil 5
Ich wurde wach, weil mir ein durchgeknallter Clownfisch nach dem Leben trachtete. Ich hatte mich in der Nacht unter das riesige rote Kissen in Fischform gewühlt und bekam entsprechend wenig Luft. So ein Themen-Schlafzimmer hatte also nicht nur Vorteile. Und den zum Kissen gehörenden Kino-Film fand ich noch nie so richtig gut. Immerhin hatte mir der Clownfisch-Überfall Zeit verschafft. Es war gerade mal 6:15 Uhr, eigentlich wollten wir erst in einer halben Stunde aufstehen. Ich kletterte aus dem Bett und nutzte die untere Koje als Leiter. Erst jetzt stellte sich heraus wie gut es war, dass ich gestern Abend doch noch eine Windel angezogen hatte. Die Einlage hing schwer und warm zwischen meinen Beinen. Ich hatte nach dem Nerf-Duell fast zwei Flaschen Wasser getrunken. Es fühlte sich fast so an, als sein nicht viel davon in mir drin geblieben. Ich griff nach dem Stapel Klamotten, mit denen ich zum Frühstück gehen wollte und tapste leise Richtung Schlafzimmer. Onkel Phil lag noch im Bett, hatte aber erst ein Auge geöffnet. Er hob die rechte Hand und formte das Victory-Zeichen. Okay, er würde auch nicht mehr lange brauchen.
Ich zog mir mein Schlafanzug-Oberteil über den Kopf und hatte sofort den Urin-Geruch in der Nase. Die Windel war wirklich knallvoll. Links war sie sogar ein bisschen ausgelaufen. Der Schlafanzug war also definitiv ein Fall für die Wäsche. Mit einem dumpfen “Pflatsch” viel die Windel zu Boden. Ich entsorgte sie umgehend in der Windelmülltüte. Weil ich Zeit hatte, gönnte ich mir eine ausgiebige Dusche. Anschließend war’s es so neblig in dem kleinen Bad, dass ich mich in meinem Zimmer anziehen wollte. Ich stieg also lediglich in eine Windel, zog sie hoch und marschierte mit den frischen Sachen zurück in mein privates Unterwasserparadies. Kurzes Abklatschen mit Onkel Phil, der verschlafen im Bad verschwand. Wie besprochen griff ich nach der Unterwäsche zur dicksten Strumpfhose, die ich im Bestand hatte. So ein grünes Frottee-Ding mit Fußbällen drauf. Fürs Frühstück musste ein dünnes Langarm-Shirt drüber erstmal reichen. Thermo-Jeans oder Jogginghose? Letzteres. Dann noch die Filz-Hausschuhe. Fertig. Im Bad plätscherte die Dusche. Onkel Phil war also noch eine Weile beschäftigt. Ich nutzte die Zeit, um meinen Rucksack mit der vorbereiteten Ausrüstung zu beladen. Wie immer lagen zwei Garnituren Kleidung parat. Zweimal Unterwäsche, zwei Strumpfhosen, zwei Shirts, zwei Pullover, zwei Hosen, ein paar Handschuhe, ein Schal und eine Mütze und eine Ersatzjacke. Dann kamen zwei Taschenlampen, ein Fernglas, eine kleine Klappschaufel, ein Mini-Stativ und die Digitalkamera, die Onkel Phil mir geliehen hatte. Obendrauf die weiße Tüte mit den Ersatzwindeln, den Feuchttüchern und einer kleinen Sprühflasche Desinfektionsmittel. Ich kontrollierte den Inhalt der Außentaschen: Erste-Hilfe-Set: Check. Wasserflasche: Check. Thermoskanne: Check. Schreibblock und Stift: Check. Fettcreme fürs Gesicht: Check. Von mir aus konnte es also losgehen.
Auf dem Weg zum Frühstück versuchte ich Onkel Phil zu entlocken, was heute alles auf dem Plan stand. Er zog es vor zu Schweigen. “Nochmal, Paul. Lass dich überraschen. Und egal was tut tust, tu es bitte leise! Mein heldenhafter Einsatz für unseren Ausflug hat mir einen ziemlichen Kater eingebracht!” Miau, maunzte ich und fing mir einen freundschaftlichen Klaps auf den Po ein. “Oh, so früh schon mit der Portion Extra-Schutz?”, neckte mich Onkel Phil. Hat mir meine Sekretärin so aufgeschrieben! Ich streckte ihm die Zunge raus und rannte ein paar Meter voraus. Ich hatte Hunger und war schließlich im Wachstum. Ich war trotz Sprint zwei Minuten zu spät. Und natürlich saß Juli mitsamt seinen Großeltern bereits gestriegelt und geschniegelt am Tisch. Juli trug einen dünnen dunkelbraunen Fleecepullover, darunter blitzte ein dunkelgrüner Rolli hervor. Jogginghosen gab es in seinem Kleiderschrank offensichtlich nicht, er trug statt dessen eine hellblaue Thermo-Stoffhose, die bei ihm aber eher saß, wie eine Leggins. Ich ging davon aus, dass er drunter wieder eine lange Unterhose gezogen hatte, in seinen Birkenstock-Hausschuhen sah ich dunkelgrüne Socken mit weißen Sternen. Er lachte, als er mich in den Speisesaal kommen sah. Bin ich so spät, fragte ich mit gespieltem Unwissen? “Zwei Mmmminuten”, grinste Juli und verdrehte dabei die Augen. “Aber keine Sorge, du wwwwärst auch vor sieben Mmmminuten nicht vor uns hier gewesen.” Statt sofort das Büffett zu stürmen, nahm ich erstmal artig Platz. Nur die Mission nicht gefährden. Onkel Phil war 45 Sekunden später bei uns und begrüßte die von Reifnitz-Dammgartens höflich. Die Frage, ob sie gut schlafen hätten, quittierte Juli Großmutter mit einem schiefen “Ja, ganz wunderbar”. Sie konnte also wirklich reden. Opa von Rednitz-Dammgarten hatte heute offensichtlich keine Sprechrolle. Akutes Cocktaileritis, vermutete ich. Dagegen sah Onkel Phil ja aus wie das blühende Leben. “Meine Großeltern haben bbbbbbereits á la carte bestellt. Aaaaaaber ich wwwwwürde gleich mit euch zum Bbbbbbüffet kommen, wenn dddddas okay ist!?” Oha, fiese Stotter-Attacke. Julis Opa guckte genervt. Logisch, antwortete ich schnell. Wollen wir? Und schon starteten wir in Richtung Verpflegungsstation. Ich sah noch aus dem Augenwinkel, wie Juli Opa einen Umschlag aus seiner Jacket-Tasche nahm und ihn Onkel Phil überreichte. Ich nahm an, das war da Geld für den kleinen Outdoorklamotten-Shoppingtrip, der gleich auf dem Programm stand.
Zurück am Tisch sah ein blinder mit Krückstock, warum Juli aussah wie eine hundert Jahre alte Eiche und ich wie ein altersschwacher Bonsai. Für mein Empfinden war mein Teller gut gefüllt. Ich liebte Obst in allen Variationen und hatte eine halbe Obstplantage dekorativ um ein wundervolles Birchermüsli drapiert. Juli war in Sachen Obst ebenfalls Experte. Allerdings vor allem darin, den Teller möglichst frei davon zu halten. Er hatte alles aufgetürmt, was sich am Büffet an Fleisch- und Wurtswaren hatte finden lassen. Dazu drei frische Vollkornbrötchen (dazu hatte ich ihn überredet), zwei Rühreier, gebratener Speck und eine große Tasse Kakao. Onkel Phil schluckte. Ich wusste genau, was kommen würde. Ernährungslehre. Die volle Dröhnung. Neben der Fotografiererei Onkel Phils Steckenpferd. Er wollte gerade loslegen, da schnippte ich den Salzstreuer vom Tisch. Hoppla, wie ungeschickt! Einem Reflex folgend beugte sich Onkel Phil wie beabsichtigt nach unten. Ich folgte ihm bat ihn flüsternd, die Standpauke zu verschieben. Auf keinen Fall die Mission gefährden! “Is ja gut”, zischte er. “Ich hab’s ja verstanden!” Und so verlief das Frühstück ohne weitere Zwischenfälle. Juli war noch drei Mal am Büffet und war dabei ziemlich sicher für das Verschwinden einer gesamten Familie Mastschweine verantwortlich. Wo stopfte der das alles hin? Wir verabredeten uns für 8:45 Uhr am Tor fünf, von wo um 9 Uhr das erste Boot nach Helgoland aufbrechen würde. In unserer Kabine arbeiteten wir routiniert unser Programm ab. Zähne putzen. Toilette. Eincremen. Die Windel konnte anbleiben, da noch pulvertrocken. In meinem Zimmer komplettierte ich dann den Zwiebellook. Über das weiße Langarm-Shirt kam ein dünner hellblauer Fleecepullover und ein grüner Kapuzenpulli. Nicht die schönste oder modernste Kombi die ich hatte, dafür aber mit die Wärmste. Dann ein Schal und zum Schluss den warmen Outdoor-Overall. Warme rote Fleece-Kniestrümpfe über die Strumpfhose, Gefütterte Gummistiefel, Mütze und Handschuhe. Fertig. Onkel Phil war praktisch gleichzeitig startklar. Mit dem Timing sollten wir uns im Fernsehen bewerben.
An Tor 5 war wenig los. Außer den von Reifnitz-Dammgartens (natürlich wieder überpünktlich), standen dort nur noch zwei Crewmitgleder und ein junges Paar, das offensichtlich zollfrei einkaufen wollte. Juli sah aus, wie ein etwas pummeliger Hochsee-Fischer. Sein rundes Gesicht kuckte aus einer blauroten Schlupfmütze hervor, drüber war eine gelbe Regenmütze gestülpt. Der Rest des dick eingepackten Körpers steckte in einer ebenso gelben Regenkombi. Lediglich die Schuhe machten den Eindruck, als seien sie auf den heutigen Tag vorbereitet. Riesige schwarze Gore-Tex-Boots. So etwas wie die Erwachsenen-Version meiner Alltagsschuhe aus des Kinderabteilung. Alles in allem hatten der Look vor allem einen Vorteil: Zur Not konnten wir die gelbe Gummi-Pelle als Rettungsboje verwenden. Wir begrüßten uns knapp und ich vermied es, Juli auf sein Outfit anzusprechen. Das übernahm er dann schon selbst. “Vvvvvorsicht, der Sumo-Kkkkkkanarienvogel ist heute ein bisschen schlecht gelaunt!”. Ein giftiger Seitenblick zu seiner Großmutter. Die war bereits im Gespräch mit Onkel Phil und erteilte Anweisung, wie mit “unserem Julian” umzugehen sei. Onkel Phil nickte pflichtbewusst und blickte flehend zu Tor 5, das sich aber erst fünf Minuten später pünktlich auf die Minute öffnete. Abgesehen von der Gischt und dem kalten, feuchten Wind der ins Schiff fuhr, war der Anblick atemberaubend. Die Insel ragte wie ein dunkelroter Fels aus der aufgepeitschten See und glänzte verschlafen im Morgenlicht. Keine Chance für die Sonne, durch diese Wolkenmassen zu dringen. Vor allem die Wellen, die an den Seiten der Insel gegen die Felsen brachen, flößten mir Respekt ein. Und Juli erging es nicht besser. Im Gegenteil. “A-a-a-a-l-l-l-tt-tttt-er ist ddd-dd-a-s krass!” Mit der Aufregung kam sein Stottern voll durch. Sofort litt ich mit ihm. Ich konnte mir vorstellen, wie SEHR man darunter in der Schule leiden konnte. Onkel Phil blieb cool und nutzte die Gelegenheit für Fotos. Wie immer. 30 Sekunden später tuckerte ein weißes altes Holzboot längsseits, mit dem man vor Helgoland traditionell vom Schiff zu Insel gebracht wurde. Davon hatte ich gelesen. Juli hatte aber offensichtlich nicht damit gerechnet, dass das auch bei diesem Wetter der Fall sein würde. Sein Blick verriet, was sich vor seinem inneren Auge abspielte. Wir drei, verschluckt von einer möderischen Monster-Welle. Er wurde steif vor Panik. Während die beiden Matrosen der MS Nordlicht das Boot mit sicherten, half die Besatzung der Nussschale ihren Passagieren ins Boot. Erst das Shopping-Pärchen. Dann Onkel Phil. Ich folgte ihm wenige Augenblicke später. Juli bewegte mich keinen Millimeter. Und würde es auch nicht tun. Er schüttelte still den Kopf. Tränen liefen ihm übers Gesicht, die sich mit Regen uns Salzwasser mischte. “Elender Feigling”, flüsterte er sich selbst zu. Plötzlich war Onkel Phil neben ihm und schirmte mit seinem Körper den Wind, den Regen, die Wellen und die Insel vor ihm ab. Er legte die Arme um Juli und flüsterte “Ich weiß, dass du Angst hast. Die habe ich jedes Mal, wenn ich bei diesem Wetter hier vom Schiff muss. Das ist völlig in Ordnung. Das einzige was zählt ist, dass du mir zuhörst. Und mir vertraust. Schaffst du das?” Juli nickte. Und bevor er noch Zeit hatte zu reagieren, war es auch schon vorbei. Onkel Phil griff um ihn herum und hievte ihn aufs Boot. Dort klammerte sich Juli reflexartig am nächstbesten Haltegriff fest fest und saß einen Wimpernschlag später neben mir. Juli zitterte. Aber nicht vor Kälte. Vor Wut. Vor Scham. Ich sagte nichts, sondern legte einfach ganz kurz meinen Arm um ihn. Drückte kurz und hatte auch schon wieder alle Gliedmaßen bei mir. Eine winzige Geste nur, die ihm aber offensichtlich half. Ich hatte sein Verzweiflung gespürt. Fühlte mit ihm, satt diese Schwäche auszunutzen. “Fffffahr diesen Sssssscheißkahn endlich rrrrrrüber!”, presste Juli zwischen seinen kalkweißen Lippen hervor. “Dann haben wir den Mmmmmmist endlich hinter uns!” Es dauerte nur knapp 10 Minuten, bis wir festen Boden unter den Füßen hatten. Gefühlt waren wir aber eine Stunde unterwegs. Um das Drama beim Einstieg bei der Ankunft am Hafen nicht zu wiederholen, nahm ich Juli diesmal an der Hand. Los, auf drei zählte ich und zog ihn schwungvoll vom Boot. Geschafft. Juli hatte überlebt. Mit der Hilfe von Freunden war die Sache gar nicht so schwer. Onkel Phil zog uns in ein kleines Wartehäuschen, wo es zwar nicht warm, aber trocken und windstill war. “Jungs, kurz ein paar Grundregeln für heute. Die sind vor allem für dich wichtig, Juli. Paul kennt das alles schon.” Den Rest kannte ich wirklich fast auswendig. Zusammen bleiben. Füreinander dasein. Sein Wort war Gesetz. Vor allem bei Aktivitäten, die nicht ganz ungefährlich waren. Keine Heldentaten. Wer Angst hatte, frohr, Hunger hatte oder Durst musste das unbedingt sagen! “Und, ganz wichtig: Wir haben Spaß. Und werden dabei jede Menge lernen, das verspreche ich euch! Juli, wieder alles gut bei dir?” Er nickte. Dafür hatte ich was zu sagen und nahm dafür all meinen Mut zusammen. Ich bräuchte bald eine frische Windel!. Stille. Selbst Onkel Phil war kurz überrascht und bracht nur ein “Jetzt schon?” hervor. Wieder ein Nicken. Ich hatte auf dem Boot, zwischen Julis Panik und der absoluten Faszination der rauen Überfahrt irgendwie die Kontrolle verloren, war einfach zwischen dem Wind und den Wellen abgedriftet. Ich liebte das Meer, dieses Wetter, diese Freiheit. Da blieb die Selbstbeherrschung einfach auf der Strecke. “Kein Problem. Bis zum Outdoor-Laden sind es nur 500 Meter. Da kannst du dich frisch machen!”. Juli hatte noch immer die Augen weit aufgerissen. Das war’s dann wohl. Er würde über mich herfallen. Hast du damit ein Problem? Giftete ich ihn an. Angriff war die beste Verteidigung. Besser wir klärten wir das jetzt, dann war es wenigsten vorbei, bevor es richtig begonnen hatte. “Halt die Klappe Paul!”, fuhr mir Onkel Phil in die Parade. Er erklärte Juli in knappen Worten, was es mit der Sache auf sich hatte. Blasenentzündung, Medikamente, Einlagen. Windeln. Ich war aber immernoch auf Krawall gebürstet, auch wenn ich selbst nicht wusste, warum. Die Scheißdinger heißen Windeln! Und in eine davon habe ich auf dem Boot gerade reingepinkelt. Noch Fragen? “Ja, eieieieine”, meldete sich Juli kleinlaut. “Hätte vvvvvon eeeeeeeuch jjjjjjemand ein Pppppproblem damit, wenn ich am Dddddddaumen nuckeln würde?” Verarschst du mich jetzt? “Nö.” Und schon zog er seinen linken Handschuh aus und hielt seinen Daumen in den Wind. Ein Daumen halt. Erst, als er seinen rechten Daumen daneben hielt, erkannte man den Unterschied. Der Linke war leicht geschwollen und um den Fingernagel leicht gerötet. Irgendwie sah er benutzter aus, als sein Kollege an der rechten Hand. Schau mal an, auch Juli hatte also ein Geheimnis. “Ich hab damit angefangen, als meine Mutter starb”. Am Anfang hab ich alte Schnuller benutzt. Seitdem ich bei meinen Großeltern lebe, ist das aber streng verboten. Also nuckel ich am Daumen. Vor allem, wenn ich müde oder unsicher bin!” Damit war alles gesagt. Es war ein … gutes Gefühl. Weil Juli einfach ein guter Typ war. Statt mich wegen der Windeln aufzuziehen, hatte er sein Geheimnis mit uns geteilt. Einfach so. Alter, was sind wir für eine schrille Kombination: Ein vorlauter Windelzwerg und ein Sumo-Kanarienvogel, der am Daumen lutscht. “Jungs, ich will diese herzzerreißende Szene jugendlicher Offenheit ja nur ungern stören”, meldete sich Onkel Phil zu Wort. “Aber wollt ihr euch eure Geheimnisse nicht an einem Ort beichten, an dem es warm und trocken ist? Sehr witzig, Onkelchen. “Außerdem muss Juli aus diese Gummihülle raus. Die hält zwar trocken, funktioniert aber wie ein Dampfkochtopf. Ich bin mir sicher, du schwitzt gerade wie ein Würstchen auf dem Grill!?” Juli nickte. Also Abmarsch, Richtung Northwind, einem Spezialgeschäft für Outdoor-Kleidung.
Spezialgeschäft? Ich hatte gedacht, auf dieser kleinen Insel ist kein Laden größer als eine Telefonzelle. Und jetzt sowas. Ein nagelneuer, hell erleuchteter Glaspalast. Fünf Etagen feinste Outdoor-Ware. “Die meisten Fotos im Katalog sind vor mir”, erklärte Onkel Phil beiläufig. Deshalb kannte er sich also hier so gut aus. Ein Aufzug, der innen aussah wie ein Birkenwald, brachte uns in den 3. Stock. Hiking und Treckking. Kinderabteilung hinten links. Wir stellten unsere Rucksäcke in einer kleinen Berghütte ab, die als Loungebereich funktionierte. Während wir auf einen Verkäufer warteten, versuchte sich Onkel Phil mit Juli darauf zu einigen, was er denn überhaupt bräuchte. Leute, es war ein Drama. Juli wollte unbedingt so eine Kombi, wie Onkel Phil sie trug. Theoretisch kein Problem. Allerdings war sein Körperbau nicht so richtig dafür geeignet. Das Problem waren die Hosen. Um am Bauch zu passen, müsste die größte Größe her. Und die wäre dann viel zu lang. Juli schaltete auf stur. “Vvvvvergesst es. Ich wwwwwerden keinen Oooooverall anziehen! Da sssseh ich ja aus wie ein Klklklklkleinkind!” Danke, lieber Kanarienvogel, ätzte ich zurück. “Ist ddddoch war”, maulte er. Was bist du, fragte ich? Eine Prinzessin, oder was? “Ach, Mann. Ooookay. Ich ppppprobiere einfach an, wwwwwas der Vvvvverkäufer mir bringt. Deal?” Bitte, geht doch. A propos Verkäufer. Wo blieb der eigentlich? “Ich kann jemanden rufen”, erklärte Onkel Phil. “Ich denke aber nicht, dass wir wirklich jemanden brauchen. Wie gesagt, ich kenne mich hier aus. Und unten wissen sie Bescheid, dass wir hier oben sind!” Auch gut. Hauptsache, wir kommen mal zu Potte!
“Zieht euch bitte erstmal die warmen Sachen aus. Bringt ja nichts, wenn wir hier langsam schmelzen!” Alles klar.Ich hatte den Trick mit dem Reißverschluss inzwischen drauf und war den Overall keine zehn Sekunden später los. Jetzt noch den grünen Pulli aus und schon war’s viel angenehmer. Okay, mit dem hellblauen Fleece zur grünen Fußball-Strumpfhose, unter der sich die Windel abzeichnete würde ich maximal bei einer Freakshow was reißen können. Aber es hätte schlimmer kommen können. Wie bei Juli, zum Beispiel. Der schälte sich ächzend aus den Gummiklamotten. Unter der gelben Hülle kam die erste Zwiebelschicht zum Vorschein: Ein grüne Stoffhose und ein gestrickter Wollpulli. Rot, mit braunen Streifen. “Runter damit”, übernahm Onkel Phil das Kommando. Jetzt sah man die Bescherung. Der weiße Rolli war klatschnass. Genauso wie die lange Thermo-Unterhose, die Juli trug. Ja selbst seine roten Kniestrümpfe mit den weißen Sternen waren schon dunkel vor Feuchtigkeit. “Wusste ich es doch”, kommentierte Onkel Phil. “Deine Großeltern haben es nicht so mit zuhören, oder?” Juli verdrehte nur die Augen. “Okay. Du musst komplett aus den Sachen raus. Sonst holst du dir nachher den Tod!” Juli wurde auf einen Schlag knallrot und verkündete trotzig, dass er sich ganz sicher nicht hier auf offener Fläche ausziehen würde. “Sollst du ja auch gar nicht!”, kommentierte Onkel Phil ruhig. “Da hinten gibt es große Kabinen. Da bist du ungestört. Wo ist deine Wechselwäsche?” Juli deutete auf seinen erstaunlich kleinen Rucksack. “Da ist aber außer einer Hose, einem Pullover und frischer Unterwäsche nicht viel drin. Oma und Opa meinten, das würde schon reichen!” Ich hatte Onkel Phil selten so genervt erlebt. “Okay, kriegen wir trotzdem hin. Paul, du hast doch die gelbe Strumpfhose eingepackt, die dir eigentlich zu groß ist?” Ja, hatte ich. Notfall-Set 2. “Gut. Die kann Juli sicher haben, oder?” Klar. Wenn ich mir sein Gesicht ansah war ich mir aber nicht so ganz sicher, ob er sie wirklich haben wollte. “Gut. Außerdem brauchen wir dann noch ein Paar deiner Ersatz-Strümpfe.” Auch kein Problem. Ringel-Kniestrümpfe in blau/weiß/rot/grün. “Bitte, geht doch. Einen frischen Rolli kriegen wir hier. Und schon wäre Juli wieder komplett!” Denkste. Denn Juli war schon wieder bockig. “Ich kann ddddoch so nicht rrrrumlaufen!”, jammerte er. “Nicht mein Problem”, ließ in Onkel Phil ins Leere laufen. “Du hast zwei Optionen. Erstens: Du machst das Beste draus und wir sind in ein paar Minuten hier raus und auf dem Weg zum ersten Programmpunkt. Zweitens: Du fährst zurück aufs Schiff. Bitte entscheide dich jetzt!” Wieder wurde Juli rot. Ich wusste genau, was in ihm vorging. Er war überfordert und sauer. Auf sich selbst und die Situation. Er wollte sofort jemanden haben, der die Entscheidung für ihn übernahm. Der kam aber natürlich nicht. “Ggggib her den Scheiß”, presste er zwischen den Lippen hervor und stapfte Richtung Umkleidekabine. “Na bitte, geht doch!”, schnaufte Onkel Phil. Ich wollte auch gerade etwas geistreiches von mir geben, da bekam auch ich mein Fett weg. “Paul, Abmarsch!” Wohin denn, bitte? Wieder rollte Onkel Phil mit den Augen und zeigte in einer fließenden Handbewegung erst auf meinen Hintern, dann auf das Toilettenschild hinter unserer Ski-Sitzhütte. Oh. Stimmt. Da war doch was. Ich holte die Stofftasche aus dem Rucksack und schlich nach hinten. In einer großen Toilettenkabine schloss ich mich ein. Es roch frisch, wahrscheinlich waren die Klos heute früh gereinigt worden. Ich legte eine frische Windel und die Feuchttücher bereit und breitete das Handtuch auf dem Boden aus. Dann Schuhe, Kniestrümpfe, Strumpfhose und Unterhose ausziehen. Anschließend riss ich die Bündchen der Windel auf und ließ sie zu Boden fallen. Das charakteristische “Pflatsch” blieb aus. Es war gar nicht so viel in die Hose gegangen, wie ich befürchtet hatte. Und es gab noch eine gute Nachricht. Bevor ich es nicht mehr halten konnte, hatte ich mindestens drei Minuten mit meiner Blase gekämpft. Ich bekam die Kontrolle also zurück. Zwar in Zeitlupe. Aber es wurde besser. Alleine dieser winzige Erfolg machte mich gerade euphorisch. Ich reinigte mich gründlich mit ein paar Feuchttüchern und rollte Windeln und die gebrauchten Tücher zu einem kompakten Klumpen. Anschließend zog ich eine frische Windel und meine Kleider wieder an. Fertig. Keine fünf Minuten. Auf dem Weg nach vorne entsorgte ich das Windelpaket im Mülleimer und wusch mir die Hände. Dann setzte ich mich neben die Hütte auf einen künstlichen kleinen Hügel, der mit Kunstrasen bespannt war. Gar nicht mal so unbequem. Und man hatte einen tollen Blick. In diesem Moment kam Juli aus der Kabine. Ein frischer trockener Rollkragen-Pullover verhüllte seinen Oberkörper. Drunter trug er in der Tat meine gelbe Strumpfhose und die Kniestrümpfe. Beides war mir zwei Nummern zu groß, Juli passte die Kombi perfekt. Er sah sich unsicher um und setzte sich auf einen Holzstumpf, der als Hocker diente, um dort auf Onkel Phil zu warten. Dass er dabei sofort seinen Daumen in den Mund schob, bekam er offensichtlich gar nicht mit. Faszinierend. “Kann losgehen”, ertönte Onkel Phils Stimme, bevor er mit einem riesigen Stapel Klamotten zwischen den Kleiderständern hervorkam. Juli erschrak und ließ seine Hand schnell hinter seinem Rücken verschwinden. Ich lehnte mich zurück und nippte an der Wasserflasche, die ich aus meinem Rucksack geangelt hatte. Die Auswahl um mich herum war riesig. Die Wand schräg vor mir war voll mit Skiunterwäsche und Sportunterhosen. Vom gleichen Hersteller, von dem auch meine rote Strumpfhose stammte. Ich rutschte mein Gras-Sofa hinunter und sah mir die unterschiedlichen Muster genauer an. 134 bis 140. In genau meiner Größe schien es noch die größte Auswahl zu geben. Manchmal war es auch ganz gut, klein zu sein. Ich wühlte mich durchs Angebot. Shopping stand zwar erst in Schweden auf dem Programm, aber vielleicht hatte Onkel Phil ja nichts dagegen, wenn ich mir jetzt schon ein paar Sachen aussuchte. Also, welche würde ich nehmen, wenn ich dir freie Wahl hätte? Fest stand, dass ich keine Lust mehr auf Blau oder Schwarz hatte. Dieser Gedeckte-Farben-Tick meiner Mama war zum Glück weit weg. Und so warf ich mir eine weitere einfarbige rote Strumpfhose über den Unterarm. Gefolgt von einem Set aus zwei blauen Frottee-Strumfhosen mit modernem breiten Gummibund. Eine hellblau, die andere dunkelblau mit weißen Eiskristallen. Grün durfte auch nicht fehlen. Ich war Werder-Bremen-Fan, rechnete aber nicht im Traum damit, dass sie mit dem Logo meines Lieblingsvereins auch Strumpfhosen bedruckten. Taten sie aber. 146. Bisschen groß. Macht aber nix. Dafür war das Teil im Sonderangebot. Nicht weiter verwunderlich, bei dem miesen Abschneiden in der abgelaufenen Saison. Ebenfalls aus dem Reduziert-Stapel zog ich eine graublaue Strumpfhose mit hellblauen Akzenten an Ferse und Zehen. Das sah lustig aus. Und auf dem Po war tatsächlich ein Superman-Logo. Hammer! Mein Superman-Tick hatte meine Mama schon mehrfach an den Rand des Wahnsinns getrieben. Die Original-Comics durfte ich lange nicht lesen und im Fernsehen hatte ich nur die Chance Superman zu kucken, wenn ich bei Onkel Phil war. Zwei Supermann-Strumpfhosen waren noch da. Beide mussten mit, das stand für mich außer Frage. Zum Abschluss angelte ich mir noch zwei dicke lange Thermo-Leggings. Eine weiß mit dünnen hellblauen Streifen und eine in Giftgrün mit weißen Sternen. Wenn Onkel Phil mir grünes Licht gab, kam ich damit locker über den Winter. Und den nächsten. Ich marschierte also mit meiner Beute in Richtung der Umkleidekabinen und traf genau zu dem Zeitpunkt dort ein, als Juli mit dem gleichen Thermooverall aus einer der Kabinen kam, den ich auch hatte. Nur war Julis Overall mit grünen Streifen verziert, bei mir waren sie blau. Hey, das sieht gut aus, meine ich. Und das war ernst gemeint. Juli verzog genervt das Gesicht. Was war denn jetzt schon wieder los? “Alles gut”, lachte Onkel Phil. Dein Freund hat das Teil jetzt zum dritten Mal an und zum dritten Mal passt es wie angegossen. Ganz anders übrigens, als die 25 anderen Teile, die er anprobiert hat!” Oh. Für mich sah das so aus, als hätte Juli wirklich jedes Outdoor-Teil angehabt, das im Laden in 158 verfügbar war. “Ich gggggeh nochmal rein und schau mich im Spspspspsiegel an”, quengelte Juli. “Das wäre dann das vierte Mal”, kam von Onkel Phil. “Egal. Und was hast du Schönes?” Ich zeigte ihm meine Ausbeute an warmer Unterwäsche und erntete ein anerkennendes Lächeln. “Wir nehmen alle!” Wie jetzt, alle? Hatte er echt alle gesagt? Warum? “Weil ich es großartig finde, dass du dir das alles selbst ausgesucht hast. Ich denke, ich hätte mich ähnlich entschieden. Auch wenn ich es auf meine alten Tage nicht ganz so bunt mag! Zu dir passt das aber super!” Das Lob ging runter wie Öl. “He, warum muss ich eigentlich so einen gggggelben Ffffetzen tragen, wenn’s hier auch Sssssstrumpfhosen mit Superman-Logo gibt?” Juli war plötzlich aufgetaucht und zeigte auf meinen Einkauf. “Ruhig, Brauner. Tu dir keinen Zwang an!” Julis Experimentierfreude war für heute aber mehr als erschöpft. Er hatte sich wirklich durchgerungen, den Overall zu nehmen. “Dann können wir ja endlich los!” Der Rest ging vergleichsweise schnell. Während Onkel Phil mit Juli und meinen Einkäufen nach unten fuhr, packte ich oben unsere Rucksäcke wieder zusammen, zog meinen Overall, den grünen Pullover und die Stiefel wieder an und kam mit Sack und Pack nach unten. Perfektes Timing. Die beiden waren gerade fertig. Juli stieg in seinen neuen Overall und bekam anschließend von Onkel Phil noch den Trick mit dem versteckten Reißverschluss gezeigt. “So eine Art Notentriegelung. Immer dann besonders praktisch, wenn’s mal schnell gehen muss. Teste das System lieber kurz hier. Wenn du das nicht wirklich drauf hast, solltest du dir von Paul besser eine Windel ausleihen.” Der war nicht schlecht, fand ich. Juli aber wurde knallrot im Gesicht und experimentierte gewissenhaft mit dem Schnellverschluss.
Teil 6
Der Wechsel in die Kälte war brutal. Trotz Funktionskleidung. Wir marschierten in hohem Tempo durch die noch ziemlich verlassene Fußgängerzone des Unterlands. Zu dieser Jahreszeit war vor Mittag nichts los. “Da müssen wir hoch”, erklärte Onkel viel, als wir an einer steilen Wand ankamen, die plötzlich vor uns aufragte. Juli steuerte Richtung Aufzug, doch Onkel Phil schob ihn zu den Treppen. Nix da. Wir laufen. Und Rechnen. Wichtig: Stufen zählen. Ich will anschließend von euch wissen, wie hoch wir da oben sind. Wer richtig liegt, darf sich später als Erster abseilen. Absei… was? Was hatte mein verrückter Onkel vor? “Ach ja. Und wer als Erster oben ist, bekommt dieses wundervolle Packung Weingummis.” Dieser miese Kerl. Für Weingummis würde ich alles zählen. Auch die Sandkörner in der Sahara. Ich sprintete los. Juli brauchte nur einen Wimpernschlag länger, um zu starten. Ich war kleiner und leichter, aber Juli war trotzdem immer ganz nach an mir dran. Woher hatte der Kerl nur seine Energie. Ich zählte leise, Juli laut. Und das brachte mich aus dem Konzept. Ich war zwar als Erster oben, hatte aber irgendwo bei 276 Stufen aufhören müssen, zu zählen. Ein paar Minuten später kam Onkel Phil oben an. Mit der Ruhe eines Faultiers setzte er sich neben uns auf die gemauerte Treppenumrandung. “Und, wie sieht’s aus?” Juli zeigte auf mich. “Sssseine Wwwwwweingggggummis. Aber ich sssssseiiile mich ab!” Aufregung und Anstrengung. Ihm machte also beides zu schaffen. “Super, Juli. Kleiner Tip: Sprich mal nur beim Einatmen!” Was sollte das denm bringen? Juli legte los. Weil niemand beim Einatmen spricht, klang das sehr gewöhnungsbedürftig. Aber es kam stotterfrei. Krass. Juli bekam vor Verwunderung den Mund nicht zu. “Alter Trick”, erklärte Onkel Phil. Leider nicht ganz praxistauglich. Ich hab aber noch ein paar andere Techniken, die du ausprobieren kannst. “Wwwwwoher wwwwissen SIsssse das?”, fragte Juli aufgeregt, der jetzt wieder richtig atmete. “Ich war 8 Jahre in Behandlung. Bei einem Sprechtrainer. Mein Stottern war noch einen Tick schlimmer als bei dir, Juli!” Jetzt waren wir beide baff. Ich hatte keine Ahnung. “Jungs, es ist nicht wichtig, dass die ganze Welt von Problemen erfährt, die man hat. Es kommt nur darauf, dass man selbst die notwendigen Schritte unternimmt, sie zu lösen! Das ist bei der Blasenentzündung so, Paul. Und bei deinem Stottern nicht anders, Juli! So. Und jetzt Ende der Ansage! Also Juli, wie viele Treppen? Und wie hoch sind wir? Kleiner Tipp: Die Stufen sind 17,5 Zentimeter hoch!” Juli kniff die Augen zusammen. “314 Stufen. Das sind also … 53 Meter!”. Hatte der einen Taschenrechner im Kopf? Ich hatte noch nichtmal den Rechenweg raus. War aber auch vielleicht gar nicht nötig. Ich grinste und antwortete schneller als Onkel Phil. Falsch. Es sind genau 54,9 Meter. Stille auf der Treppe. “Äh ja, das stimmt!”, nickte Onkel Phil anerkennend. “Aber seit wann stehst du denn bitte mit Zahlen nicht mehr auf dem Kriegsfuß?” Oh, keine Sorge. Ich hab keinen Plan von der Sache. Aber ich kann lesen. Gleichzeitig zeigte ich mit dem Finger auf eine kleine Messingtafel hinter Juli. Da stand tatsächlich, dass sich das Helgoländer Oberland an dieser Stelle 54,9 Meter über dem Meeresspiegel befand. Tschakka! Juli schmollte. Onkel Phil grinste. “Okay, 2:0 für den vorlauten Zwerg. Das Kampfgericht verfügt allerdings, dass du eigentlich geschummelt hast und der Punkt deshalb Juli zugesprochen wird. Weil du aber deine Tat gestanden hast, darfst du jetzt die Weingummis mit uns teilen!” Das hatte ich nun davon. Natürlich hätte ich so oder so mit allen geteilt. Und mampften Juli und ich auf dem Weg zum Helgoländer Oberland genüsslich eine Packung Weingummis weg, während Onkel Phil von Mathematik zu Geschichte wechselte. Die nähere Historie Helgolands ab dem zweiten Weltkrieg. Schwer vorstellbar, was die Insel alles mitgemacht hatte. Weder Juli noch ich hatten in der Schule jemals davon gehört, dass Helgoland nach dem zweiten Weltkrieg lange als Übungsziel für Bombenabwürfe benutzt wurde und dann komplett in die Luft gesprengt werden sollte. Das ging schief. Die Sprengung und die Bomben aus der Luft sorgten aber dafür, dass die Insel ihre Form veränderte. Wie stark, das konnten wir jetzt auf dem Oberland sehen. Vor uns lag das so genannte Oberland. Links ein niedriger Backsteinturm, ansonsten Wege, Gras und Löcher. Überall Löcher. “Krater!”, erklärte Onkel Phil. “Helgoland gleicht hier oben einem Schweizer Käse!” Die Umschreibung passte. Und schon waren wir Mitten in einer Physikstunde. Wir diskutierten über die Rolle der Alliierten beim Umgang mit der Insel. Und darüber, warum so ein Stück Fels im Meer eine so wechselhafte Geschichte haben konnte. Phil interessierte sich darüber hinaus dafür, was genau bei der Sprengung passierte. “Wie kann man denn … eine … ganze Insel sprengen?” Er hatte wieder beim EInatmen gesprochen. Stotterfrei. Klang aber halt immernoch schräg. “Gar nicht”, antwortete Onkel Phil. “Obwohl es die größte, nicht-nukleare Sprengung nach dem Krieg war, hat es nicht geklappt. Das Thema ist spannend für euch, ich weiß. Deshalb treffen wir gleich jemand, der sich damit besser auskennt, als jeder andere!” Wir waren mittlerweile am linken Rand der Insel angekommen. Dort, in einem der Krater, saß ein älterer Herr in einem dunklen Allwetteranzug, über den er eine gelbe Warnweste gezogen hatte. Onkel Phil bog in den Krater ab und umarmte den Mann überschwänglich. Der Wind kam in Böen, deshalb drangen nur Wortfetzen zu uns herüber. “… gklappt… lange… unbedingt … wird … nicht ohne… natürlich”. Schließlich schlenderten die beiden gemütlch auf uns zu. “Darf ich euch Prof. Dr. Feingerb vorstellen!”, bracht Onkel Phil das Schweigen. “Er ist Geologe und lebt und arbeitet hier auf der Insel. Ich kenne ihn von den Arbeiten an einem Bildband, den ich mal über Helgoland gemacht habe!” Der Professor begrüßte uns. Ruhige Stimme, kleine Augen. Das Gesicht von Wind und Wetter gezeichnet. Ein durch und durch freundlichen Gesicht. Sehr tiefe Stimme. “Seid ihr bereit, euch die Insel von Innen anzusehen?” Schweigen. Dann Onkel Phil: “Die beiden wissen noch nicht, was kommt!”. Das habe er sich schon gedacht, meinte Professor Feingerb. “Wir werden gleich über eine alten Tunnel, der früher zu einem Bunker gehörte, ein Stück weit ins Innere der Insel hinabsteigen. Dorthin, wie Sprengung damals nicht die erhoffte Wirkung hatte, weil die Sprengkraft durch das poröse Gestein zur Seite aus der Insel drang. Der entstandene Hohlraum soll künftig für Touristen zugänglich gemacht werden. Inklusive eines kleinen Museums. Ich überwache dir Arbeiten.” Wie cool war dass denn bitte? “Llllii —. Lllll.” Juli wollte etwas fragen. Brachte aber vor Aufregung kein Wort heraus. Ich tippte ihn sanft an der Schulter an. Atmen, flüsterte ich. Juli schnaufte verzweifelt. In seinen Augen konnte ich Tränen sehen. Er konzentrierte sich. “Liegen denn da unten noch Bomben?” Jetzt war’s raus. Onkel Phil lächelte zufrieden. “Natürlich nicht. Was von den Sprengmitteln übrig war, wurde längst entsorgt, bzw. im Meer versenkt!”, erklärte der Professor. “Trotzdem wird es gleich nicht ganz ungefährlich. Der Zugang zur Hauptkammer ist noch nicht ganz fertig. Wir werden uns ein Stück abseilen müssen!” Ha! Das war es also gewesen, was Onkel Phil angedeutet hatte. Ich dachte an unseren Bunker-Ausflug auf Sylt zurück. Und spürte die Angst hochkommen. Unbewusst tastete ich mit einer Hand an meiner Hüfte entlang. Dort, wo die Windel saß. Noch alles trocken. Und bislang deutete nichts darauf hin, dass sich das bald ändern könnte. Cool bleiben, Paul.
Das blieb ich tatsächlich. Sowohl auf der dunklen, aber offensichtlich frisch gegossenen Betontreppe, die unter einer unauffälligen grünen Metallabdeckung in die Tiefe führte, als auch in dem Teil der Anlage, die der ehemalige Bunker war. Die Dinger sind immer gruselig. Aber wenigstens war’s hier hell. Kleine LED-Lichtleisten tauchten den gesamten unterirdischen Komplex in ein helles, kaltes Licht. “Bitte bleibt unbedingt hinter mir!”, erklärte Prof. Feingerb. “Wir können das hier nur machen, wenn ihr euch in jedem Fall exakt an meine Anweisungen haltet!” Ich nickte gewissenhaft. Juli ebenfalls. Wir hatten längst bemerkt, dass überall noch lose Kabel von den Decken hingen, Metallteile hervorstanden und jede Menge Schutt und Baumaterial herumlag. Im Gänsemarsch zogen wir weiter. Der Professor, Juli, ich und zum Schluss Onkel Phil. Wir durchquerten zwei weitere Betonhallen, bevor sich das Material der Wände änderte. Statt grauem Beton, jetzt rötlicher Kalksandstein. “Wir sind jetzt im Felsen, aus dem die Insel besteht”, führte der Professor aus. Noch ein paar Meter weiter, dann öffnete sich unter uns eine große, steinerne Halle. Der Boden gut 25 Meter unter uns. Ich schluckte. Scheiße, war das tief. “Später werden die Besucher über eine Rampe nach unten kommen. Wir müssen jetzt aber hiermit arbeiten”, fuhr der Professor fort und zeigte auf ein Gewirr aus Kletterseilen, Haken und Karabinern, die von der Decke der großen Halle baumelten.Juli strahlte. Und ich war plötzlich froh, das er den Anfang machen würde.
Jetzt übernahm wieder Onkel Phil. “Der Professor wird sich jetzt abseilen und unten alles vorbereiten. Ich gurte euch inzwischen an und weise euch ein. Cool bleiben, das ist eigentlich wirklich sehr einfach. Es fühlt sich beim ersten Mal nur sehr ungewohnt an!” Und dann folgten 10 Minuten Schnelleinweisung in Sachen Abseilen. Helm aussuchen, inklusive. Der Professor stand zwischenzeitlich waagerecht in der Wand, winkte uns kurz zu und verschwand dann mit einem Affenzahn in der Tiefe. Ich spähte über den Rand und sah gerade noch, wie er unten ankam und die Seile aushakte. “Alles klar hier unten!”, tönte es aus der Ferne. “Perfekt”, meinte Onkel Phil und begann, Juli in sein Abseilgeschirr zu helfen. “Egal was du machst”, schärfte er Juli ein, “Finger weg vom Klettergeschirr!” Juli nickte konzentriert, während Onkel Phil die Gurte stramm zog. Juli stöhnte. “Das ist aber ganz schon eng im Schritt!” Onkel Phil grinste. “Wenn du in der Wand hängst, bekommst du davon nichts mit! Kann’s losgehen?” Juli hob den Daumen. Alles klar. Ich bewunderte ihn. Hatte er denn gar keine Angst? Nichts deutete darauf hin. Er folgte millimetergenau den Anweisungen, die Onkel Phil im gab und stand, ähnlich wie der Professor, zwei Minuten später waagrecht in der Wand. “Alter, ist das krass. Unfassbar!” juchzte er. “Konzentriere dich jetzt bitte, Juli!”, ermahnte ihn Onkel Phil. “Wie besprochen lässt du jetzt das Seil in kleinen Schüben locker und gehst rückwärts die Wand runter. Erst in kleinen Trippelschritten, später dann gerne schneller!” Schon nach wenigen Schritten zündete Juli den Turbo und rannte die Wand fast runter. Ein Naturtalent. Ich konnte mich nur noch blamieren. Und in der Tat dauerte es fast doppelt so lange, bis mich der Professor unten endlich in Empfang nehmen konnte. Immerhin hatte ich weder gejammert, noch geheult. Ich war äußerlich tapfer geblieben und war Schritt für Schritt nach unten getapst. Meine Gefühle fuhren Achterbahn. Es war großartig. Und gleichzeitig das beängstigendste, was ich jemals erlebt hatte. Wie immer in letzter Zeit, ging so ein Adrenalin-Chaos nicht spurlos an mir vorbei. Oder besser gesagt, an der Windel. Bereits bei einem der ersten Schritte spürte ich, wie ich die Kontrolle über meine Blase verlor. Ich hatte mich zwar schnell wieder im Griff, ohne Windel müsste ich mich jetzt umziehen. Die gute Nachricht: Ich hatte es wirklich geschafft, die Windeln nicht komplett einzusauen. Welcome back, liebes Körpergefühl.
Begleitet von einem schrillen Surren stand plötzlich Onkel Phil vor mir. Er war kopfüber die Wand … ja was … heruntergesprungen. “Poser”, kommentierte der Professor nur. “Muss manchmal sein!”, entschuldigte sich Onkel Phil. “Na, hat’s Spaß gemacht?” Juli war kaum zu bremsen, brachte vor lauter Stottern aber kein Wort heraus. Ich zeigt Onkel Phil den ausgestreckten Daumen. War cool. Brauche ich aber nicht jeden Tag. Während wir Helme und Kletterausrüsten ablegten, erklärte Onkel Phil die nächsten Schritte. “Ich werde mich gleich für gut eine Stunde verabschieden und wieder nach oben klettern!” Und wir, platzte es aus mir heraus? “Ruhig bleiben, Paul!”, brummelte der Professor mit seiner tiefen Samson-Stimme. “Dein Onkel wird für mich oben den Stand der Arbeiten fotografieren. Und ihr bekommt von mir hier unten eine 30-Minuten-Führung. Ich werde euch ziemlich genau erklären, wie und mit welchen Mitteln hier gesprengt wurde!” Dabei zeigt er auf die vielen Kisten und Tische, die bereits in der Halle aufgestellt waren. Darauf lagen Unmengen von Bomben, Granaten und Sprenkörpern. Juli war sofort Feuer und Flamme. “Alles davon war wirklich hier unten, wurde aber zwischenzeitlich entschärft!” Bevor Onkel Phil sich mitsamt seines Fotorucksacks auf den Weg nach oben machte, kam noch der Haken an der Sache. “Ihr tut übrigens gut daran, dem Professor sehr genau zuzuhören! Ihr werdet das Gelernte anschließend in einem kleinen schriftlichen Test anwenden müssen. Und wer darin am Besten abschneidet, darf später einen Teil der Abendgestaltung bestimmen! Viel Spaß!” Und schon hing er wieder in der Wand. Mistkerl. “Ist der immer so fies?”, motzte Juli, ohne wirklich genervt zu sein. Die Aussicht auf den Rundgang mit dem Professor entschädigte ihn praktisch für alles. Mich nur bedingt. Das hatte aber nichts mit dem Thema oder dem Test zu tun. Ich musste inzwischen wirklich dringend auf die Toilette und wusste, dass ich unmöglich noch eine Stunde durchhalten konnte. Ein Klo gab es hier unten aber nachweislich nicht. Die Lösung war einfach, aber eklig. Ich benutzte meine Windel. Dazu hatte ich mich ein bisschen zurückfallen lassen und war neben der Attrappe einer 250-Kilo-Bombe in die Knie gegangen. Ich hoffte, dass es für die anderen so aussehen würde, als interessiere ich mich ganz besonders für das Teil. In dieser Position schloss ich kurz die Augen und spürte schnell, wie sich mein gesamter Blaseninhalt in die Windel entleerte. Ich bekam eine Gänsehaut und hätte eigentlich gerne auf der Stelle geduscht. Das war ekelhaft. Aber immerhin blieb alles trocken. Nur die die Windel hing schwer und warm zwischen meinen Beinen und wurde vor allem von der Strumpfhose an ihrem Platz gehalten. Als ich wieder zum Professor und Juli aufschloss, hatte die mein Fehlen nur am Rande wahrgenommen. Auch mein etwas watscheliger Gang schien nicht aufzufallen. Ich schnaufte durch und versuchte, mich auf den Vortrag des Professors zu konzentrieren. Mach das Beste draus, Paul! Und das tat ich. 20 Minuten später waren wir wieder zurück an der Felswand und konnten von hier unten oben an der Decke der Halle erkennen, dass Onkel Phil noch arbeitete. In schneller Folge blitze es hell aus den verschiedensten Richtungen. Das sah aus wie ein Mini-Gewitter, waren aber die verschiedenen Blitzgeräte und Reflektoren die das Licht dorthin brachten, wo Onkel Phil es brauchte. Mir brummte der Schädel. Der Rundgang mit dem Professor war, abgesehen von meiner kleinen, ähem, Toilettenpause extrem spannend gewesen. Nicht nur, weil wir alles über Sprengstoffe, Bomben, Granaten und Munition erfuhren, die auf Helgoland zum Einsatz kamen, sondern weil der Professor auch noch jede Menge physikalisches Grundwissen mitlieferte. Und das sollten wir gleich anwenden. Der Professor hatte auf eine riesige Kabeltrommel aus Holz zu einem Tisch umfunktioniert und zog aus einer Ecke zwei klapprige Metallklappstühle heran. “So, die Herren. Ich habe mich ein bisschen verquasselt und länger gebraucht, wie geplant. Deshalb streiche ich die letzte Fragen!” Der meinte das echt Ernst, mit diesem schriftlichen Test. Krass. “Ihr werdet einiges zu rechnen haben. Also, Klappe halten und loslegen! Ihr habt 25 Minuten!” Ich hatte Hemmungen, mich auf die nasse Windel zu setzen. Das war dann aber kein Problem. Fühlte sich fast normal an. Superabsorber. Hatte ich damals auf der Packung gelesen. Ich legte los. Und kam nur bis zur zweiten Frage. Wir sollten berechnen, wieviel Sprengkraft eine bestimmte Sprengladung darstellte, die aus verschiedensten Sprengmitteln bestand. Ach die liebe Güte. Ich brauchte alleine drei Versuche, bis ich die Frage verstanden hatte. Juli war zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich bereits fast fertig. Sein Thema. Aber komplett. Er schrieb und schrieb, und schrieb. Als der Professor wieder auftauchte, hatte ich mit Müh’ und Not ein Drittel der Aufgaben gelöst. Oder besser: ich hatte etwas hingeschrieben. Tatsächlich war ich mir aber nicht sicher, außer dem Datum irgend eine korrekte Angabe gemacht zu haben. “In der Tasche dort drüber sind ein paar Müsliriegel und Getränke. Bedient euch!”, meinte der Professor abwesend, während er begann, die Test-Bögen auszuwerten. Essen! Die beste Idee seit 20 Minuten. “Das war easy, oder?” Ne Juli, nur für dich. Jetzt schaute er schon ein bisschen geknickt. “Sorry, das habe ich gar nicht mitbekommen. Aber ich liebe einfach Zahlen und Rätsel. Schon immer!” Warum entschuldigte er sich denn jetzt bei mir? Er hatte mir diese kombinierte Physik- und Rechenschwäche ja ganz sicher nicht vererbt! Alles gut, also. Ich war nur gespannt, was es in Sachen Abendgestaltung zu entscheiden gab.
Mit einem lauten Klimpern landete Onkel Phils Rucksack am Fuße der Steilwand, dicht gefolgt von seinem Besitzer. “So, die Bilder sind im Kasten!” Der Professor lachte entzückt. “Bomben-Timing!”, erwiderte der. Bomben-Timing. Wenn’s gewollt war, hatte der verrückte Professor gerade einen erstaunlichen Sinn für Humor bewiesen. Hatte aber scheinbar außer mir niemand mitbekommen. Typisch. “Ich hab die beiden Tests gerade fertig korrigiert. Und sagen wir mal so: Einen deiner beiden Schüler würde ich problemlos eine Kiste Sprengstoff mit auf den Weg geben!” Ja danke, ich hatte genug gehört. Julis Punkt. Wie gesagt. 10 MInuten später standen wir am Ausgang der unterirdischen Anlage und wunderten uns schon ein bisschen, warum wir nicht auch über diesen sehr bequemen Weg hineimgekommen waren. “Leute, wo wäre denn da der Spaß geblieben?”, fragte Onkel Phil ehrlich überrascht. War ja klar.
Über einen schmalen Weg schlängelten wir uns die Steilküste der Insel hinunter. Unser Ziel: Ein kleiner Anleger, an dem vier schwarze XXL-Schlauchboote festgemacht waren. Alle schwarz, mit jeweils zehn Stehplätzen und zwei riesigen Außenboardmotoren. Onkel Phil deutete zur Düne hinüber, Helgolands kleinere Nachbarinsel. “Und weiter geht der Spaß. Nach der kleinen Spritztour mit einem dieser netten Highspeed-Spielzeuge werden wir drüben was essen und anschließend mal sehen, ob wir hier noch ein paar Kegelrobben zu sehen bekommen. Die sind im Herbst eigentlich recht zahlreich hier vertreten. Danach bringt uns ein Börte-Boot zurück zum Schiff.” Highspeed? Cool. Das klang gut. Und fühlte sich auch so an. Der Skipper schnürte uns in die Gestelle, bis wir uns aufrecht stehend praktisch nicht mehr bewegen konnten. Dass sich dabei auch der Rest meines Blaseninhalts in die Windel entleerte, nahm ich nur am Rande wahr. Auch die Tatsache, dass sich zwischenzeitlich auch das große Geschäft ankündigte, machte mir keine Sorgen. Lange würde die Tour zur Düne nicht dauern. Und das stimmte auch. Ich hatte aber nicht damit gerechnet, wie heftig die Fahrt werden würde. Sieben Minuten Vollwaschgang mit Intensivschleudern. Der Skipper ballerte mit dem Boot durch jede Welle und legte es scheinbar darauf an, dabei möglichst wenig Kontakt mit der Wasseroberfläche zu haben. Klingt grausam, war aber ganz großes Tennis. Wind, Wellen und die Gischt peitschten mir ins Gesicht, mein Herz hämmerte im Takt eines nicht vorhandenen Techno-Beats. Ich brüllte wie am Spieß, brüllte alles raus, was mich bedrückte und erlebte ein Gefühl nie gekannter Freiheit. Geschwindigkeitsrausch, nennen das Rennfahrer. Für mich war es das pure Glücksgefühl. Was für ein abgefahrener Scheiß! Nie aufhören, nie anhalten. Bitte! Die Sekunden wurden zu Minuten, Minuten zu Stunden. Während wir wie wild zwischen den Wellen hin- und hersprangen, verlor ich das Gefühl für Zeit, Raum und meinen Körper. Mit verheerenden Folgen.
Als wir mit einem sachten Rumms am Anleger der Düne ankamen, riss es mich zurück in die Gegenwart. Ich wurde bleich. Was zum Teufel war gerade mit mir passiert. Ich hatte völlig die Kontrolle verloren. Und wenn ich völlig sage, dann meine ich auch völlig. Alles, aber auch wirklich alles war in der Windel gelandet. Sofort war die Panik da. Als der Skipper mich aus dem Haltgeschirr befreite, schloss ich die Augen. Gleich würde alles rauskommen. Doch es passierte… nichts. “Warte, ich helfe dir!”, hörte ich den Skipper rufen und nahm nur noch aus den Augenwinkeln war, wie er Richtung Juli sprintete. Der hing in seinem Geschirr und war kreideweiß. Die Sauerei vor ihm war beachtlich. Oha. Auch Juli hatte also die Kontrolle verloren. Allerdings durch einen anderen Ausgang. Onkel Phil war bereits dabei, Juli vom Boot zu helfen. Der stammelte etwas von “… noch nie passiert… peinlich …”. Was sollte ich dann bitte sagen? Gute Frage. Ich betastete meinen Po und spürte selbst durch den dicken Overall, dass ich diese Sauerei unmöglich ohne Onkel Phils Hilfe in den Griff bekommen würde. Ein echtes Dejavú. Wie im Aquarium. Half ja aber alles nichts. Ich nahm meinen gesamten Mut zusammen und stellte mich neben Onkel Phil, der beruhigend auf Juli einredete. Ohne Erfolg. “Das ist so peinlich. Ein paar Wellen und ich kotze das ganze Boot voll! Ich bin zu Nichts zu gebrauchen!” Tränen liefen über seine Wangen. Er tat mir leid. Ich tat mir leid. Längst liefen mir die Tränen übers Gesicht. Und dann beichtete ich den beiden meine Situation. “Na Prima!”, meinte Onkel Phil. “Warum einfach, wenn’s auch doppelt geht!” Er nahm mich in den Arm, störte sich nicht daran, dass dabei ein übler Gestank nach oben gedrückt wurde. Mein Gestank. Mein Versagen. “Bleib ruhig, Paul!”, versuchte Onkel Phil mich zu beruhigen, während er versuchte, die Situation in den Griff zu bekommen. “Das war heute wohl ein bisschen viel für euch beide. Wir müssen jetzt erstmal sehen, dass wir euch wieder frisch bekommen!” Beide. Stimmt. Juli und ich hatten eine Generalüberholung nötig. Ich hatte mich total eingesaut, brauchte einen echten Windelwechsel. Und Juli wollte die Reste seines Frühstücks loswerden, das überall auf ihm verteilt war. Unterm Strich roch das alles noch viel schlimmer, als es sich anhörte. Juli schniefte. Ich schniefte. Onkel Phil telefonierte. Und stand kurz drauf wieder bei uns. “So, kann losgehen. Wir müssen über diese kleine Düne. Dahinter befindet sich eine kleines Café, in dem ich eh mit euch essen wollte. Ich habe gerade mit dem Wirt telefoniert, er lässt uns hinten rein und bereitet einen Raum für uns vor, in dem wir das ganze Schlamassel in aller Ruhe beseitigen können. Und so zogen wir los. Juli schlurfte durch den Sand, ich watschelte so breit wie möglich hinterher. Nur nicht noch mehr verteilen, die Pampe. Der Fußmarsch dauerte keine zehn Minuten, fühlte sich aber an wie ein halber Tag. Als wir hinter dem Café “Sturmperle” ankamen, wartete dort bereits eine junge Frau, die uns die Tür öffnete, auf der “Personaleingang” stand. Tamara, so hieß unsere Helferin, führte uns durch einen schmalen Gang. Helle Fließen, schlichte Fotografien der Insel an den Wänden. Alles blitzsauber. Vor einem Raum, über dem “Zutritt nur für Personal” stand, blieb sie stehen. “Das ist unser Personalraum. Da habt ihr genug Platz und Waschmöglichkeiten. Die Tür könnt ihr von Innen abschließen. Nehmt euch die Zeit, die ihr braucht!” Mit einem freundlichen Lächeln zog sie die Tür hinter sich zu. Woher kannte Onkel Phil den Wirt? Und Tamara? “Gar nicht!”, erklärte Onkel Phil. “Aber Professor Feingerb kennt den Wirt. Und Tamara. Dass die Leute auf den Booten seekrank werden, ist ganz normal. Deshalb war es auch kein Problem, den Wirt um Hilfe zu bitten. Momentan gehen alle davon aus, dass ich hier zwei seekranke Jungs wieder flottkriegen muss. Mehr nicht!” Ein intensiver Blick zu mir. Dann zu Juli. Der nickte. Okay. Wir waren also Opfer der wilden Fahrt mit dem Schlauchboot. Mein Windelproblem würde diesen Raum nicht verlassen. Hoffte ich. Juli zwinkerte mir zu. Ich konnte ihm vertrauen. Das fühlte sich gut an. Sehr gut sogar.
Trotzdem wollte ich so schnell wie möglich aus der Windel raus. Onkel Phil übernahm zum Glück das Kommando. “Juli, du ziehst dir bitte deinen Overall aus und wäschst dich hinten am Waschbecken gründlich. Auch die Haare!” Juli nickte. “Schaffst du das alleine? Das mit Paul wird leider etwas aufwändiger!” Wieder nickte Juli. Mit wenigen Handgriffen half Onkel Phil Juli aus dem Overall. Dann schlüpfte er aus seinen Stiefeln und marschierte in seiner (okay, meiner) gelben Strumpfhose zum Waschbecken. “So, und jetzt zu dir”, wandte sich Onkel Phil an mich. “Wenn du willst, dann warten wir, bis Juli fertig ist und schicken ihn dann raus, okay!?” Ich überlegte nur kurz und schüttelte dann den Kopf. Das war jetzt auch schon egal. Hauptsache, ich kam aus dieser Windel raus. “Okay, mal sehen, wie schlimm es wirklich ist”, meinte Onkel Phil und öffnete den Reißverschluss meines Overalls. Abgesehen vom Geruch sah das auf den ersten Blick bei weitem nicht so verheerend aus, wie vor ein paar Tagen im Aquarium. Die Windel hatte ganze Arbeit geleistet, hing aber schwer in der grünen Fußballstrumpfhose. Ich öffnete die Klettverschlüsse meiner Stiefel und stellte mich auf ein großes Handtuch, das Onkel Phil auf dem Boden ausgebreitet hatte. “Zieh die bitte schonmal die Strumpfhose aus, ich hole Wasser und Feuchttücher!”, meinte Onkel Phil, während er zu Juli in Richtung Waschbecken verschwand. Der saß inzwischen auf einem Stuhl neben einem der Metallspinde und rubbelte sich die Haare trocken. “Wenn du fertig bist, dann weichst du bitte den oberen Teil des Overalls im Waschbecken ein!”, gab Onkel Phil die nächsten Schritte vor. “Der trocknet während des Essens ruckzuck!” Ein Blinder mit Krückstock konnte sehen, wie sehr sich Juli davor ekelte, den versauten Overall anzufassen. “Da musst du jetzt aber leider durch!”, motivierte ihn Onkel Phil, während er eine leere Plastikschüssel mit Wasser füllte und etwas Flüssigseife hineingab. Dann klemmte er sich zwei Handtücher und die Feuchttücher aus meinem Rucksack unter dem Arm und stand kurz darauf wieder neben mir. Ich hatte die Strumpfhose inzwischen ausgezogen und war doch ziemlich fasziniert davon, dass sie offensichtlich nichts abbekommen hatte. Bei der Unterhose sah das etwas anders aus. Aus der knallvollen Windel war zwischen den Beinen ein bisschen was von der Sauerei nach Außen gedrückt worden. Pech für die Unterhose. Aber eben auch keine große Sache. “Wow, das hat im Aquarium viel schlimmer ausgesehen!”, meinte Onkel Phil. Dafür roch es genauso schlimm. Ich zog die dreckige Unterhose mit spitzen Fingern nach unten. Ich würgte. Und warf das Ding sofort in den Mülleimer, den Onkel Phil herangezogen hatte. So. Fehlte nur noch die Windel selbst. “Ich kann das machen, wenn du willst?”, fragte Onkel Phil besorgt. Ich nickte. Das schaffte ich nicht allein. “Gut, dann leg dich jetzt bitte hin! Wenn ich dir Windel im stehen aufreiße, verteilen wir den ganzen Mist nur unnötig in der Gegend!” Er hatte Recht. Wie in Zeitlupe versuchte ich mich so hinzulegen, dass ich dabei möglichst wenig auf dem Po sitzen musste. Das gelang … natürlich nicht wirklich. Ich spürte, wie die inzwischen kalte und klebrige Masse sich noch weiter in meiner Windel verteilte und sich zischen den Beine nach vorne arbeitete. Meine Augen füllten sich mit Tränen. “Gleich vorbei!”, meinte Onkel Phil und riss vorsichtig die Bündchen der Pullup auf. “Uh, du hast aber ganze Arbeit geleistet!”, presste Onkel Phil zwischen seinen zusammengepressten Zähnen hervor. Nur nicht durch die Nase atmen. Mit dem schweren, vollgepinkelten Vorderteil der Windel wischte Onkel Phil mich notdürftig sauber. Eine halbe Packung Feuchttücher erledigten den Rest. Auf ein Handzeichen hob ich meinen Po und Onkel Phil zog die Windel unter mit raus. “Oben lassen!”, ermahnte er mich. Du bist hintenrum noch ziemlich eingesaut! Na prima. Mit einem Stapel weiterer Feuchttücher befreite er auch den Rest der Windelzohne vom stinkenden Brei. “So. Und jetzt stell dich bitte hin!” Gerne! Das war ein herrliches Gefühl. Wieder einigermaßen sauber zu sein. Onkel Phil faltete die Windel zu einem kompakten Paket zusammen und verklebte das Ganze mit einem Klebestreifen, der hinten auf der Windel für genau diesen Zweck vorhanden war. “Jetzt die Feinarbeit!” Mit Waschlappen aus dem Rucksack half mir Onkel Phil, Po und Rücken sauber zu wischen. Vorne bekam ich das selbst hin. Fertig. Ich war wieder sauber. “Bitte creme dich damit ein!”, unterbrach Onkel Phil die leise Freude und reichte mir eine Tube Windelsalbe. Warum denn? Er zeigt nur auf meinen Windelbereich, der wirklich ziemlich rot war. “Wir hatten gesagt, dass du sofort Bescheid sagst, wenn du eine frische Windel brauchst!”, motzte er. Und er hatte natürlich Recht. Er wusste ganz genau, dass die Windel schon vor der Bootstour ziemlich nass gewesen sein musste. Ich sagte nichts, sondern cremte mich vorsichtig ein. Die Salbe war schön kühl und roch angenehm frisch. Das tat gut.
In der Zwischenzeit hatte auch Juli seine Overall-Mission am Waschbecken abgeschlossen und stand jetzt mit dem nassen Teil neben mir. “So, fertig!”, meldete er. “Wohin jetzt damit?” Onkel Phil reichte ihm einen Kleiderbügel, den er umständlich in den Overall fummelte. Häng das Ding bitte da drüben über den kleinen Heizkörper. Praktischerweise befanden sich dort auch gleich die passenden Haken in der Wand. Offensichtlich gab es hier wirklich regelmäßig Bedarf, nasse Klamotten trocken zu bekommen. Dass ich untenrum nackt mitten im Raum stand, erregte nicht allzu viel Aufmerksamkeit. Warum auch. Juli war mit sich selbst beschäftigt und Onkel Phil hatte mich jetzt bereits zum zweiten Mal aus einer mehr als peinlichen Situation befreit. Ich angelte mir meinen Rucksack und fummelte eine saubere Windel aus dem Stoffbeutel. Es knisterte leicht, als ich die Pullup auseinander faltete und sie mit zitternden Händen wie eine Unterhose nach oben zog. Ich würde mich wahrscheinlich nie an das Gefühl gewöhnen, so ein Teil anzuziehen. Was hieß hier eigentlich wahrscheinlich. Auf gar keinen Fall. Ich war elf Jahre alt. Ich sollte nicht in Windeln rumlaufen! Verdammte Scheiße! Fast lautlos war Onkel Phil hinter mich getreten und hatte mir die Hand auf die Schulter gelegt. Ich schluckte. Und wusste genau, was diese Geste zu bedeuten hatte. Er war bei mir. Wir würden das gemeinsam durchstehen. Und für den Augenblick hieß das eben, dass ich nicht ohne Windel außer Haus, bzw. von Bord gehen konnte. Ich ließ mich auf meinen Windelpo fallen und suchte nach meiner Strumpfhose. Keine Unterhose, diesmal. “Ich hab deinen Overall auch über die Heizung gehängt”, rief mir Onkel Phil zu. “Der war auch noch Nass vom Wind und den Wellen!” Außerdem ist es hier drin eh zu warm dafür. Und so marschierten wir ein paar Minuten später zu dritt nach vorne in den Gastraum, der ganz gut gefüllt war. Es waren vor allem ältere Touristen und ein paar Familien, die in kleinen Wandnischen an runden Holztischen saßen und sich deftige Nordseeküche schmecken ließen. In der Mitte des Gastraums blubberte ein großes Aquarium, in dem ein echter Zitteraal schwamm, der immer wieder Stromstöße ins Wasser abgab. Ein Spannungsmesser zeichnete die Entladungen auf. Ein cooles Schauspiel. Angenehmer Nebeneffekt? Es schenkte uns kaum jemand Beachtung. Die Strumpfhosen wären auch nicht das Problem gewesen, da gab es vor allem unter den anwesenden Kindern einige, die ähnlich gekleidet waren wie wir. Aber ich war definitiv der Einzige, der einen dicken Windelpo hinter sich herschwang. Trotzdem war ich froh, als ich mich in die weichen Polster unserer Sitzbank fallen lassen konnte. Zwei große Tassen Tee später hatte die letzte halbe Stunde bereits den Großteil ihres Schreckens verloren. Juli und ich berichteten Tamara aufgeregt von unserer Kletteraktion im Inneren der Insel, Onkel Phil hörte derweil seine Mailbox ab. Und lächelte, als er sein Smartphone weglegte. Was war denn los? “Erzähle ich euch gleich. Jetzt lasst uns aber endlich bestellen. Die arme Tamara ist nämlich eigentlich nicht hier, um sich von zwei Helden in Strumpfhosen einen Bären aufbinden zu lassen!” Juli und ich wurden praktisch gleichzeitig knallrot im Gesicht. Musste der Spruch mit den Strumpfhosen jetzt sein? Tamara tat zumindest so, als hätte sie davon gar nichts mitbekommen. “Kein Stress”, lachte sie. “Nach euch kommen keine neuen Gäste mehr, ich hab also ein bisschen Zeit.” Die brauchte sie auch, denn wir hatten Hunger. Vor allem Julis Bestellung nahm eine ganze Seite auf ihrem Schreibblock ein. Als Tamara in die Küche verschwunden war, erzählte uns Onkel Phil, welche Nachricht er gerade auf der Mailbox abgehört hatte. “Es waren deine Großeltern, Juli! Sie haben ziemlich überraschend Karten für eine Soireé bekommen, die heute Nacht auf Helgoland stattfindet und würden da gerne hingehen.” Na und? Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Und auch Juli sah in dem Moment nicht gerade wie die hellste Kerze am Kronleuchter aus. “Jungs, Julis Großeltern lassen fragen, ob es eventuell möglich wäre, dass Juli heute bei uns schlafen könnte. Dann könnten sie über Nacht auf der Insel bleiben und würden morgen zum Frühstück wieder zu uns stoßen!” Stille. “Klar geht das!”, platzte es auch Juli heraus! “Ist das okay für dich?” Seine riesigen Hundeaugen klimperten in Richtung Onkel Phil. “Easy!”, meinte der. “Passt sogar perfekt in meine Abendplanung!” Wieder so eine Aussage, mit der wir nichts anfangen konnten. War jetzt aber auch erstmal egal. Denn mit einem leisen “Pling” aus der Küche kündigte sich unsere Vorspeise an. Wir saßen über 1,5 Stunden zusammen und mampften uns durch die Speisekarte. Viel Fisch, Unmengen von Bratkartoffeln und dann noch eine bunte Mischung Süßspeisen zum Dessert. Zwischen den einzelnen Gängen hatten Juli und ich immer wieder dem Zitteraal im Aquarium Besuche abgestattet. Dabei entdeckten wir noch jede Menge anderes Meeresgetier, das sich dort häuslich eingerichtet hatte. “Prächtig!”, hatte Onkel Phil zwischendurch eingeworfen und zwei leere Malblöcke an uns ausgeteilt. Dazu bekam jeder je drei Kohlestifte in unterschiedlichen Härtegraden. “Eure nächste Aufgabe besteht darin, das Aquarium samt seiner Bewohner zu zeichnen. Je mehr Details, desto besser! Auf dem Schiff wird es dann darum gehen, anhand eurer Zeichnungen zu bestimmen, was da außer dem Zitteraal alles zu sehen ist!” Bäämm! Meine Punkte! Das war ja wohl klar. Wenn ich etwas konnte, dann war es Zeichnen. Juli schmollte. “Wie, zeichnen? Ich hab da echt kein Talent für!” Aber keine Chance. Er hatte mich im unterirdischen Museum und bei der Rechnerei platt gemacht. Jetzt war ich dran. Sah Onkel Phil genauso. Und so zeichneten wir zwischen den unterschiedlichen Spezialitäten. Ich kam gut voran, auch wenn ich heute echt nicht meinen besten Tag hatte. Juli war echt geknickt. Er konnte wirklich nicht gut zeichnen. Aber da musste er jetzt durch. Zum Trost spendete ich ihm meine Portion Roter Grütze. Das machte ihn glücklich und verschaffte mir etwas mehr Zeit, den Zitteraal fertig zu malen. Nachdem Onkel Phil noch einen starken Espresso getrunken hatte, musste wir uns langsam von der “Sturmperle” verabschieden. “Ach ja, kleine Planänderung”, verkündete Onkel Phil, kurz bevor wir vom Tisch aufstehen wollten. “Leider keine Kegelrobben heute! Das Wetter zieht zu, wir müssen zurück aufs Schiff!” Das war ein echter Rückschlag. Ich hatte mich wirklich auf die Zeit am Strand gefreut. Und auch Juli kuckte sehr sparsam. Half aber alles nichts. Onkel Phil schob uns zurück in Richtung Personalraum und dirigierte mich auf halber Strecke zur Toilette. “Paul, da lang!” Was sollte die Aktion denn jetzt bitte? “Paul, du hast drei Tassen Tee und zwei Apfelschorle getrunken. Ich würde vorschlagen, die Aufnahmefähigkeit deiner Einlagen heute nicht nochmal auf die Probe zu stellen, oder was meinst du?” Nix, außer einem verkniffenen Nicken. Juli bog mit mir in die Toilette ab. “Iiich ich mumumumuuss dringend!”, kommentierte er trocken, während er in die Kabine trat. Ich ja auch. Das merkte ich aber erst, nachdem ich vor dem Pissoir stand. Das wäre um ein Haar wirklich wieder schief gegangen. Das musste doch mal besser werden, Himmelherrgott.
Zehn Minuten später standen wir am Anleger und hatten gut damit zu tun, nicht vom Steg geweht zu werden. Dunkle Wolken hingen überm Südzipfel der Insel. Da schob sich wirklich ein fieses Unwetter über die See. Ich genoss die Gischt und den Wind, der uns ins Gesicht peitschte, leckte immer wieder über meine salzigen Lippen und versuchte jedes Geräusch aus dem Sturm herauszufiltern. Juli klammerte sich zwischenzeitlich am nächstbesten Pfahl festt und wimmerte. Er wusste, dass er noch 15 Minuten in einem der Börte-Boote hinter sich bringen musste. Horror. Onkel Phil nutzte die Zeit, um ihm weitere Atemtechniken zu erklären, mit deren Hilfe er sein Stottern in den Griff bekommen konnte. Das Ablenkungsmanöver gelang. Juli bekam zwar das Stottern nicht weg, konzentrierte sich aber während der gesamten Überfahrt auf seine Atmung. Kaum Zeit für Panik. Erst kurz vor dem Ausstieg, die Nussschale von einem Holzboot rollte gerade zwischen zwei Wellen, fiel seine Selbstbeherrschung in sich zusammen. Er schob seinen Daumen in den Mund und nuckelte. Onkel Phil ließ in gewähren. Erst unmittelbar, bevor die Besatzung der Nordwind uns aus dem Boot half, zog er ihm sanft den Daumen aus dem Mund und schob ihn an Bord. Danach waren die Schotten dicht. Da kam heute niemand mehr rein oder raus. Julis Großeltern, das erfuhren wir an der Rezeption, waren bereits vor einer Stunde aufgebrochen. Mit dem letzten Börte-Boot. War ja auch kein Problem, Juli würde ja eh bei uns schlafen. Während wir durchs Schiff zu unserer Kabine wanderten, erklärte uns Onkel Phil das restliche Programm des Tages. “Wir holen gleich Julis Sachen aus eurer Kabine. Dann werden wir die dicken Klamotten los. Der Rest des Abends versprach sehr unterhaltsam zu werden. Vor dem Essen im mexikanischen Restaurant (yes!) hatten wir eine Stunde für uns. Trampolin, Nerf-Arena. Egal. Nach dem Abendessen dann noch eine Runde Scrabble im Kaminzimmer. Dann in die Kabine, bettfertig machen und Filme aussuchen. Onkel Phil wollte uns den Jugendkanal der Bord-Videothek freischalten und hatte diverse Knabbereien geordert. Eine Art Pyjama-Party mit Chips und Filmen ohne Ende. “Gggguter Plan!”, jubelte Juli! “Iiiiich ssssssuche den ersten Ffffffilm aus!” Onkel Phil nickte. “Klar, wie abgesprochen. Ich bin aber noch nicht fertig. Morgen vor dem Frühstück wird sich jeder von euch an die Auswertung der Aquariumszeichnungen machen und alles schön in einen ausführlichen Tagesbericht verpacken. Fünf Seiten. Minimum. Paul kennt das schon, er ist seiner Mama mal wieder einen ausführlichen Bericht schuldig!” Mahnender Blick. Ich nickte. Juli bekam den Mund nicht zu. “Bbbbbbbitte was? FfffffÜNF Ssssseieieieieiten? Sssssso viel hab ich ja noch nie gggggggggeschrieben! Das ist ja schlimmer als Schschschschule!” Onkel Phil grinste. “Welch ein schönes Kompliment, vielen Dank! Denk’ an deine Atmung, Juli!” Der schmollte. Okay, es hätte schlimmer kommen können.
Wir warfen also unsere Rucksäcke in unserer Kabine ab und marschierten geschlossen zwei Decks höher, wo Juli mit seinen Großeltern wohnte. Okay, residierte. Falls es mal wieder eines Beweises für meine grenzenlose Naivität bedurft hatte, hier kam er. In Form einer Suite, von der es auf dem Schiff fünf Stück gab. Dreimal so groß wie unsere Kabine. Drei Schlafzimmer, zwei Bäder. Eigener Balkon. Der Wahnsinn! Ich hatte wirklich die letzten zwei Tage nicht mal im Entferntesten daran gedacht, dass Juli nicht nur ähnliche Probleme wie ich mit sich herumschleppte, sondern on top noch Spross einer nicht ganz unvermögenden Adelsfamilie war. Vielleicht sollten wir doch eher bei euch schlafen, meinte ich, als ich gedanklich wieder einigermaßen in die Spur gefunden hatte. Und gleich noch das halbe Schiff einladen. Juli lachte gequält. “Ggglaub mmmir. Aaaales nicht sssssssso einfach!” Was er meinte, konnten wir erahnen, als wir in “sein” Zimmer kamen. Eigentlich eine Kabine für sich. Eigenes Bad, großer Fernseher. Alles picobello. Und das war’s, was mich irritierte. Das Bett sah aus, als hätte noch nie jemand geschlafen. Der Schreibtisch mit Schulbüchern wirkte, wie frisch aus dem Katalog. Und im Schrank herrschte die Art von Ordnung, die meiner Mutter die Freudentränen in die Augen getrieben hätte. Selbst die Unterhosen waren fein säuberlich gefaltet und akkurat übereinander ausgerichtet. Ehrlich gesagt traute ich mich in diesem Ambiente kaum, zu atmen. Die Ordnung hatte natürlich auch so ihre Vorteile. Juli hatte sehr schnell gepackt. wir waren bereits auf dem Weg nach draußen, da machte Juli noch einmal auf dem Absatz kehrt und verschwand in seinem Zimmer. “Nnnnnoch was vergessen!”, kam kurz als Erklärung. “Hhhhhhab’s ggggleich!” Mit kontrollierten Handgriffen angelte er unter der Matratze etwas hervor und steckte es seitlich in die Sporttasche, die er gepackt hatte. Er war schnell. Sehr schnell. Aber eben nicht schnell genug für meine Augen. Ich grinste in mich hinein. Julis Geheimnis war um ein Detail reicher.
Teil 7
Zurück in unserer Kabine schickte Onkel Phil uns zum Umziehen. “Ich bin schnell im Bad, dann verschwinde ich für ein Stündchen im Bürotrakt des Schiffes. Ich will mit in Ruhe mit Mette skypen. Die hat ihren ersten freien Tag und wir haben in den letzten Tagen nie länger als fünf Minuten miteinander gesprochen! Ihr seid brav und steht pünktlich um 18:30 Uhr vor dem Los Gringos, klaro!?” Klaro. Während Onkel Phil abdampfte, erklärte ich Phil noch schnell die Sache mit Mette. Dann berieten wir, wie wir die freie Stunde möglichst effektiv nutzen konnten. Fast gleichzeitig stiegen wir aus unseren Overalls und pfefferten die Schuhe in die Ecke. Anschließend zogen wir noch die dicken Pullover und die warmen Socken aus und verteilten die Sachen dekorativ im Zimmer. In Kombination mit den Rucksäcken, Julis Reisetasche, dem ungemachten Bett und meinem nicht ganz so ordentlich eingeräumten Schrank sah mein “Aquarium” so langsam aus, wie eine Tiefsee-Müllhalde. Perfekt! Juli deutete auf meine Strumpfhose: “Lllllässt ddddu die an?” Klar, warum denn nicht? Ich verschwand zur Hälfte in meinem Kleiderschrank und fummelte meine Jogginghose raus, die ich über die grüne Thermo-Strumpfhose zog. Damit sollte ich mich auch beim Essen sehen lassen können. Juli schlüpfte in die hellblaue Thermo-Stoffhose, die ich schon kannte. Ich komplettierte meinen Auftritt mit den grünblauen Filzhausschuhen, Juli verpackte seine Füße in rotgelbe Hüttenschuhe. Ein schneller Blick in den Spiegel. Nun ja. Nix für den ganz großen Auftritt, aber perfekt, um den Abend entspannt ausklingen zu lassen. Die Jogginghose saß über der Windel echt ziemlich eng. Hatte aber bislang aber auch keinen gestört. Deshalb: High Five mit Juli. Es konnte losgehen. Unser Ziel hatten wir schnell geklärt. Wieder der Indoor-Spielplatz. Diesmal aber keine wilde Nerf-Ballerei, sondern ein Runde im Drohnenraum. Den hatte Juli eben erst entdeckt, als er durch die vielen Flyer und Prospekte blätterte, die bei uns auf der Kabine rumlagen. Es hatte gefühlt 15 Minuten gedauert, bis ich ihn durch all das Stottern hindurch verstanden hatte, so aufgeregt war er. Als es dann schließlich “Klick” gemacht hatte, hatte ich ihn einfach nur an seinem Pulli zur Tür gezerrt. Auf geht’s, Eure Lordschaft. Das müssen wir uns ansehen! Der Drohnenraum lag hinterm der Nerf-Arena und wirklich nur zu finden, wenn man wusste, was man suchte. Die Erklärung dafür bekamen wir von der gleichen Mitarbeiterin, die uns gestern auch bei unserem Nerf-Duell in Empfang genommen hatte. “Alles noch nagelneu. Und noch nicht wirklich zuverlässig. Deshalb erstmal nur Probebetrieb!” Enttäuschte Gesichter. Juli schnaufte genervt. Jetzt wurde Fräulein Indoor-Spielplatz plötzlich rot. “Oh, das habt ihr falsch verstanden! Die Anlage ist offen. Es kann aber sein, dass noch nicht alles glatt läuft. Deshalb machen wir noch keine große Werbung dafür!” Ah, das Zauberwort. “Offen!”. Sie hatte wirklich “offen” gesagt. Noch ein High Five! Wir checkten mit unseren Armbändern ein und wollten gerade durch die dunkle Tür, als Juli einfiel, dass er sein Handy in der Kabine vergessen hatte. Fieser Fehler, denn seine Großeltern erwarten, dass er auf Anrufe oder Nachrichten umgehend reagiert. “Bbbbin ggglllleich wieder ddddaaa!”, verschwand er mit hochrotem Kopf Richtung Kabine. Lass dir Zeit, murmelte ich. Mehr Zeit für mich zum Üben!
Wie gestern deponierte meine Jogginghose und den warmen Pullover in einer durchsichtigen Plastikbox im Vorraum. Auch im Drohnenraum würde es mächtig heiß werden. Als die dunkle Metalltür mit einem sanften “Kloink” hinter mir ins Schloß fiel, brauchten meine Augen ein paar Sekunden, um sich an das schummrige Licht zu gewöhnen. Ich erkannte einen dunklen Tresen mit fünf Pilotenplätzen, ausgestattet mit jeweils einer Steuerkonsole und einer Virtual-Reality-Brille. Ein Kribbeln fuhr durch meinen Körper. Das war so cool, dass mit Onkel Phil hier mit Gewalt würde raustragen müssen! Der Raum vor dem Tresen bestand aus einer Art Maschinenraum. Zwischen den verschlungenen Rohren, Leitungen, Nischen und Ecken markierten farbige LEDs verschiedene Ziele und Routen, die zu durchfliegen waren. Je schneller, desto besser. Der Wahnsinn! Erst jetzt bemerkte ich, dass ich nicht alleine war. Rechts vor mir saß jemand. Oder besser: Es sprang jemand vom Pilotensitz und warf die VR-Brille wütend auf den Tresen. “Kannst du nicht aufpassen, du Vogel!” Verwirrtes Schulterzucken. Meinte der etwa mich? Blöde Frage. Ich sah mich um. Wen denn sonst. “Tu doch nicht so bescheuert!”, fauchte der Junge, der inzwischen auf Armeslänge an mich herangekommen war. Er war etwas größer als ich und, Kunststück, deutlich bulliger gebaut. Er trug einen akkuraten Bürstenhaar-Schnitt, einen kleinen Ohrstecker, weiße Sportsocken, ein T-Shirt einer Baseball-Mannschaft und eine dieser sauteuren und modischen Jogginghosen. Geschätzt 14 Jahre alt. Seine Augen funkelten böse. “Ich war kurz davor, meinen eigenen Rekord zu brechen, du Zwerg! Und dann kommst du rein und vermasselst es!” Ich war immernoch komplett überfordert. Warum hatte ich denn bitte seinen Rekord vermasselt? Ich bin doch nur durch die Tür gekommen. Ich stammelte eine Erklärung, wurde aber wütend unterbrochen. “Und dämlich bist du auch noch! Das helle Licht stört die Kameras an der Drohne! Ich habe kurz nichts gesehen und hab dadurch meine letzte Drohne verloren!” Ich spürte langsam, wie mir mumlig wurde. Der Kerl war eindeutig ein kleines bisschen zu sehr auf dieses Spiel fixiert. Und ich wusste, wie sich das anfühlte. Mit einem Schauern dachte ich daran zurück, was ich meiner Mutter oder sonstigen Störenfrieden an den Hals gewünscht habe, wenn ich bei einem Videspiel unterbrochen wurde. Und das machte mir Angst. Ich kannte die Wut und wusste, dass der Kerl nur ein Haar davon entfernt war, die Beherrschung zu verlieren. Ich versuchte zwischen all meiner Angst irgendwo ein bisschen Wut zu finden. Oder zumindest den Mut, diesem Spinner die richtige Antwort zu geben. Er war jetzt exakt eine Daumenbreite von mir entfernt. Ich roch seine Wut. Roch seinen Weichspüler. Spürte die Hitze, die von ihm ausging. Wo blieb eigentlich Juli? Und warum war hier kein Aufsichtpersonal? Bevor sich der nächste Gedanke auf den Weg machen konnte, spürte ich auch schon, wie seine Handballen gegen meinen Brustkorb knallten. Die Wucht trieb mir die Luft aus den Lungen. Ich flog wie eine Spielzeugpuppe nach hinten, prallte an der mit weichen Matten verkleideten Wand ab und fiel halb hinter einen Lounge-Sessel, der an der Seite stand. So hing ich mit dem Oberkörper über der Lehne, die Beine auf dem Sessel. Ich strampelte, suchte nach Halt und versuchte, vor Angst nicht zu schreien. Auf dem gummierten Metallboden hört ich seine Schritte. Konnte spüren, wie er näher kam. Scheiße. Ich hatte ihm doch gar nichts getan. Was war denn hier nur los? Juli, bitte hilf mir doch endlich. Aber Juli war nicht da. Aber dafür mein Widersache. Der wieherte plötzlich amüsiert. “Wie läufst du eigentlich rum?”, fauchte er und zog mich am Fußgelenk hinterm dem Sessel vor. “Oh, hat Mami dem Bubi eine Strumpfhose rausgelegt! Das ist aber fein! Und dann auch noch die Gute mit den coolen Fußbällen!” Der Spott tat fast mehr weh, als mein Oberkörper oder die Beule, die sich an meinem Hinterkopf entwickelte. “Was bist du? Ein Freak?” Nein, jammerte ich. Lass mich doch einfach in Ruhe! Ich hab dir gar nichts getan! Das klang auf keinen Fall heldenhaft. Aber alles war besser, als sich ohne Gegenwehr durch die Gegend werfen zu lassen. Außerdem konnte ich ihn so von der Windel ablenken, die er offensichtlich noch nicht bemerkt hatte. Zum Glück. Sie wurde nämlich gerade gebraucht. Dringend. Während er mich zum Eingang schleifte, pinkelte ich mir vor Angst in die Hose. “Du wirst mir das Spiel ersetzen, du Wurm!” Er fummelte an meinem Handgelenk herum und wollte gerade das Armband an sich nehmen, da öffnete sich die Tür. Juli. In voller Größe. Hellblaues T-Shirt, gelbe Strumpfhose. Kein Superhelden-Kostüm. Aber: Ein Kopf größer und doppelt so breit, wie mein Peiniger. Der helle Hintergrund blendete. Mich und den Spinner. “Paul, kkkkööönnnen wir eeeeendlich …?” Stille. “Wer hat dich denn bestellt?”, zischte der Spinner. Stille. Ich konnte deutlich erkennen, wie bei Juli der Groschen fiel. “Lass ihn los!”, forderte er ruhig. Ohne Aggression in der Stimme. “Sofort!”. Der Spinner stutzte. Und taxierte offensichtlich seine Optionen. Eine Sekunde später schlidderte ich vor Julis Füße. Ich rollte mich zusammen. Ein Reflex. “Nimm den Freak und verpiss dich, Fettsack!”, ätzte der Spinner und ahnte nicht, dass er damit bei Juli eine Grenze überschritten hatte. Mit einem Sprung, der definitiv nicht zu seinem Körperbau passte, schoss er nach vorne und rammte den Spinner mit dem Gesicht gegen die gepolsterte Wand. Dann eine geschickte Drehung und schon stand der Kerl vornüber gebeugt und wimmerte vor Schmerzen. Polizeigriff. Wie hatte Juli das gemacht? Ich rappelte mich hoch. Schmerz schoss den Rücken hoch. Keine Zeit für Kolateralschäden. Ich musste zu Juli. Der hatte die Hand des Spinners im Schraubstock-Griff und war drauf und dran, ihm die Schulter auszukugeln. Juli, mach kein Scheiß, stöhnte ich. Der ist es nicht wert! Denk an deine Großeltern. Das wirkte. Juli lockerte den Griff gerade so weit, dass die Schmerzen blieben, dabei aber keine Gefahr bestand, den Spinner ernsthaft zu verletzen. “Wir gehen da jetzt raus. Draußen packst du deine Sachen und verschwindest! Ich habe alles hier drauf!” meinte Juli und zeigte auf sein Smartphone. “Tauchst du noch einmal in unserer Nähe auf, geht das hier an den Sicherheitsdienst! Botschaft angekommen?” Hoppla, kein Stottern. Der Spinner stöhnte. Könnte ja geheißen haben. Ich wir mir aber nicht sicher. Zumindest nickte er. Und genau so kam es. Bis Juli alleine zurück kam, hatte ich mich auf eines der Sofas verzogen. Tränen liefen mir übers Gesicht. Ich zitterte am ganzen Körper. Die Windel fühlte sich an, als würde sie jeden Moment an ihre Belastungsgrenze kommen. “Kann man dddddich nicht eeeeinmal alleine lllllassen?”, fragte Juli, als er sich neben mich in den Sessel warf. Nicht lustig Juli, presste ich zwischen den Zähnen hervor. “Weiß ich!”, antwortete er ruhig. “Was ist denn passiert?” Ich dachte, das hast du gefilmt? Juli grinste. “Quatsch, wie denn? Bin doch erst reingekommen, als er dich im Schwitzkasten hatte!” Oh, das stimmte. Aber offensichtlich war das dem Spinner so auch noch nicht aufgefallen. Kluger Kerl, der gute Julian von Reifnitz-Dammgarten. Ich unterschätzte ihn immer wieder. “Los, erzähl!” Und ich erzählte. Und wunderte mich selbst, wie wenig es zu erzählen gab. Reinkommen, Eskalation, Auftritt Juli. Fertig. In der Situation hatte es sich angefühlt, als wäre ich eine Woche in der Gewalt eines verrückten Geiselgangster gewesen. Krass. Langsam verzog sich das Adrenalin aus meinem Körper. Ich sah auf Julis Handy-Display. Es waren keine 20 Minuten vergangen, seit ich den Drohenraum betreten hatte. Juli wollte gerade einwerfen, dass wir noch locker eine 30-Minuten-Einheit einlegen könnten, da schüttelte ich den Kopf. “Ja, ich kann schon verstehen, dass du jetzt keine Lust mehr hast!” Ich schüttelte erneut den Kopf und musste dabei feststellen, dass die Beule an meinem Hinterkopf diese Art von Bewegung gar nicht gut fand. Das ist es nicht, Juli. Ich will unbedingt fliegen. Aber … ich zeigte auf meinen Schritt, wo sich links und rechts zwei dunkle Streifen auf der grünen Strumpfhose abzeichneten. Code Red in der Windel. Ich brauchte dringend einen Boxenstopp. “Scheiße!”, meinte Juli und sprang hoch. “Ich hätte ihm doch seinen beschissenen Arm abreißen sollen!” Würde mir jetzt auch nicht helfen. Ich stemmte mich aus dem Sofa und spürte sofort, dass die dunklen Flecken vorne mein kleinstes Problem waren. Dort, wo ich noch vor wenigen Sekunden saß, glänzte ein dunkler, feuchter Fleck. Ich taste kurz an meinen Po und fand meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Alles nass. Voll eingesaut. Juli schob mich sanft zur Tür. Ich fuhr ihn an, dass er die Finger wegnehmen solle! Nicht, weil ich mich schämte. Sondern vor allem, weil ich ihn nicht einsauen wollte. “Scheiß drauf, Paul!” Er schob mich weiter und hatte die Hand genau über der Windel in meinem Rücken. Auch dort war’s nass. “Wir machen das jetzt so!” Und schon folgte ein astreiner Plan, der auch von Onkel hätte stammen können. Stotterfrei vorgetragen, sei nebenbei erwähnt. Es klappte wie am Schnürchen. Während Juli die Aufsicht ablenkte und ihr erklärte, dass wir doch erst morgen spielen könnten, weil wir einen Termin vergessen hatten, schlich ich an der Wand entlang zu meiner Klamottenbox. Ich schlüpfte hektisch in meine Jogginghose und die Hausschuhe. Dabei würde zwar auch die Jogginghose nass werden, ich musste ja aber irgendwie in die Kabine kommen. Drüber band ich das Oberteil des Jogginganzugs um eine Hüfte. Po und Schritt waren damit erstmal ganz gut verdeckt. Wenn jetzt noch keinem der penetrante Uringeruch auffiel, hatte ich eine Chance. Ich wuschelte mir die Haare wieder einigermaßen in Position und stand kurz darauf mit einem schiefen Grinsen neben Juli und der Aufpasserin. Ich geh schonmal vor! Nur nicht auffallen. Unverbindlich lächeln. Und dennoch schnell sein. Ich flog die Treppen hoch und durchquerte die nötigen Gänge in Rekordzeit. Vor unserer Kabine hielt ich zitternd das Armband ins Schloss. Es klickte. Ich war drin. Und ließ endlich die gesamte Anspannung von mir abfallen. Ich schluchzte wie ein kleines Kind. Ohne Juli und die Windel wäre das heute komplett schief gegangen. Keine Ahnung, was der Spinner mit mit veranstaltet hätte, wenn ich vor ihm auf den Boden gepinkelt hätte. Ich pfefferte das Oberteil des Jogginganzugs ins Waschbecken. Die Hausschuhe flogen in eine Ecke. Noch 30 Minuten, bis wir beim Abendessen sein mussten. Mit spitzen Fingern zog ich mein Shirt und das Unterhemd über den Kopf. Beides auf Hüfthöhe klatschnass. Zusammen mit der Jogginghose, landete auch der Teil meiner Klamotten im Waschbecken. Obendrauf kamen dann noch die komplett nasse Strumpfhose sowie die Unterhose, die sich komplett vollgesogen hatte. Der Geruch. Ich hasste diesen Geruch. Breitbeinig watschelte ich zur Badewanne. “Platsch”, klatschte die Windel nach unten. Mit einem Würgen stopfte ich das triefend nasse Ding in die Windeltüte. So, das hatte schonmal ganz gut geklappt. Während ich mich unter der Dusche so heiß wie möglich abbrauste und dabei mindestens eine halbe Packung Duschgel verbrauchte, hörte ich, wie auch Juli in die Kabine kam. Er klopfte leise gegen die Badzimmertür. “Bbbbbrauchst ddddu was?” Ja, sagte ich durch den Duschnebel, der das Bad eingehüllt hatte. Eine neue Blase. Und eine Kampfsport-Ausbildung. “Bbbblase ist gerade aaaaaus!”, frotzelte Juli. “Aber ein paar gute Trtrtrtrticks kann ich dir schon zzzzzzeigen!” Später. Gerne und auf jeden Fall. Aber jetzt musste ich erstmal wieder vorzeigbar aussehen. Und riechen. Ich stieg aus der Wanne und ließ sie zur Hälfte volllaufen. Dort hinein warf ich meine nassen Klamotten. Einweichen. Das Badezimmer roch schließlich schlimm genug. Anschließend zog ich mir meinen Bademantel über und schlich durch die Kabine in mein Zimmer. Da saß Juli und blätterte durch die Speisekarte des mexikanischen Restaurants, in dem Onkel Phil einen Tisch bestellt hatte. Er wollte gerade aufstehen, da gab ich ihm ein Zeichen, sitzen zu bleiben. Sollte er ruhig mitbekommen, wie das aussah, wenn ich mich anzog. Inklusive Windel. Und so blieb Juli sitzen und tat zumindest so, als bekäme er von meiner Zeremonie nicht wirklich was mit. Er war ein ganz schlechter Schauspieler. Aber er war mein Freund und hatte gerade bewiesen, dass er locker einem Typen den Arm abreißen würde, wenn’s hart auf hart kam. Das gab ein Gefühl der Sicherheit. Umständlich stieg ich in eine frische Windel und war zumindest schonmal nicht mehr nackt. So, und nun? Mein Chiller-Outfit schwamm in der Badewanne. Also nix mit Jogginganzug. Ich wühlte mich durch meinen Schrank. Okay, die Latzhose würde gehen. Und sonst? Die Unterhose wollte ich mir schenken. Wozu auch. Unterhemd? Ging schnell. Blau. Mit einem großen Segelschiff drauf. Irgendwie hatte ich ein Händchen für Unterwäsche-Bildchen, die zum Umfeld passten. Drüber zog ich ein Weiß/Blaues-Langarm-Ringelshirt, in das ich noch ein bisschen reinwachsen konnte. Zum Schluss angelte ich mir aus meinem Rucksack noch eine der neuen Thermo-Strumpfhosen mit Superman-Logo auf dem Po. Auch die war eine Nummer zu groß. Gefiel mir aber trotzdem. Latzhose drüber, fertig. “Noch ssssssssieben Mmmmminuten!”, kommentierte Juli. “Jjjjjetzt aber lllos!”
Er sah sofort, dass etwas nicht stimmte. Ganz und gar nicht stimmte. Onkel Phils Mine verfinsterte sich, als wir um die Ecke bogen und sehr pünktlich vor dem Eingang des Mexikaners ankamen. Die übliche Begrüßung fiel aus. “Was ist passiert?”, fragte er ruhig. Und damit hatte er mich. Ein Träne lief mir lautlos übers Gesicht. Dann noch eine. Und noch eine. Aber ich wollte nicht reden. Juli und ich hatten das geregelt. Ich wollte jetzt was essen. Und dann mit ihm Filme kucken und Chips Essen, bis uns beides zu den Ohren rauskam. Ich kniff die Lippen zusammen. Und schüttelte den Kopf. Nichts, Onkel Phil. Gar nichts. Er schluckte. Und gab mir eines seines Stofftaschentücher. Ich wischte mir die Tränen ab und putzte mir die Nase. Warum muss das immer mir passieren, flüsterte ich und erschrak über meine eigenen Worte. Das hatte ich doch gar nicht laut sagen wollen. “Jungs, wir haben noch 15 Minuten. Unser Tisch ist noch gar nicht frei”, brach Onkel Phil das Schweigen und deutete auf drei Hocker, die neben dem Eingang standen. “Mitkommen. Hinsetzen. Reden!” Aber ich konnte nicht. Wollte nicht. “Ist es okay, wenn Juli anfängt?”, fragte Onkel Phil vorsichtig. Ich schniefte. Und nickte. Und Juli erzählte. Den Teil, den er selbst mitgemacht hatte und alles, was ich ihm erzählt hatte. Er war extrem aufgewühlt und brauchte ewig, um zwischen den Stotterern Wörter und Sätze zu bilden. Aber er erzählte alles. Lies nicht aus. Und Onkel Phil hörte zu. Ich nicht. Ich versuchte zumindest nicht, zuzuhören. Bitte nicht alles nochmal erleben. Vor dem geistigen Auge. Das klappte natürlich nicht. Und wenn Onkel Phil jetzt ein großes Faß aufmachte, würde ich alles immer und immer wieder durchmachen müssen. Davor hatte ich Angst. Vor allem davor. Onkel Phil schluckte. “Ihr wisst, dass ich das nicht akzeptieren kann. Und nicht akzeptieren werde. Niemand geht so mit einem anderen Menschen um. Ob der nun mein Neffe ist, oder nicht!” Scheiße, ich hatte es gewusst. Juli war ebenfalls kreideweiß im Gesicht. Wenn seine Großeltern das mitbekamen, würden Sie beim nächsten Halt in Schweden das Schiff verlassen. Soviel war klar. “Mach dir keine Sorgen, Juli. Du hast großartig reagiert! Und das werde ich auch mit deinen Großeltern genau so besprechen!” Die nächste Pause. “Und was deinen Kontrahenten angeht, Paul. Ich muss mit seinen Eltern reden. Und zwar nur mit ihnen. Kein Sicherheitsdienst. Nur seine Erziehungsberechtigten! Der Junge hat ein Problem. Und das darf nicht totgeschwiegen werden. Ist das in Ordnung für dich? Für euch?” War es natürlich nicht. Zumindest nicht für mich. Ich nickte dennoch. Hatte ja auch keine andere Wahl.
Als wir endlich beim Essen saßen, fühlte ich mich hundeelend, obwohl Onkel Phil und Juli sich alle Mühe gaben, mich zum Lachen zu bringen. Am Essen lag’s garantiert nicht. Junkfood der Extraklasse. Juli war im siebten Himmel. Ich schaufelte lustlos in mich hinein, was der Kellner brachte. So schnell kann’s gehen. Vor einer Stunde war ich der glücklichste Mensch auf diesem Planeten. Und einen Moment drauf wirft mich so ein Spinner komplett aus der Bahn. Diese grundlose Wut. Ich konnte damit nicht umgehen. Aber ich wollte auch nicht immer nur das Opfer sein. Ich musste dagegen ankämpfen. Zwischen zwei Burritos sah Juli, was mich quälte. Und machte plötzlich ein Gesicht, als hätte er auf eine Ratte gebissen. Er nickte leicht und deutete mit der Nase nach Links. Der Spinner. Mein Herz setzte für einen Schlag aus. Ich verschluckte mich und hustete, als ginge es um mein Leben. Prima Paul. Geht’s noch peinlicher? Auch Onkel Phil hatte längst bemerkt, dass ich inzwischen am ganzen Körper zitterte und Juli hasserfüllte Blicke zu einem Tisch schickte, der schräg hinter mir am anderen Ende des Restaurants stand. “Ist er das?”, fragt Onkel Phil? Keine Antwort. “Paul, wenn ich dir helfen soll, wenn du dir helfen willst, dann brauche ich jetzt diese eine Info von dir!” Ja, krächzte ich. Ja, das ist der Typ. “Gut. Willst du mitkommen?” Bitte was? Mitkommen? An den Tisch des Spinners? War Onkel Phil denn jetzt übergeschnappt? “Okay, ist wahrscheinlich besser so”, redete Onkel Phil ruhig weiter. “Juli, du bleibst bitte bei Paul. Egal was kommt!” Juli nickte. “Ihr esst in Ruhe zu Ende und geht dann in die Kabine. Dort macht ihr euch fertig für die lange Filmnacht. Duschen, Baden, Schlafanzug. Das volle Programm!” Himmel, Onkel Phil wollte das wirklich durchziehen. “Und vielleicht macht ihr vorher nochmal klar Schiff!” Wir handelten mechanisch. Onkel Phil stand auf und ging langsam zum Tisch, an dem der Spinner saß. Mit einer blonden Frau. Wahrscheinlich seiner Mutter. Ich war paralysiert. Als Onkel Phil am Tisch der beiden ankam handelte Juli. Er legte sein Besteck fein säuberlich neben die Teller. Trank seine Limonade aus, wischte sich den Mund ab und forderte mich mit einem Kopfnicken auf, das Gleiche zu tun. Dann schob er mich mit sanftem Druck aus dem Restaurant. Ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr, wie wir in die Kabine kamen. Juli setzte mich auf Onkel Pauls Bett und begann, mein Zimmer für die Film- und Popcorn-Orgie vorzubereiten. Mit den beiden Matratzen des Etagenbetts baute er auf dem Boden vor dem Bildschirm eine Liegefläche und polsterte alles mit Kissen und Decken. Softdrinks kamen aus der Minibar. Als er fertig war, hatte ich mich praktisch nicht bewegt. Er stupste mich leicht an der Schulter an. “Pppppaul, willst dddddu auch noch ddddduschen?” Ich schüttelte den Kopf. Hatte ich ja erst kurz vor dem Essen. “Iiiiich aber. Und ddddddu räumst währrenddddessen die Rucksäcke aaaaaus und zzzzziehst wenigstens deine Ssssschlafsachen an!” Hoppla. Das klang ja fast wie Onkel Phil. Ich sah ihm in die Augen. Und entdeckte dort Vorfreude. Auf unseren gemeinsamen Filmabend. Aber auch Sorgen. Und Angst. Auch Juli fürchtete sich davor, dass meine Auseinandersetzung mit dem Spinner alles kaputt machen könnte. Aber das war doch Quatsch. Er hatte doch nichts falsch gemacht. Ich ehrlich gesagt auch nicht. Aber wahrscheinlich war es das, was Freundschaft ausmachte. Mitgehangen, mitgefangen. Aber halt auch: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Wo kamen denn immer all die Floskeln in meinem Kopf her? Ich klang manchmal fast wie meine Mutter. Auf jeden Fall wollte ich Juli nicht enttäuschen. Und mich auch nicht. Ich schluckte den Klos im Hals runter. Nickte. Ich mach’ den Rest hier, Juli. Aber beeil dich! “Warum?”, fragt Juli irritiert. Na weil sonst ich den ersten Film aussuche! Kein wirklich gelungener Spruch. Aber immerhin ein Anfang. Juli verschwand im Badezimmer. “Iiiiiich hänge deine nassen Sachen aus der Wwwwwwanne über die Lllleine, okay?” Ach Shit, die hatte ich ja ganz vergessen. Ist das okay für dich? “Ggggeht schon. Wwwwar ja aaaaaaales eingewwwweicht.” Danke. Flüsterte ich. Dass es dich gibt. Während ich hörte, wie Juli duschte, räumte ich meinen Rucksack aus. Dabei brachte ich auch gleich meinen Kleiderschrank in Ordnung. Unterwäsche sortieren, Shirts und Pullover ordentlich zusammenlegen. Außerdem musste ich noch Platz für die neuen Strumpfhosen schaffen. Juli trug die gelbe Ersatzstrumpfhose, die mir eigentlich zu groß war. Ich hatte noch eine Blaue mit Delphin auf den Beinen in der Größe und beschloss ihn zu fragen, ob er die haben wollte. Die dritte passte und durfte bleiben. Zu Schluss verschwand noch der Rucksack im Schrank. Tür zu. Passt. Jetzt konnte man wenigstens wieder laufen. Ich öffnete die beiden Verschlüsse oben an meiner Latzhose, setzte mich auf die Kante des unteren Bettes und strampelte die Hose von den Beinen. Ihr folgten kurz darauf mein Pullover. Schlafanzug? Ah, Mist. Der war ja noch in der Wäsche. Musste also auch so gehen. Ich humpelte Richtung Badezimmer. Mein Rücken hatte also doch was abbekommen. Hatte ich bis jetzt offensichtlich ignoriert. Dieser verfluchte Spinner. Ich klopfte an die Badezimmertür. Kann ich reinkommen? Zähne putzen? “Kkkklar!”, gurgelte Juli. Im Bad hing noch die feuchte Luft, die von Julis Dusche übrigegeblieben war. Ansonsten hatte er bereits alles wieder in Ordnung gebracht. Seine Handtuch hing ordentlich am Haken, seine Wäsche lag relativ ordentlich auf einem Haufen. Du kannst die Strumpfhose behalten. Ist mir eh zu groß, erklärte ich ihm, während ich mir die Zahnbürste in den Mund schob. Ich hab noch eine in der Größe. Kannst du auch gerne haben! “Okay!”, hörte ich undeutlich hinter dem Schaumpfropfen, hinter dem sich Julis Mund befinden musste. Er trug einen flauschigen Niki-Schlafanzug mit breiten gelb/grünen Blockstreifen. Bisschen knapp am Bauch, aber das war bei ihm ja nichts Neues. Er wirkte damit jünger und zerbrechlicher, als er tatsächlich war. Seine Füße steckten in blauen Socken mit weißen Punkten. Vor knapp zwei Stunden hatte er noch ganz locker einem verrückten Spinner fast die Schulter ausgekugelt. Und jetzt stand dieser Typ in unserem Badezimmer und sah aus wie ein friedliches grün-gelbes Kuscheltier. Krass. “Kkkkein Schlafanzug?”, fragte er, während er seinen Mund ausspülte?” Kopfschütteln. Ich zeigte auf den Wäschekorb. Reden war schwierig. Mund voller Zahnpasta. Juli verstand aber auch so. “Iiiiiich mach schonmal den Fffffernseher an!” Und schon schloss sich die Tür hinter ihm. Mund ausspülen. Fertig. Fast. Schnell noch aufs Klo? Nicht nötig. Ich musste nicht. Egal wie sehr ich mich konzentrierte. Und die Windel war noch trocken. Konnte also nicht viel schiefgehen.
Als ich in mein Zimmer kam, verpuffte alles, was ich mir in den letzten Minuten an Optimismus und guter Laune zurückgeholt hatte. Da saßen Juli. Und Onkel Phil. In solchen Momenten war es üblicherweise gut, dass ich eine Windel trug. Der Schreck blieb diesmal aber ohne Folgen. Onkel Phil lachte mich an. Kein Strahlen. Kein flotter Spruch. Aber er lachte. Also war alles gut. War es doch? Und wenn nicht? “Hübsch habt ihr es hier!”, begann Onkel Phil. Julis Verdienst. Aber lenk’ jetzt bitte nicht ab! “Setz’ dich”, sagte Onkel Phil mit einem Unterton in der Stimme, die mich ein wenig ruhiger werden ließ. Und dann begann er zu erzählen. Ich konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie sich Juli seinen Daumen in den Mund schob. Die Anspannung musste also auch bei ihm irgendwo hin. Onkel Phil war am Tisch des Spinners nicht sehr freundlich empfangen worden. Dabei aber selbst ausnehmend höflich geblieben. Er hatte sich vorgestellt. Als Onkel des Jungen, den der Spinner im Drohnenraum angegriffen hat. “Das war der Moment also ich selbst dachte, das Ding fliegt mir um die Ohren!”, gab Onkel Phil zu. Tat es aber dann doch nicht. Weil im gleichen Augenblick der Kellner die Bestellung der beiden auslieferte und Onkel Phil so den Nachnamen der Blonden erfuhr. Kaspinski. Sie hieß Kaspinski. Mit ihrem Namen angesprochen, war sie immerhin bereit, mit Onkel Phil zu sprechen. Den Spinner, es war wirklich ihr Sohn, stellte sie mit einem rüden “Du hast jetzt mal Sendepause, Dustin!” ruhig. Dustin also. Dustin Kaspinski. “Ich habe ihr als eure Geschichte erzählt”, fuhr Onkel Phil fort. Alles, bis auf ein kleines Detail, das später die Wende brachte!” Detail? Welches Detail? Und welche Wende? Es machte mich wahnsinnig, wenn Onkel Phil nicht zum Punkt kam. Juli sagte nichts. Wie auch, mit dem Daumen im Mund. Aber seine Augen sprachen Bände. “Frau Kaspinski hat darauf natürlich versucht, ihren Sohn zu verteidigen!”, erzählte Onkel Phil weiter. Der sei ein bisschen impulsiv, aber ansonsten komplett friedfertig und sehr vernünftig. Außerdem sei er hochbegabt und deshalb immer wieder Ziel von Angriffen derer, die nicht ganz so helle durchs Leben gehen müssten. Sie kenne das schon und habe sich deshalb ganz bewusst für diese Reise entschieden, um Dustin und ihr etwas Ruhe zu gönnen. Ihr Sohn habe ihr vielmehr erzählt, er sei auf dem Weg in die Kabine von zwei Teenagern belästigt worden. Mir kam die Galle hoch. Die Alte ist ja noch dämlicher als ihr Sohn, fauchte ich. Und handelte mir postwendend einen bitterbösen Blick von Onkel Phil ein. “Paul, wenn wir auch weiterhin gut miteinander auskommen wollen, dann bleibst du besser bei einer Sprache, die ich akzeptieren kann!”. Schweigen. Sorry. Onkel Phil räusperte sich und erzählte weiter. Frau Kaspinski war also absolut der Meinung, dass Dustin komplett unschuldig sei. Außerdem sei er zu besagtem Zeitpunkt im Kaminzimmer gewesen und habe sich einen Krimi als Bettlektüre ausgesucht. “Es war also Zeit, meinen Trumpf auszuspielen!”, grinste Onkel Phil. “Ich wandte mich also an Dustin und sagte zu ihm, dass ich mir sowas schon gedacht hätte und mir ehrlich gesagt auch nicht hatte vorstellen können, dass sich ein kräftiger Kerl wie er sich von Juli hatte festhalten lassen!” Juli verschluckte sich fast an seinem Daumen. Onkel Phil ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen. “Dustin reagierte genau so, wie ich das geplant hatte! Er setzte sich kerzengerade hin und verkündete protzig, dass der Kerl, der ihn in den Polizeigriff nehmen könnte, noch gar nicht geboren sei!” Ich verstand nur Bahnhof. Aber dann hatte Dustin ja gewonnen!? Ich hatte schon wieder Tränen in den Augen. Onkel Phil sah mich erstaunt an. “Und du bist dir sicher, dass du nicht auf den Kopf gefallen bist, bei der Aktion im Drohnenraum?” Jetzt liefen mir wirklich die Tränen über die Backen. “Paul!”, meinte Onkel Phil. “Denk mal mit! Polizeigriff! Er hat Polizeigriff gesagt! Davon hatte ich aber während der ganzen Zeit nichts erzählt! Das konnte er also nur wissen, weil er dabei war. Weil er eben nicht im Kaminzimmer war!” Hä? Oh. Ja. Tatsächlich. Himmel, ich war doch sonst nicht so begriffsstutzig. “Frau Kaspinski schaltete auf jeden Fall etwas schneller als ihr Sohn! Sie ließ den Kellner kommen und Dustins Armband checken. Da war die Abbuchung des Drohnenraums natürlich drauf. Der Rest war dann einfach!” Ja, das war es wirklich. Dustins Mutter war laut Onkel Phil noch am Tisch verbal über ihren Sohn hergefallen. “Das war nicht schön”, erzählte Onkel Phil. Sorgte aber zumindest dafür, dass Dustins harte Fassade zusammenkrachte. Er erzählte, was vorgefallen war, zeigte aber keine Reue. Er fühlte sich bis zum Schluss im Recht!” In Onkel Phils Augen konnte ich sehen, dass sein Sieg. Mein Sieg. Unser Sieg für ihn keiner war. “Dustin hat echte Probleme, Jungs. Ich kann nur vermuten, woher seine Aggressivität kommt!”, meinte Onkel Phil traurig. “Das entschuldigt natürlich gar nichts. Und weder ich noch ihr könnt ihm helfen!” Volltreffer. Genau das war’s. Genau das hatte mir solche Probleme gemacht. Ich hatte gespürt, dass in Dustin irgend etwas kaputt war. Und dass er niemand hatte, der ihm half. Niemand wie Juli. Und schon gar keinen wie Onkel Phil. Ich heulte schon wieder. Er tut mir leid, sagte ich. “Mir auch”, brauchte Onkel Phil die Sache zu Ende. “Er verlässt mit seiner Mutter morgen das Schiff, bevor wir auslaufen!” Darüber hätten wir uns jetzt freuen können. Taten wir auch. Aber es blieb ein fader Beigeschmack. Ich legte meinen Kopf in Onkel Phils Schoß und schloss die Augen. Atmete tief durch. Genoss für einen Augenblick das Gefühl von Sicherheit. Worte überflüssig. Onkel Phil nickte. Und schubste mich ein paar Augenblicke später mit einem Klaps auf das Superman-Logo auf meinem Hintern runter zu Juli. “Dann mal los, ihr Superhelden. Mit welchem Film wollt ihr starten?” Juli zog den Daumen aus dem Mund. Sein Part. Und er überraschte mich mal wieder. “Eeeeeigentlich wollte ich Robin Hood kkkkkucken!”, meinte er. Und er wusste dabei ganz genau, wie langweilig ich diesen Historien-Quatsch fand. “Aaaaber ddddann hab ich mich umentschieden. Wwwwenn ich schschschon mit Sssssuperman hier ffffestsitze, dann wwwwil ich auch ssseine Filme sehen!” Yes! Superman! Juli, du bist ein Knaller! Onkel Phil seufzte. “Paul, wenn deine Mutter erfährt, dass ich dich habe diesen Qutasch schauen lassen, bin ich tot!” Ich verdrehte die Augen. “Wir machen das so”, meinte er, während er mit dem Smartphone in der Hand aus dem Zimmer ging. “Ich schalte euch ein paar Filme frei, die eurem Alter entsprechen könnten. Kann sein, dass da ein paar Superman-Filme dabei sind. Aber natürlich auch jede Menge Dokumentationen und so!” Ein Augenzwinkern. “Nnnnatürlich!”, prustete Juli. Und scrollte sich durchs Menü. Da war Onkel Phil schon verschwunden. Er würde die nächsten Stunden in einem der Büros sitzen und arbeiten. Bilder verschicken, Bilder bearbeiten. Und Kunden kontaktieren. Sturmfrei. Ich kuschelte mich in eine Decke, stellte eine Flasche Limonade neben mich und griff mit der Hand in eine der Chipstüten, die Onkel Phil im Zimmer deponiert hatte. Film ab, eure Lordschaft!
Zwei Superman-Blockbuster später waren wir komplett im Superhelden-Fieber. Juli startete von der oberen Etage des Hochbetts und landete mit ausgestreckter Faust … auf mir. “Ha! Iiiiiich hab Ssssssuperman erledigt! Eeeeendlich!” Die Rollenverteilung war klar. Da ich der einzige im Raum mit echtem Superman-Equipment war, musste Juli immer in die Rolle des Bösewichts schlüpfen. Er tat das mit großer Sorgfalt und Überzeugungskraft. Wobei es meist seine Kraft war, die mich schließlich davon überzeugte, jedes Duell vorzeitig zu beenden. Da half auch das rote Handtuch nicht, das ich mir der Vollständigkeit als Cape in den Kragen meines Unterhemds gestopft hatte. Im Kampf gegen Chips, Popcorn und Gummibärchen hatten wir dann aber doch jedesmal unsere Kräfte vereinigt. Die Achse der Hungrigen. Nach jeder Schlacht mit reichlich Limonade nachspülen. Dann wieder ein Duell zwischen Matratzen, Kissen und Bettgestell. Ein sensationeller Abend. Nach seiner letzten Flugeinlage schnaufte Juli dann aber doch wie eine asthmatische Dampflok. Ich klang nicht besser. Kunststück. Er lag ja auf mir drauf. Außerdem war es schon fast 24 Uhr und wir waren seit 6 Uhr in der Früh auf den Beinen. “Wwwwaffenssssstillstand?” keuchte er? Waffenstillstand! Juli wälzte sich von mir runter und rollte sich neben mir zusammen. Er swipte durchs Menü der für uns freigegebenen Filme und suchte was, um runter zu kommen. “Ffffindet Nemo?” Ein Scherz jetzt, oder? “Iiiiindiana Jjjjones?” Entspannen, Juli! “Dddddie Wwwwelt von Oooooben?” Das klang schon besser. Ich liebte die Bilder. Die Höhe. Die Details. “Ggggeht lllos!” Ich baute mir aus einer Decke und unzähligen Kissen ein bequemes Nest und wühlte mich rein. Himmlisch. Juli kam aber noch nicht zur Ruhe. Wie bei den Filmen zuvor hatte er längst den Daumen im Mund und nuckelte. Zwischendurch gähnte er ausgiebig. Keine Frage, er war fix und fertig. Müde? “Gggeht so. Jjjja!” Dann schlaf doch. “Jjjja, mmmmach’ ich jjjjja gggggggleich!” Er gab sich alle Mühe, lässig zu wirken. Dabei wusste ich ganz genau, was ihm fehlte. Du kannst ihn ruhig rausholen, Juli! Er sah mich mit riesigen Augen an. Spielte den Ahnungslosen. “Wwwwas mmmmmmeinnnnnst ddddu?” Erwischt. Juli, ich hab gesehen, was du vorhin bei dir im Zimmer eingepackt hast! Vor mir brauchst du dich nicht zu verstecken. Vor mir ganz sicher nicht. Ich zeigte auf meinen nicht zu übersehenden Windelpopo. Schon vergessen? Er kaute auf seiner Unterlippe. Kämpfte mit sich selbst. Und traf eine Entscheidung. Ein Griff in seine Sporttasche, und schon hatte er einen Schnuller im Mund. Ein buntes Teil. Ein bisschen größer als die Dinger, die Babys nutzten. Aber ansonsten ein Schnuller halt. “Wwwwwen meine Großeltern ddddas eeeeerfahren, bbbbin ich ggggeliefert!” Er flehte mich mit seinen Blicken an. Und ich würde ihn nicht enttäuschen. Niemals! Weiß gar nicht was du meinst, Juli? Er grinste, erleichtert. Und war wenige Minuten später eingeschlafen. Ich hielt nicht viel länger durch.
Als Onkel Phil um kurz nach ein Uhr nach uns sah, war von der wilden Film-Fete nicht mehr viel übrig. Juli lag halb unter dem unteren Stockbett, ich hatte mich fast komplett in das rote Handtuch gewühlt. “Wenn ich davon ein Foto mache, habt ihr beide mal bei euren Hochzeiten viel zu lachen”, grinste Onkel Phil in sich selbst hinein. Lies die Kamera dann aber doch aus. Er zog Juli vorsichtig unterm Bett vor und deckte ihn ordentlich zu. Dabei sah er den Schnuller, den er im Mund hatte. “Soll er doch. Bei sich zu Hause wird er das nur unter maximaler Geheimhaltung machen können, der arme Kerl!” Als er mich aus dem Handtuch wickelte, checkte er kurz meine Windel. Die war an ihrer Belastungsgrenze. “War ja klar”, dachte sich Onkel Phil und schielte auf die leeren Limonadenflaschen. “Jeder mindestens drei Liter”. Er trug mich vorsichtig zu seinem Bett und zog mir die Strumpfhose aus. “Muss jetzt leider sein, Paul!” Zwei kurze Bewegungen, dann war die Pullup offen. Er rollte die klatschnasse Windel zusammen und warf sie in Richtung Badezimmer. Aus meinem Schrank holte er eine frische Windel und zog sie mir an. Strumpfhose drüber. Perfekt. Hatte keine fünf Minuten gedauert. Mitbekommen hatte ich davon überhaupt nichts. Er verfrachtete mich zurück in mein Zimmer und legte mich neben Juli. Das dynamische Duo komplett ausgeknockt. War ja auch kein Problem. Morgen könnten alle ausschlafen. Julis Großeltern hatte die ganze Bande zum Frühstück eingeladen. Um 10 Uhr in der Suite. Also, Licht aus. Morgen stand ein ganzer Tag auf See an. Den Jungs würde ein ein toughes Tagesprogramm verpassen und selbst ein paar Stunden im Wellnessbereich verschwinden. Hatte er sich verdient, fand er. Und schlief ein.
Es war der Horror. Ich wurde beschossen. Von allen Seiten. Ich sprang hinter Tische, Sofas und Kommoden. Aber sie waren überall. Winzige Flugdrohnen, an denen blutrote Superman-Capes befestigt waren schwirrten um mich herum. Und sie ballerten mit giftgrünen Kryptonit-Pfeilen um sich. Aus winzigen Lautsprechern ertönte immer nur das gleiche Wort: Freak! Freak! Freak! Ein grausamer Chor aus 1000 Stimmen. Jeder Treffer war schmerzhaft. Bis jetzt hatte ich nicht viel abbekommen. Aber meine Kräfte verließen mich. Dann verhakte ich mich an der Platte eines Tisches, auf dem Feuchttücher, Cremes und riesige Windeln lagen. Ich knallte der Länge nach hin. Mit dem Gesicht auf den Boden. Der Schmerz war brutal. Ich schmeckte Blut. Drehte mich panisch um. War ich da gerade echt an meinem eigenen Wickeltisch hängen geblieben? Sah so aus. “Das war’s für dich!”, tönte es aus den Lautsprechern der Kampfdrohnen. Sie gruppierten sich vor mir. Winzige grüne Laserpunkte versammelten sich auf meiner Brust. Ich brüllte. Vor Panik. Und saß plötzlich senkrecht im Bett. Oder besser: auf der Matratze auf dem Boden. Neben mir schnorchelte Juli, der Schnuller war ihm zur Hälfte aus dem Mund gerutscht. Das Wummern in meinen Ohren ließ nur langsam nach. ich zitterte. Scheiße. Ein Best of aus Superman und der Keilerei mit Dustin. Alles in einem Traum. Das war echt zu viel. Erst jetzt spürte ich, dass sich der Boden bewegte. In alle Richtungen. Was war denn hier los? Langsam. Ganz langsam kam die Erinnerung zurück. Ach ja, das Unwetter. Hatte uns wohl jetzt voll erwischt. Ich mochte die wilde See. Draußen, wenn ich Wind und Wetter spüren konnte. Aber hier, in einem fensterlosen Raum, war das nicht gut. Ganz und gar nicht gut. Gerade als sich der Boden besonders fies zur Seite neigte, schepperte es links vor mir. Die oberste Schublade meines Schrankes fuhr auf, sprang aus der Führungsschiene und knallte auf den Boden. Die Windeln, die ich darin gestapelt hatte, flogen durchs Zimmer. Na klasse. Jetzt war auch Juli wach. Der schreckte hoch und knallte dabei gegen den Rand des unteren Stockbetts. Oder genauer: Prallte an der Schere eines grinsenden Hummers ab, der die Bettumrandung verzierte. Ausgeknockt von Onkel Phils Lieblingsessen. Man kann zärtlicher geweckt werden. Juli jammerte. Und kroch unterm Bett vor. Sein Blick kombinierte Schreck, Müdigkeit, Verwirrung und Angst. Auf die ungünstigste Art und Weise. “Ppppppaul, wwwwaaas …?” Er war kaum zu verstehen, so stark stotterte er. Er war der mutigste Kerl, den ich kannte. Aber starker Seegang machte ihn fertig. Ich versuchte mein “Alles easy”-Gesicht hinzubekommen. Hatte aber wohl nicht intensiv genug geübt. Es wurde statt dessen die “Ich hab eine Scheiß-Angst”-Fratze. Da ging plötzlich das kleine Nachtlicht an der Tür an. Onkel Phil stand da, ebenfalls mächtig zerzaust. “Ist irgend jemand was passiert?”, fragte er ins Dämmerlicht? Nö. Wir sind fit. Er sammelte die Einlagen ein, die sich überall verteilt hatten, setzte die Schublade wieder ein und sicherte sie diesmal mit einem Sturmhaken. Ich erholte mich langsam. Wie gesagt, ich mochte die Schaukelei ja eigentlich. Juli aber war nur noch ein Schatten seiner selbst. Er hatte sich zusammengerollt und lag jetzt wimmernd fast komplett unterm Bett. “Dddddddas ssssssoll aaaaaufhören. Bbbbbitte!” Meine Kehle schnürte sich zusammen. Das war furchtbar, ihn so leiden zu sehen. Onkel Phil ging auf die Knie und arbeitete sich über die Matratzen und Decken langsam zu Juli vor. Dann zog er ihn mit unglaublicher Vorsicht zurück auf die Matratze. Julis Gesicht glänzte vor Tränen, Schweiß und Rotz. Ich angelte ein Feuchttuch aus der Tasche an der Wand und reichte es Onkel Phil. Der saß mittlerweile mit dem Rücken zur Wand und hatte Julis Kopf in seinen Schoß gelegt. Während er sein Gesicht abwischte, sprach er ruhig auf ihn ein und schob ihm mit der freien Hand den Schnuller in den Mund, den ich in der Zwischenzeit unterm Bett hervorgeholt hatte. Das funktionierte. Juli wurde ruhiger. Atmete wieder gleichmäßig. Und dämmerte langsam wieder ein. Ich rollte mich auf der anderen Seite neben Onkel Phil in meine Decke ein und schmiegte mich dann gegen ihn. Mit seiner Hand streichelte er mir über die Augen, so wie das meine Mama früher immer gemacht hatte, wenn ich nicht schlafen konnte. Ich verschmolz mit den Bewegungen des Schiffes und fand endlich in einen traumlosen Schlaf.
Teil 8
Der nächste Morgen war brutal. In jeder Hinsicht. Juli und ich hatten definitiv zu wenig geschlafen. Erst unsere kleine private Kino-Nacht, dann das Unwetter. Wenn dein Körper mindestens zehn Stunden Schlaf gewöhnt ist, fühlen sich sechs Stunden an, als hätte man gar nicht geschlafen. Pünktlich um sieben Uhr in der Früh hatte Onkel Phil das Licht angemacht. Volle Power. Ein Flutlicht war nix dagegen. Ich stöhnte. Ich erkläre dir bei Gelegenheit gerne, wie man den Dimmer benutzt, muffelte ich in Onkel Phils Richtung. Zu den Technik-Spielereien unseres High-Tech-Dampfers gehörte auch ein Lichtsystem in den Kabinen, das praktisch jede Lichtstimmung imitieren konnte. Wer wollte, konnte sich von einem hawaiianischen Sonnenaufgang wecken lassen. Polynesisches Volksliedgut inklusive. Wie gesagt, wer wollte. Das war das Problem. Onkel Phil wollte nicht. Ausschlafen, das hieß bei ihm alles nach 6 Uhr. Das konnte nur ein Gendefekt sein. Ich kannte niemanden in meiner Familie, der so gerne so früh aufstand! Und wo war eigentlich Juli? Ich ortete ein leises Plätschern. Konnte nur die Dusche sein. Und da Onkel Phil bei mir im Zimmer war, auf der Bettkante saß und mich penetrant anlächelte, war Juli offensichtlich deutlich besser drauf als ich. “Wieder jemand zu Hause?”, fragte Onkel Phil plötzlich und unterbrach mich damit in meinen Bemühungen, den Nebel aus zu wenig Schlaf und grundsätzlicher Morgenmuffeligkeit aus der Rübe zu kriegen. Ich streckte ihm meine linke Handfläche hin. Talk to this Hand! Ha, das hatte gesessen! Ich grunzte zufrieden und zog mir die Decke über den Kopf. Herrlich. Warm. Dunkel. Gemütlich. So wie es sein s…. Die DECKE! Er hatte mir die Decke weggezogen! Folter! Mistkerl! “Paul, wir können das jetzt so lange spielen, bis du auf dem nackten Boden liegst. Können wir diese Aktion nicht abkürzen?” Nö. Ich hatte heute meinen renitenten Tag. Bleib mir also weg mit dem Vernunfts-Scheiß! Wieder dieses unverschämte Grinsen. Natürlich nahm er mich nicht ernst. Ich fand mich ja selbst nicht sonderlich überzeugend. Vor allem deshalb nicht, weil ich eigentlich aufstehen wollte. Wollte? Ne? Musste. Ich musste aufs Klo. Und zwar so dringend wie man eben zur Toilette muss, wenn man mindestens zwei Packungen Chips, Erdnuss-Flips, zwei Liter Limonade und locker eine Tüte Gummibärchen intus hat. Die Limonade war zu diesem Zeitpunkt nicht mein Problem. Aber der ganze Rest. Und den wollte ich auf keinen Fall in meiner Windel haben. Nicht. Schon. Wieder! Onkel Phil schien zu wittern, dass ich ein Problem hatte. “Alles okay bei dir?” fragte er misstrauisch. Ich nickte betont lässig. Ich war noch nicht so weit, ihn um Hilfe zu bitten. Ich musste doch irgendwann auch mal was alleine hinbekommen, zum Teufel! Juli würde jeden Moment aus dem Bad kommen. Mit einem gut vorbereiteten Sprint und ein bisschen Selbstbeherrschung sollte ich das hinbekommen. Juli allerdings, war nicht jeden Moment fertig. Und nicht im nächsten. Und auch nicht im übernächsten. Als die Dusche endlich Ruhe gab, schöpfte ich Hoffnung. Die sich aber schon wenige Augenblicke später in Luft auflöste. Juli war immernoch im Bad. Wahrscheinlich saß er jetzt auf dem Klo. Meine Selbstsicherheit war wie weggeblasen. Ich schwitzte. “Paul?” Onkel Phil gab nicht auf. Lass mich! Ich Zitterte. Jetzt. Die Tür zum Bad. Ich sprang aus dem Liegen auf die Füße. Karate Kid ist nix gegen diesen Move. Ich war von mir selbst beeindruckt. Bereute diesen Augenblick jugendlicher Naivität aber umgehend. Alles hat seinen Preis. Auch ein Alarmstart nach einer viel zu kurzen Nacht. Die Konzentration, die ich bislang darauf verschwendet hatte, die Pobacken zusammen zu kneifen, wurde jetzt woanders gebraucht. Es dauerte genau zwei Schritte, bis ich anfing, das zu realisieren. Fünf, bis ich spürte, dass ich verloren hatte. Ich wusste was kommen würde. Keine zwei Meter von Onkel Phil entfernt endete mein Sprint. Mir war schwindelig. Ich schnaufte. Beugte mich nach vorne und stütze mich auf meinen Knien ab. Mit einem dumpfen Pupser suchte sich mein Darminhalt seinen Weg. Ich hatte den Widerstand aufgegeben. Wollte nur, dass es schnell ging. Ich spürte, wie sich die Windel am Po ausbeulte und sich die Masse, nachdem dieser Raum gefüllt war, in Richtung Rücken und zwischen die Beine schob. Laut Eskalationsdrehbuch hätte ich jetzt in Tränen ausbrechen müssen. Aber ich war nicht traurig. Oder wütend. Ich war leer. Die totale Resignation. Und wie um dieses Empfinden noch zu unterstreichen, erklärte sich nun auch meine Blase ihre Solidarität mit dem Darm. Mit einem Zischen, das wahrscheinlich bis zum Kapitän zu hören war, legte das Desaster einen ekelhaften Endspurt hin. Als alles endlich vorbei war, sank ich auf die Knie. Dass das die Sache nicht besser machte, war jetzt auch schon egal. Ich wollte mich verkriechen. Wollte die Zeit zurück drehen. Alles auf einmal. Was war denn bitte mit meinem Körper los? Doktor Eisemann hatte gesagt, dass mit den Medikamenten schnell alles besser werden würde. Doch statt die “Windeln wahrscheinlich gar nicht zu brauchen”, verlor ich Stück für Stück die Kontrolle. Langsam kam das Selbstmitleid. Und mit ihm auch die Erkenntnis, dass Onkel Phil ja immernoch im Zimmer saß. Er hatte neben mir gesessen, als ich wie ein Kleinkind in die Windel gemacht hatte. Fünf Meter von der Toilette entfernt. Weil ich… ja, weil ich den coolen Max hatte raushängen müssen. Ein Wort zur richtigen Zeit und die Sache wäre wahrscheinlich noch zu regeln gewesen. An der Badezimmertür klopfen. Juli aus der Dusche holen. Fertig. Ich schämte mich. “Bist du fertig?”, fragte Onkel Phil, und setzte sich neben mich. Ich weinte noch immer nicht. Warum auch. Würde eh nichts mehr bringen. Ich sah ihn mit leeren Augen an. Das Bad war besetzt. Nicht genug Kontrolle. Was sagt man sonst, wenn man als Elfjähriger vor seinem Onkel kniet und sich gerade vor seinen Augen vom Beinahe-Teenager zum Windelkind verwandelt hat. Nicht viel. Richtig. “Ich bereite drüben mal alles vor. Kommst du dann, wenn du soweit bist? Bring bitte alles mit, was wir brauchen um dich frisch zu machen!” Da war er wieder. Onkel Phils Notfallmodus. Eigentlich war ich schockiert. Denn eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass er in den Arm nahmen würde. Mich beruhigen. Und mir damit wahrscheinlich direkt den Weg in den nächsten Zusammenbruch gewiesen hätte. Aber Onkel Phil aber war einfühlsam genug, mir jetzt nicht auch noch das Gefühl zu geben, ich sei ein hilfloses Kleinkind. Ich hörte, wie drüben Juli aus dem Bad kam. Bestens gelaunt. Bis Onkel Phil ihm mit knappen Worten schilderte, was passiert war. Er bat ihn, warmes Wasser und Waschlappen aus dem Badezimmer zu holen. Scheiße, Juli. Der würde ja auch alles hautnah mitbekommen. Ich rappelte mich hoch. spürte, wie die warme Windel überall an mir klebte. Ich tastete kurz meinen Hintern ab. Oh mein Gott. Als ich frische Unterwäsche, eine Windel, eine Strumpfhose, ein T-Shirt und die Latzhose aus dem Schrank nahm, geriet ich in die Duftfahne, die ich hinter mir herzog. Ich würgte. Es war unbeschreiblich. Und das war erst der Anfang. Wie ferngesteuert trat ich neben Onkel Phils Bett, das sich in einen provisorischen Wickeltisch verwandelt hatte. Handtuch, Wickelunterlage, Wasser, Waschlappen, Feuchttücher und eine Creme. Plötzlich stand Juli neben mir. In Unterwäsche. “Ich räum drüben mal auf!” Kein Stottern. Keine Häme. Nichts. Danke! Ich reichte Onkel Phil die Wechselwäsche und setzte mich aufs Bett. Langsam und Vorsichtig. Und dennoch konnte ich spüren, wie sich die klebrige Masse dadurch weiter verteilte und langsam auch vorne in der Windel ankam. Bitte hol mich hier raus, Onkel Phil. Bitte! So weit waren wir aber noch nicht. “Hör mir bitte kurz zu, Paul!” Onkel Phils Stimme war ruhig. Wie immer. Aber mit einem ernsten Unterton. Ich krallte mich in die Matratze und nickte. “Ich weiß, dass das gerade vielleicht zu verhindern gewesen wäre. Ein bisschen früher mit mir reden. Einen coolen Spruch weniger. Ein bisschen mehr Vertrauen!” Ja Mann, das wusste ich doch alles schon. Aber ich will nicht immer der Freak sein, der nichts auf die Reihe bekommt. Der… der … der sogar zu doof ist, aufs Klo zu gehen! Ich hasse das! Jetzt war’s raus. Die Stille im Raum bereitete mir beinahe körperliche Schmerzen. Jetzt steckte Juli seinen Kopf ins Zimmer. Er hatten seinen Schnuller im Mund. Was war denn jetzt los? “Hey! KKkkeine Sprüche üüüüber Ffffreaks!” Abgang. Dann wieder Stille. Ich musste grinsen. Dabei war mir eher danach, irgend etwas kaputt zu treten. Immerhin war ich wieder ein bisschen lockerer.“ Onkel Phil schnippte mit den Fingern. “Hallo, ich war noch nicht fertig!” Sorry. Da war schon wieder dieser Geruch. Bei jeder Bewegung drang davon etwas an meine Nase und erinnerte mich daran, wie es in meiner Hose aussah. “Ich sagte vielleicht wäre das zu verhindern gewesen!”, fuhr Onkel Phil fort. “Aber die Wahrheit ist: Ich weiß es nicht! Die Sache mit der Blasenentzündung war klar. Und es war auch klar, was passieren könnte. Warum du offensichtlich auch Schwierigkeiten hast, deinen Darm unter Kontrolle zu behalten, weiß ich nicht. Und du auch nicht. Es muss dafür eine medizinische Erklärung geben. Alles andere würde mich sehr überraschen. Zumindest sah das gerade in deinem Zimmer für mich nicht so aus, als sei das ein großer Spaß gewesen, die Windel voll zu machen!” Ich schüttelte den Kopf. Reden ging nicht mehr. Konnte Onkel Phil das nicht auch riechen? Ich war kurz davor, mich zu übergeben. “Sobald wir zurück auf dem Festland sind, besorge ich dir einen Termin bei Doc. Eisemann. Der muss sich das ansehen! Und in der Zwischenzeit machen wir genau so weiter, wie bisher. Keine Freak-Sprüche. Kein Selbstmitleid! Wenn’s für mich in Sachen Windel was zu tun gibt, bin ich für dich da. Alles andere, entscheidest du selbst!” Okay. Das fühlte sich nicht gut an. Es fühlt sich gerade gar nichts gut an. Aber immerhin vernünftig. Und es war etwas, an dem ich mich festhalten konnte. “Und jetzt wollen wir mal sehen, dass wir dich aus der Windel rausbekommen. Du riechst ein bisschen streng!” Er zwinkerte mit den Augen und gab mir einen Schubs. Ich lag jetzt auf einer Unterlage, die aus einem großen Badetuch und einer hellblauen Einweg-Wickelunterlage bestand. Onkel Phil griff in den Bund meiner Strumpfhose und streifte sie nach unten. Er verzog das Gesicht. Der Geruch war jetzt kaum noch auszuhalten. Ich hob den Kopf und schielte nach unten. Unter der hellblauen Folie schimmerte es gelb. Die Nässeindikatoren leuchteten in einem satten Giftgrün. Knallvoll, das Teil. Onkel Phil drehte den Kopf zur Seite, atmete tief ein und riss mit zwei schnellen Bewegungen die Seitenbündchen auf. Sein Blick sprach Bände. Ich schloss die Augen. Eine einzige Träne suchte sich den Weg über mein Gesicht. Mit der Vorderseite der Windel wischte Onkel Phil den gröbsten Dreck weg. Dann säuberte er den gesamten vorderen Windelbereich gründlich mit Feuchttüchern. “Popo hoch!” Ich stemmte meinen Hintern nach oben und spürte, wie Onkel Phil die Windel unter mir wegzog. Er formte aus dem Elend eine großes Paket und legte es zu den benutzten Feuchttüchern. Dann reinigte er auch den hinteren Teil der Windelzone mit Feuchttüchern. “So, das Schlimmste haben wir hinter uns!” Er schnaufte erleichtert. Nachdem er Windel und Feuchttücher in der Windel-Mülltüte entsorgt hatte, kam die Feinarbeit mit warmem Wasser und Waschlappen. “Ich muss dich gleich auch noch ein bisschen eincremen”, kündigte er an, während er die letzten Reste des Dramas beseitigte. “Deine Haut ist an einigen Stellen ziemlich gereizt!” Jetzt war ich doch einigermaßen überrascht. Von der Wickelaktion heute Nacht hatte ich ja nichts mitbekommen. Onkel Phil klärte mich auf. “Deshalb ist es wirklich wichtig, dass du nasse Windeln sofort wechselst! Das kannst du wunderbar alleine. Und wenn wir in der Kabine sind, dann solltest versuchen, immer wieder ganz ohne Windel klarzukommen!” Wieder nur ein Nicken. Ich konnte ja selbst spüren, wie gut die frische Luft da unten tat. Als Onkel Phil die Creme auftrug, bekam ich eine Gänsehaut. Kalt! Fühlte sich aber gar nicht so schlecht an. Außerdem roch die Creme gut. “Lass das bitte ein paar Minuten einziehen. Dann kannst du dich anziehen! Ich verschwinde mal eben im Bad und mache mich frisch!” Ich sah ihm tief in die Augen und flüsterte ein leises Danke. Er erwiderte meinen Blick und deutete auf sein Handgelenk. Alles wird besser, vielleicht sogar gut.
Ich blieb noch ein paar Minuten. Versuchte ein paar Gedanken zu sortieren. War das hier eigentlich Urlaub? War es natürlich. Aber die letzten Tage fühlten sich an, als hätte jemand mein Leben vorgespult. Alles ging so schnell. Wahnsinn. So viel Ups, so viel Downs. Ich taste nach der Creme. Meine Haut fühlte sich trocken an. Schien eingezogen zu sein. Und jetzt? Mit Windel, oder ohne? Spontan wollte ich eigentlich auf Nummer sicher gehen. Alleine schon der Gedanken an die letzten Unfälle trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Also Windel an und fertig? Mir wurde heiß und kalt. War ich wirklich schon so weit, dass ich mich ohne Windel nicht mehr aus dem Zimmer traute? Wollte ich unbedingt auf Nummer sicher gehen? Oder war das pure Bequemlichkeit? War ja alles ganz einfach mit Windel. Wenn’s klappte, fühlte ich mich gut. Wenn’s in die Hose ging, sorgte die Windel dafür, dass die Sache ohne echte Folgen blieb. War ich wirklich so feige? Onkel Phil hatte wahrscheinlich Recht. Irgend etwas stimmt mit meinem Darm nicht. Aber ich hatte es ihm auch zu leicht gemacht. Hatte es mir zu leicht gemacht. Ich hatte die ganze Zeit über die blaue Windel in den Händen gehabt. Hatte nervös an den Bündchen gespielt und das Saugkissen betastet. Jetzt traf ich eine Entscheidung. Heute keine Windel. Zumindest tagsüber. Ich zog mir also meine letzte verbliebene Slipboxer heran. Dazu ein hellgrünes Unterhemd. Drüber zog ich eine buntes Nicki-Langarmshirt mit Blockstreifen. Und weil mir heute kuschelig zu Mute war, entschied ich mich spontan für die neue helblaue Frottee-Strumpfhose. Die passte auch zu meinem Shirt. Leider hatte ich vorher die rote Sportstrumpfhose aus der Schublade gezogen. Ehrlich gesagt hatte ich gar nicht hingesehen, was ich mitgenommen hatte. Ich verzieh mir selbst. Emotionaler Ausnahmezustand. Den Elfjährigen will ich sehen, der vor seinem Kleiderschrank rationale Entscheidungen trifft, nachdem er gerade seine Windel vollgemacht hat. Ich marschierte als halb angezogen in mein Zimmer. Dort lag Juli im unteren Stockbett und nuckelte am Daumen. Ganz schön faul, eure Lordschaft! Juli schnaubte. “Wwwwährend du ddddich hast wwwwwickeln lassen, hab iiiiich hier wenigstens aaaaufgeräumt! Uuuuunter meiner Wwwwwürde, übrigens!” Okay, 1:0 für ihn. Aber wollte er nicht langsam mal was anziehen? Wollte er. Aber er konnte nicht. “Ddddddie Ssssstrumpfhhhhhose?”, kam hinterm Daumen hervor. Hä? Welche Strumpfhose? Oh, Moment. Himmel, stand ich auf der Leitung. Ich hatte Juli doch gesagt, er könne die grüne Ersatzstrumpfhose haben, die mir um Welten zu groß war. Als ich die grüne Thermostrumpfhose aus der Tasche kramte wurde mir nochmal bewusst, dass die mir niemals gepasst hätte. Ein Riesenteil. Ich warf sie Juli zu, der sich sofort daran machte, sein neues Kleidungsstück anzuziehen. Sie passte super. Trotz Julis stattlichem Bäuchlein. Drüber zog er einen beigen Rollkragenpullover und einen grünkarierten Pullunder. Dazu kombinierte er eine dunkelbraune Cordhose. Die blieb aber erstmal auf dem Bett liegen. Hier drin war es warm genug. A propos warm. So ganz ohne Hose war es das definitiv nicht. Ich kramte also in der Schublade und fand die hellblaue Frottee-Strumpfhose. Natürlich ganz unten. Wie immer. Ich schlüpfte hinein und sah dabei Julis erstaunte Blicke. “Kkkkkeine Windel?” Ich schüttelte den Kopf. Ich versuch’s. Und ich will das schaffen. Brauche aber deine Hilfe. Jetzt schaute Juli noch überraschter. “Wwwwwie kann ich dddir denn hhhhelfen?” Eigentlich easy. Du nimmst mich einfach immer mit aufs Klo. Jetzt wurde Juli rot. “Sssssspinst dddddu?” Oh, halt. Stop! Nicht falsch verstehen. Du sollst mich einfach dran erinnern, aufs Klo zu gehen. Immer dann, wenn du auch musst. Mehr nicht. Ein Glück, Julis Gesichtsfarbe normalisierte sich wieder. “Kkkklingt vvvernunüftig!”, urteilte er. “Aaaaaber was hhhhhälst du von einem Codewort?” Äh, warum dass denn? Kam aber schnell selbst drauf. Zwei Jungs, die immer gleichzeitig aufs Klo gehen, das war nicht in jeder Situation eine gute Idee. Und mit so einem Codewort konnte er mich daran erinnern. regelmäßig auf die Toilette zu gehen, ohne dass sich irgend jemand blosstellen musste. Gute Idee. Es gibt also noch Hoffnung für den Landadel. “Bbbbuttermilch”, schlug Juli als Codewort vor. Ich fand’s doof, und zeigte ihm einen Vogel. Er ließ aber nicht locker. Also: Buttermilch!
Also Onkel Phil frisch aus der Dusche zu uns stieß, alberten wir auf dem unteren Bett herum. Juli versuchte, sein Smartphone zurück zu bekommen, dass ich ihm gerade gemopst hatte. “Schön, dass ihr Spaß habt!”, feixte Onkel Phil und nahm wohlwollend war, dass vom Chaos der Nacht nicht mehr viel zu sehen war. “Aber ihr denkt bitte an eure Aufgabe, die ihr bis zum Frühstück noch zu erledigen habt?” Vier auffällig ahnungslose Augen schauten in Richtung Tür. “Keine Chance!”, bliebt Onkel Phil hart. “Ihr wertet jetzt eure Aquariumszeichungen aus und setzt euch dann an den Tagesbericht von gestern. Fünf Seiten! Ihr habt 90 Minuten!” Juli stöhnte. Ich verdrehte die Augen. Wann zwischen grade und jetzt hatte Onkel Phil eigentlichen diesen Drill-Seargent-Ton für sich entdeckt? Half ja aber alles nichts. Um im Internet recherchieren zu können, reichte mir Onkel Phil sein Tablet. Juli hatte ja sein Smartphone. Ich kletterte ins obere Bett und faltete meine Aquariumsgemälde auseinander. Mann, war ich gut. Juli jammerte. “WWWWas soll ich denn da eeeeerkennen?” Ich grinste und machte mich an die Arbeit. Und auch Juli sah irgendwann ein, dass das Genöle nichts brachte. Ich hörte, wie sein Stift übers Papier kratzte. Die Sache mit dem Aquarium war schnell erledigt. Die Zeichnung war gut und im Netz fand ich schnell, was ich da eigentlich gezeichnet hatte. 12 Verschiedene Fische bzw. Meeresgetier und 8 verschiedene Pflanzen. Juli, du? Er grunzte. “Iiiiich hab den Zzzzzitteraal. Und eine Wwwwwwellhornschnecke!” Oh. Mein Punkt. Ich strahlte. “Ddddafür hab iiiich ssssschon sssssechs Seiten!” Fuck! Der Tagesbericht. Ich hatte die Zeit völlig aus den Augen verloren. Wie lange noch? 35 Minuten. Jetzt musste es schnell gehen. Ich versuchte, den gestrigen Tag in fünf DIN A4-Seiten zu pressen. Ganz schon schwer. Zumal ich ja an meine Mama schrieb. Und die wollte eigentlich immer alle Details wissen. Und alleine meine Probleme mit den Windeln würden locker zehn Seiten füllen. Also mussten Stichworte reichen. Den Rest müsste sie von Onkel Phil erfahren. Die beiden telefonierten eh regelmäßig.
Pünktlich nach 90 Minuten stand Onkel Phil wieder in der Tür. “Fertig werden! Wir müssen in zehn Minuten oben bei deinen Großeltern sein, Juli!” Er sammelte die beschriebenen Zettel und sein Smartphones ein. “Hast du alles gepackt?”, ging die Frage nur an Juli. “Jjjja. Nur nnnnoch die Hhhhose anziehen!” Und schon zog er sich seine Cordhose über den Po. “Und Juli: Denk bitte an deine Atmung! Das kannst du besser!” Ich sah Juli an, dass ihm dieser Hinweis unangenehm war. Aber er schnaufte durch und konzentrierte sich. “Mach ich!” Er konnte es wirklich besser. Ich war mittlerweile vom Bett gesprungen und kämpfte mit den Trägern meiner Latzhose. “Paul, nimmst du im Rausgehen bitte die Windelmülltüte aus dem Bad mit? Die muss vorne in den großen Müllschlucker!” Jetzt war es mir unangenehm. Ich spürte, wie meine Ohren rot wurden. “Paul, mach bitte keine große Sache draus! Der Geruch ist einfach grenzwertig!” Er hatte ja Recht. Wie immer. Aber mit der gut gefülltenTüte über den Flur marschieren? Und wenn mich jemand sah? Onkel Phils Blick ließ aber keine Diskussion durch. Da musste ich durch. Fünf Minuten später marschierten wir über den Flur, ich ganz hinten mit der Tüte in der Hand. Krass, wie schwer die vollen Windeln waren. Noch ein Grund, den Verbrauch deutlich zu reduzieren! Ich hoffte nur, dass ich den Vormittag bei Juli Großeltern ohne Unfall hinbekam.
Pünktlich um 10 Uhr öffnete Juli die Tür zur Suite. Seine Großmutter kam gerade aus dem Schlafzimmer und schloss ihn in die Arme. Er hatte es genossen, mit uns unterwegs zu sein. Aber er war ganz offensichtlich auch froh, den Graf und die Gräfin wiederzusehen. Die Begrüßung seines Großvaters fiel etwas nüchterner aus. Er bedankte sich bei Onkel Phil dafür, dass er Juli dieses kleine Abenteuer ermöglicht hatte und erkundigte sich, ob Juli Probleme gemacht hatte. Was Onkel Phil entschieden verneinte. Dass Jli die Fahrt im Zodiac nicht bekommen war, musste nun wirklich niemand wissen. “Es war wirklich sehr angenehm mit Julian!”, legte Onkel Phil nach. “Er hat Paul gestern in einer Konfliktsituation beigestanden und sich durch und durch als echter Freund erwiesen!” Juli strahlte. Und der Graf schien ein kleines bisschen beeindruckt zu sein. Sofern man in seinem Teflon-Gesicht irgend etwas ablesen konnte. Wie machte der das nur? War das physiologisch überhaupt möglich, ein Gesicht ohne Gesichtsausdruck? War es offensichtlich. Nach der Begrüßungsrunde führte uns der Weg in den großen Aufenthaltsraum. Und da dachte ich wirklich, ich sei im falschen Film. Da stand eine Miniaturausgabe des Frühstucksbuffets aus dem großen Speiseraum. Es fehlt wirklich nichts. Auch nicht der Mann, der auf einem kleinen Herd Omlettes briet. Das war einfach unfassbar. Alles für uns. Selbst Juli brachte kein Wort raus. Okay, dann war das also auch bei ihm nicht alltäglich. Der Rest war pure Schlemmerei. Juli war allerbester Laune. Kunststück: Er hatte es nicht weit zum Buffet. Zwischen den vollen Tellern versuchten Juli und ich immer wieder, von dem zu erzählen, was wir erlebt hatten. So richtig ergiebig war das aber alles nicht. Irgendwie kam zwischen Essen, lachen, erzählen und nochmal Essen nicht so richtig Struktur in unsere Erzählungen. Machte ja nix. Ein Blinder mit Krückstock konnte sehen, welchen Spaß wir hatten! “Eeeigentlich würde ich jetzt gerne noch eine Buttermilch trinken!”, meinte Juli irgendwann. “Ich bin aber pppappsatt!” Immerhin fast ohne Stottern. Er hatte sich echt konzentriert. Das fiel selbst Juli Großeltern auf, die anerkennend nickten. Ich nickte nicht. Sondern rieb mir das Schienbein. Er hatte mich gerade getreten. Juli hatte mich getreten! Was war denn los? Ich starrte ihn ziemlich dämlich an. Völlige Ahnungslosigkeit. Juli verdrehte die Augen. Und begann, in den Nutellaresten auf dem Teller Buchstaben zu malen. W I N D EL, stand da? Windel? What? Dann schlug’s ein. Buttermilch! Das Signalwort dafür, an die Toilette zu denken! Ich Esel. Ich nahm all meinen Mut zusamme und fragte in die Runde, wo denn hier die Gästetoilette sei? “Julo, zeig deinem jungen Freund doch bitte den Weg!”, antworte der Graf, ohne mich dabei wirklich angesehen zu haben. Und so verschwanden wir im Flur neben dem Aufenthaltsraum. “Ddddu bist ja echt ein Freak!”, grinste Juli. “Wwwwen der Tritt auch erfolglos gewsen wäre, dann hätte ich dir mein Omlett an den Kopf werfen müssen!” Quatschkopf. Aber sein Wink mit dem Schienbeim kam genau zur richtigen Zeit. Ich musste wirklich pinkeln. Ich hatte es bis jetzt nur nicht so richtig gemerkt. Hätte schief gehen können. Ich schloss die dunkel Holztür hinter mir versuchte, meine Latzhose auszuziehen. Das dauerte eine ganze Weile. Und jede Sekunden, die ich länger am rechten Verschluss nestelte, desto dringender wurde es. Gerade noch rechtzeitig saß ich auf der Toilette. Glück gehabt? Fast. Ein paar Tropfen waren wirklich in die Hose gegangen. Kein Drama. Aber trotzdem ärgerlich. Mit Strumpfhose und Latzhose drüber, sollte das aber kein Problem sein. Ich wusch mir die Hände und tauschte mit Juli, der ebenfalls die flüssigen Bestandteile des Frühstücks loswerden wollte. Gemeinsam marschierten wir zurück zu den Erwachsenen. Die waren mittlerweile in ein Gespräch darüber vertieft, wie sich das Hotel der von Rednitz-Dammgartens nach Außen noch besser präsentieren könnte. Mit professionellen Fotos, zum Beispiel. Onkel Phils Baustelle. Wir nahmen Platz, löffelten noch ein paar der kleinen Dessertgläschen leer und begannen, uns Stück für Stück zu langweilen. Ich hatte gerade angefangen, die Elemente der Holzvertäfelung zu zählen, da bemerkte der Graf die aufkommende Unruhe. “Julian, wir wäre es, wenn du dich mit Paul in dein Zimmer zurückziehen würdest? Ihr habt doch sicher besseres zu tun, als euch bei unseren Gesprächen zu langweilen?” Zack! Unser Stichwort. “Noch was Jungs!”, unterbrach Onkel Phil unsere Flucht. “Ab 12:30 Uhr seid ihr zu einem Schiffs-Workshop angemeldet! Der erste Offizier geht mit einer kleinen Gruppe durchs Schiff und wirft einen intensiven Blick hinter die Kulissen. Anschließend geht’s dann weiter mit ein bisschen Praxis im Experimentierraum. Passt das für euch?” Aber hallo! Und wie das passte? Juli war unsicher. Er schaute auf seine Füße. Und fragte leise “Dddarf ich auch?” Der Graf schaute ihn ernst an. “Julian, wir haben gerade keinen Grund, warum du nicht gemeinsam mit Paul etwas unternehmen solltest!” Ich konnte echt hören, wie groß der Stein war, der Juli vom Herzen fiel. High Five und Rückzug in Julis Zimmer. Da begannen wir sofort, uns über den Workshop im internen Schiffssystem zu informieren. Gleichzeitig begann Juli, seine Cordhose zu öffnen. “Mmir ist viel zu warm!”, stöhnte er. “Keine Ahnung, warum meine Großeltern es immer so warm haben müssen!” Das stimmte. Es war wirklich heiß. Und wenn Juli in Strumpfhose und Unterhemd rumrennen konnte, war das ja wohl für mich auch kein Problem. Ich kämpfte mich aus der Latzhose und warf auch mein Shirt über einen kleinen Sessel. Viel besser. Und auch der dunkle Fleck, der noch auf der Toilette auf der Vorderseite meiner Strumpfhose leuchtete, war nichts mehr zu sehen. Wir warfen uns auf Julis riesiges Bett und … waren erstmal ein bisschen ratlos. Was jetzt? “Hhhast du Lust auf Lego Technik?”, fragt Juli. Rethorische Frage, oder? Klar. Aber hier auf dem Schiff? Juli grinste entspannt. “SchSchau mal!” Er öffnete einen grünen Hartschalenkoffer, der locker zehn Lego-Technik-Sets enthielt. “Mmmmeine kleine Notration”, erklärte er. “Mmmmeine Großeltern sind manchmal anstrengend, aber wir verreisen nie, ohne ausreichend Beschäftigungsmöglichkeiten für mich!” Fast war ich neidisch. Aber halt nur fast. Wir entschieden uns für den großen US-Truck-Bausatz und legten los. Das waren 1.000.000 Teile. Mindestens. Noch nie hatte ich so viel Lego Technik gesehen. Schnell fanden wir als Team zueinander und hatten das DIng in Nullkommanix zusammengepuzzelt. Anschließend entstand auf die gleiche Art und Weise noch der Lego-Technik-Sportwagen mit echtem V6-Motor im Heck. Wahnsinn! Längst hielten wir uns vor allem auf dem Boden auf und flitzten mit den Fahrzeugen unter die Betten, bauten eine Garage aus Kissen und lachten uns fast kaputt, als die beiden riesigen Modelle zusammenkrachten und sich die Legos in alle Richtungen verteilten. Albern? Vielleicht. Aber wir hatten einen Riesenspaß! Zumindest so lange, bis de Erwachsenen dann doch mal nachsehen wollten, wer denn da so einen Lärm machte. Juli und ich krabbelten gerade auf allen Vieren durch die Gegen, um die ganzen Lego-Einzelteile wieder einzusammeln, als plötzlich der Graf, die Gräfin und Onkel Phil im Raum standen. Graf von Reifnitz-Dammgarten war sichtlich geschockt vom kindischen Verhalten seines Enkels, kam aber nicht dazu, uns zur Rede zu stellen. Onkel Phil griff ein. “So Freunde, ihr hattet jetzt euren Spaß! Nächster Job: Ordnung schaffen! Und zwar ziemlich zügig. Anschließend meldet ihr euch bei uns und wir besprechen, wie’s weiter geht!” Juli war den Tränen nahe und schaute geknickt zu Boden. Der Graf nickte zufrieden. Und auch ich hätte mich fast schlecht gefühlt, hätte ich nicht aus dem Augenwinkel gesehen, wie Onkel Phil mit zuzwinkerte. Fast hätte er mich gehabt. Jetzt aber flott mitspielen. Jawohl, Onkel Phil. Wir bringen das sofort wieder in Ordnung! Abgang der Rentnergang. Juli war immernoch ziemlich geknickt und sortierte wortlos die Legos in die passenden Fächer.. Es dauerte eine Weile, bis er mir wirklich abnahm, dass Onkel Phil uns weder über Bord werfen, noch ihn ab sofort bei keiner unserer Aktivitäten mehr sehen wollte! Wir legten beide los wie die Feuerwehr und standen ziemlich genau zehn Minuten später wieder im Aufenthaltsraum, wo Onkel Phil gerade noch die eine oder andere Anekdote des Vortags zum Besten gab. Die Sache mit den Treppen. Meine erste Niederlage des Tages. Danke Onkel Phil, schön Scherze auf Kosten kleinerer machen. Er schielte zu mir und sah gerade noch, wie ich ihm die Zunge rausstreckte. Unterm Tisch zeigte er mir den Siegerdaumen. Es sah also ganz gut für uns aus. Vorher hatte aber erst noch die Gräfin ihren Auftritt. “Julian, ich kann mich nicht daran erinnern dir beigebracht zu haben, dass sich so ein Aufzug gehört, wenn man Gäste hat!” Ja, okay. Mit seinen zerwuschelten Haaren, der nicht ganz ordentlich nach oben gezogenen Strumpfhose und dem halb heraushängenden Unterhemd sah er nicht aus wie ein Lord, dafür aber wie ein Kerl, der gerade ziemlich viel Spaß gehabt hatte. Und was sollte sie dann erst über mich sagen? Okay, ich sah grundsätzlich besser aus. Aber sonst war ich nur wenig besser beieinander, als Juli. Wieder rettet uns Onkel Phil. “Verzeihung, Gräfin. Das geht auf meine Kappe. Ich hatte mit den beiden während unserer gemeinsamen Zeit besprochen, dass es völlig in Ordnung sei, so unterwegs zu sein. Diese Art von Kleidung bildet die ideale Basis für den von mir propagierten Zwiebel-Look!” Kurze schöpferische Pause. “Wir hatten aber auch klipp und klar gesagt, dass man auch in Strumpfhosen und T-Shirt ordentlich aussehen kann, nicht war, Paul? Juli?” Ja, Onkel Phil. Das haben wir in der Eile vergessen. “Ganz rrrichtig!”, pflichtete Juli mir bei, während wir beide versuchten, mit wenigen Handgriffen wieder manierlich auszusehen. Das klappte. So mehr oder weniger. Julis Oma gab sich damit zufrieden, ohne so richtig entspannt zu sein. Mach hin, Onkel Phil. Bevor sie es sich anders überlegt. Ich begann, unruhig von einem Fuß zum anderen zu tänzeln. Weniger, weil ich Angst vor einem Stimmungsumschwung der Gräfin hatte sondern vielmehr, weil ich plötzlich sehr präsent hatte, dass meine Blase schon wieder voll war. Also voll im Sinne von randvoll. Roter Alarm, wenn man so möchte. Onkel Phil bemerkte meine Nervosität und legte einen Zahn zu. “So sieht der Plan für heute aus. Wir treffen uns in 15 Minuten unten am Empfang. Dort trifft sich die Workshop-Gruppe mit dem ersten Offizier Frank Harmsen. Kleidung: Warm, aber praktisch. Eigentlich reicht es, wenn ihr einfach eure Pullis wieder anzieht und ansonsten in eure Overalls steigt. Mütze, Schal, Handschuhe. Die ersten knapp 90 Minuten finden ausschließlich draußen statt! Hinterher hole ich euch auch dort wieder ab und liefere Juli dann bei Ihnen ab!” Blick zu Juli Großeltern. Die nickten beide. “Der Rest des Abends findet dann individuell statt!” Echt? Blöd. Ohne Juli? Ich zog einen Schmollmund. Ließ es aber mit einem Blick in Onkel Phils Augen lieber wieder. “Nach der Ankunft in Schweden steht morgen Vormittag unser Shopping-Trip an. Wenn du magst, Juli, kannst du uns da sehr gerne begleiten. Alternativ hätten deine Großeltern noch einen Trip ins wunderbare königliche Museum im Angebot!” Stille. Juli bekam riesige Augen. “Dddas Museum? Sssuper! Aber vielleicht gggehe ich doch mit Paul?” Naiver Blick, Juli. Du brauchst jetzt den naiven Blick! “Ich weiß ja nicht, ooob wir uns nach der Ankunft aaauf Sylt nochmal sehen!” Ha, das saß! “Wir werden sehen!”, dämpfte der Graf die Erwartungen. “Jetzt seid ihr ja erstmal noch heute gemeinsam unterwegs!” Damit war das Thema für ihn abgehakt. Hoffte ich. Ich begann, mich zu verkrampfen. Konzentrier dich, Paul. Ruhig atmen. Es ist gleich vorbei. Ein Blick in die Runde. Möglichst unverfänglich. Okay, scheint keiner mehr einen Redebeitrag eingereicht zu haben. Wir gehen uns dann mal umziehen, oder? Onkel Phil nickte. “Bis gleich!”, rief ich Juli zu, während ich einen möglichst unauffälligen Alarmstart hinlegte. Nur nichts anmerken lassen. Ich ging zielstrebig um die erste Ecke, nur um dort richtig durchzustarten. Tür auf. Alles gut. Keine Hindernisse. Jetzt die erste Treppe. Aufpassen auf den Stufen. Rutschig. Ich trug ja nur meine Filzhausschuhe. Und meine Strumpfhose. Meine STRUMPFHOSE? Im Rennen sah ich an mir runter. Scheiße. Ich hatte mein Hose vergessen. Umdrehen? Vergiss es, Paul. Dann rennst du nicht nur in der Strumpfhose durchs Schiff, sondern in einer vollgepinkelten Strumpfhose. Ich konnte nur hoffen, dass Onkel Phil meine Latzhose nachher mitbrachte. Nächstes Deck geschafft. Nur noch eine Ecke. Das würde knapp werden. Sehr, sehr knapp. Ich spürte, wie ich kurz davor war, die Kontrolle zu verlieren. Die letzte Treppe. Ich sprang die letzten drei Stufen runter und warf mich fast mit dem Zugangs-Armband gegen unsere Kabinentür. Es piepste Leise. Offen. Ich hechtete in Richtung Badezimmer und zog noch in der Bewegung die Strumpfhose runter. Okay, Mit Latzhose wäre meine Flucht spätestens hier zu Ende gewesen. Jetzt noch die Unterhose, dann saß ich endlich auf der Toilette. Und dort brachen alle Dämme. Ich atmete wie ein Marathonläufer nach dem Zielspurt. Mein Blut pulsierte in meinen Ohren. Erschöpft aber zufrieden versuchte ich, meinen Puls wieder in den Griff zu bekommen. Die böse Überraschung kam, als ich mich nach dem Händewaschen wieder anziehen wollte. Fuck. Fuck, Fuck, Fuck. Unter- und Strumpfhose hatten doch was abbekommen. Ein handtellergroßer dunkelblauer Fleck zierte meinen Schritt. Das konnte doch nicht war sein. Ich stapfte in die Kabine, um mir die Bescherung genauer anzusehen. Es wurde auch vor dem großen Spiegel nicht besser. Ich hatte mich so beeilt. So aufgepasst. Mich so konzentriert. Und durfte mich jetzt trotzdem umziehen. Schöner Scheiß. Und während ich mich da so im Spiegel selbst bemitleidete, stand plötzlich Onkel Phil im Raum. Mit der Latzhose in der Hand. “Du hast da was … vergessen!”, meinte er irritiert. Blick auf mich. Blick auf den nassen Fleck. Blick auf mich. “Oh!” Nix oh! Knapp daneben ist auch vorbei, giftete ich. Ich hab echt alles versucht, begann ich zu jammern. Onkel Phil ging auf die Knie und begann, mir die Strumpfhose auszuziehen. “Sieh’s doch mal positiv, Paul. Immerhin ist nicht alles in die Hose gegangen!” Sein ewiger Optimismus. Der half diesmal aber nicht wirklich. Und auch Onkel Phil sah mit einem Blick auf meine Unterhose, dass das heute nicht wirklich der erste Beinahe-Unfall gewesen war. “Verstehe”. Ne, tust du nicht. Ich war jetzt echt genervt. Du machst ja nicht bei jeder Gelegenheit in die Hose. Das ist so eine Scheiße, brüllte ich ihm ins Gesicht. Ich. Will. Das. Nicht! Er hörte zu. “Ist es jetzt besser?” Ich schwieg. Und nickte. “Dann hör mir bitte zu. Ich habe dir gestern schon gesagt, dass wir nach unserer Rückkehr sofort bei Doc Eisenmann in der Praxis stehen. Und so lange hörst du jetzt bitte auf, dir einen Kopf zu machen!” Das sagt sich so leicht, muffelte ich. Aber was mache ich denn jetzt, bitte? Ich wollte heute auf keinen Fall eine Windel anziehen. Und jetzt schaffe ich nichtmal einen Scheiß-Vormittag! Das ist so ungerecht! “Weiß ich”, sagte Onkel Phil gewohnt ruhig. “Aber einen echten Rat kann ich dir jetzt auch nicht geben. Aber ich kann dich was fragen: Hatte Juli bislang ein Problem mit der Windel?” Nö. Nuschelte ich. “Siehste! Und wer außer Juli weiß davon?” Niemand. “So. Und wo ist jetzt das Problem?” Dass ich die Dinger … ach, vergiss es. Ich gab’s auf. Ich zog meine Unterhose aus, schnappte mir die feuchte Strumpfhose und marschierte wieder Richtung Badezimmer. Dort flogen die Sachen in die Wäsche und ich wusch mich gründlich. Ich wollte wenigstens nicht wie ein Baby riechen, wenn ich schon mit Windel rumlaufen musste.
Zurück in meinem Zimmer öffnete ich die Windelschublade und zog eine der Pull-Ups heraus. Alles wie gehabt. Reinsteigen, hochziehen, fertig. Eine ätzende Routine. Vorzeigbare Unterwäsche hatte ich nun nicht mehr im Schrank. Ich griff also mal wieder zu einem dieser wirklich unfassbar peinlichen Kinderslips, die für den Notfall dabei waren. Diesmal einer, mit zwei grinsenden Sportlern, die um die Wette liefen. Auch schon egal. Ich knallte die Schublade zu und angelte mir eine Strumpfhose aus dem nächsten Fach. Giftgrün mit Sternen. Die Farbe passte zu meiner Stimmung. Auch diese Schublade bekam zu spüren, dass ich wirklich sauer war. Mit einem ungeduldigen Griff riss ich meinen Overall aus dem Schrank und stieg hinein. Wehe, der Workshop ist so ein lahme Kleinkind-Veranstaltung, nörgelte ich in Richtung Onkel Phil. Der hatte sich inzwischen Umgezogen und lümmelte in Bademantel und FlipFlops auf dem Sofa herum. Was hatte der denn vor? “Lass dich überraschen!”, antwortete er gelangweilt. “Du bist übrigens ganz besonders putzig, wenn du so genervt bist!” Riesen-Spruch, Onkel Phil. Ganz klasse. Was sollte das denn bitte? “Paul, ich meine damit, dass wir das doch eigentlich schon hinter uns hatten. Windel gleich medizinisches Hilfsmittel. Wie eine Brille. Und die wird man auch nicht in 4 Tagen los! Erinnerst du dich?” Tat ich. Aber vielleicht hatte ich einfach meinen rebellischen Tag. Ich wollte doch einfach nur meinen Spaß haben! “Und den willst du dir von einer Windel versauen lassen, von der außer deinem besten Freund niemand was weiß? Echt jetzt?” Wie er das sagte, “bester Freund”. Hatte ich noch nie. Juli kannte ich seit zwei Tagen. Und schon fühlte es sich so an, als würde ich meinen besten Freund seit ewigen Zeiten kennen. Klang gut. Und sorgte gleichzeitig dafür, dass sich vieles von meiner Wut auflöste. Würde bestimmt gut werden, die Tour übers Schiff. Ich stieg in meine Stiefel und war zumindest ein bisschen besänftigt. Und du? “Wellness-Programm!” Ich prustete los. Onkel Phil, du wirst alt!
Bevor wir die Kabine verließen, lud Onkel Phil noch ein bisschen Extra-Budget auf mein Armband. “Ich bin mir sicher, du wirst dafür heute eine Verwendung finden! Und bis zum Abendessen ist es noch eine ganze Weile hin! Kauf dir was zu Essen. Zu Trinken. Oder was dir sonst noch so über den Weg läuft!” Cool. 50 Euro. Soviel Geld hatte ich noch nie zum einfach so verjubeln bei mir gehabt. Vielleicht kauf ich mir ja das Schiff. Samt Besatzung. “Von mir aus”, lachte Onkel Phil. “Aber lass dir ein Quittung geben!” Blödmann! “Ach ja, und noch was: Wenn es Probleme gibt, ob mit irgendwelchen Typen oder der Windel, dann erreichst du mich übers Schiffssystem!” Wusste ich. Aber musste er mich jetzt unbedingt an die Windel erinnern? Hatte ich grade so schön verdrängt. Wegwerfende Handbewegung. Is klar, Onkel Phil. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zur Rezeption und gaben dabei ein wirklich sehenswertes Bild ab. Auf der einen Seite Onkel Phil im Bademantel mit Badelatschen, auf der anderen Seite ich im Thermo-Overall mit Winterstiefeln, Handschuhen und dicker Mütze. Ein Schiff, zwei Welten. Natürlich warteten die von Rednitz-Dammgartens bereits an der Rezeption. Juli saß mit seiner Großmutter auf einem der vielen Sofas uns strahlte, als ich ums Eck kam. Der Graf war in ein Gespräch mit einem großgewachsenen jungen Crewmitglied vertieft, das in dicke Allwetterkleidung verpackt war und offensichtlich händeringend nach jemand Ausschau hielt, der ihm einen Ausweg aus diesem Gespräch zeigen konnte. Den erkannte er in einer Frau, die von ihrer Tochter in Richtung Rezeption gezogen wurde. Zumindest vermutete ich, dass es ihre Tochter war. Die trug ähnlich warme Klamotten wie wir. Einen türkisfarbenen Schneeoverall, in der Hand eine lila Mütze, lila Handschuhe und an den Füßen dicke Gore-Text-Schnürstiefel in der gleichen Farbe. Geschätzt 10 Jahre alt. Keine klassische Schönheit. Ihre fast schwarzen Haare waren zu einem französischen Zopf geflochten. Und irgend etwas war mit ihren Ohren. Sie standen leicht ab. Keine Segelohren. Auf keinen Fall. Aber irgendwie auffällig. Aus einem schmalen Gesicht schauten zwei leuchtend grüne Augen in unsere Richtung. Ich kannte den Blick. Hatte Onkel Phil vorhin mit genau dem gleichen Gesichtsausdruck angegiftet. Trotz, Wut, Enttäuschung, Hilflosigkeit. In genau dieser Reihenfolge. Ich mochte sie auf Anhieb. Jetzt steuerte auch ihre Mutter auf den ersten Offizier zu. Das wollte das Mädchen aber offensichtlich auf jeden Fall verhindern. Davon ließ sich ihre Mutter aber nicht beeindrucken. Kein Stück. “Tilda, ich habe dir mehrfach gesagt, dass ich dem Workshop nur unter der Bedingung zustimme, wenn ich genau weiß, was genau ihr da macht. Ich bin für dich verantwortlich und ich werde nicht zulassen, dass du dich in Gefahr begibst! Wir können das aber gerne jetzt und hier ausdiskutieren! Kein Problem!” Tilda? Den Namen hatte ich ja noch nie gehört. War jetzt aber auch egal. Denn Tilda schwieg. Sie sah in die Runde. Jetzt verunsichert. Und gar nicht mehr trotzig. Auch diesen Blick kannte ich nur zu gut. In ihrem Kopf lag längst eine böse, witzige oder im besten Fall ironische Erwiderung parat. Aber nichts davon kam an. Ich sah ihre Verzweiflung. Und lächelte sie freundlich an. Eine Geste die ihr Mut machen sollte. Und genau das Gegenteil bewirkte. “Mama, nein! Du bist so peinlich!” Shit. Sie hatte mein Lachen falsch interpretiert. Ich hatte sie doch nicht ausgelacht. Jetzt war ich es, der unsicher aus der Wäsche schaute. Zu gerne hätte ich die Sache sofort aufgeklärt. Kam aber nicht dazu. “Wwwas ist denn bei der Zicke kkkaputt?”, schob sich Juli in meine Gedanken. Was soll schon mit ihr kaputt sein? Ich warf ihm einen bösen Blick zu. Juli, sitz! Der kapierte ziemlich schnell, dass mir viel daran lag, mit Tilda in Kontakt zu kommen. Warum auch immer. Und weil Juli wirklich mein beste Freund war, schluckte er seine restlichen Gedanken runter. Er hob abwehrend beide Hände. “Cool, Paul! Ich wollte damit nnnur sagen, dass das Mutter und Tochter einen ziemlich auffälligen Aaauftritt hingelegt haben!” Das stimmte natürlich. Und wenn man sah, wie ihre Mutter mit dem ersten Offizier umging, war auch klar, warum Tilda sich aktuell am liebsten in einem Mäuseloch verkrochen hätte. Tildas Mama war es offensichtlich komplett egal, dass alle anderen hören konnten, was sie sagte. Oder besser: anordnete. Tilda müsse dies, Tilda müsse das und Tilda dürfe auf keinen Fall jenes. Außerdem würde sie darauf bestehen, dass Tilda an Deck zu jeder Zeit eine Schwimmweste trug, sie könne noch nicht richtig schwimmen. Außerdem erkundigte sie sich, wie Frank Harmsen die Sicherheit seiner Workshop-Gruppe im Maschinenraum gewährleisten wolle? Einen Helm zu tragen, sei ja wohl das Mindeste! Der arme Kerl war nicht zu beneiden. Von Tilda ganz zu Schweigen. Die verkroch sich mit jedem Satz tiefer in sich selbst. Zum Schluss lief ihr sogar eine Träne über die Wange. Ich fuhr mit meinen Fingern über die Außenseite der großen Beintasche meines Overalls. Feucht- und Taschentücher. Alles da. Aber ich konnte doch nicht einfach zu ihr gehen? Oder konnte ich doch? Konnte ich. Allerdings nicht ganz freiwillig. “Mmmach den Mund wieder zzzu!”, flüsterte Juli und gab mir einen Schubs. “Und hilf ihr gefälligst, wenn du sie schon die ggganze Zzzeit anstarrst!” Ich hatte sie bitte was? Angestarrt? Ich funkelte Juli wütend an. Wie kam er überhaupt darauf, so einen Unsinn zu erzählen? Frechheit. Aber Juli hatte sich längst zu Onkel Phil umgedreht. Die beiden grinsten.
Da stand ich nun also, auf halber Strecke zwischen Juli und Tilda. Sie weinte immer noch leise neben ihrer Mutter. Und ich Feigling traute mich keinen Schritt weiter. Das wirklich allererste Mal wünschte ich mir, auf der Stelle in die Windel zu machen. Das volle Programm. Die perfekte Ausrede für einen Flucht ab durch die Mitte. Aber natürlich passierte … nichts. Wie auf Kommando blickte aber plötzlich Tilda nach oben. Genau in meine Richtung. Jetzt oder nie, Paul! Ich stolperte los. Okay, elegant war anders. Mit weit ausgestrecktem Arm hielt ich ihr ein Taschentuch hin. Fffffür dich! Himmel, jetzt fing ich auch noch an zu stottern. Wie peinlich. Aber Tilda ging es offensichtlich nicht viel besser. Sie schnappte sich das Taschentuch und wischte sich damit über die Augen. Dann verschwand es in ihrer zur Faust geballten linken Hand. Dann Stille. Kein Danke. Kein Blick. Sie stand einfach wieder neben ihrer Mutter und flehte darum, dass es möglichst schnell vorbei sein würde. Und das war es auch. Frank Harmsen sah zwar jung und schmächtig aus, bekam aber Tildas Mama ziemlich schnell im Griff. Ja, er könne für die Sicherheit seiner Teilnehmer garantierten. Ja, wir würden im Maschinenraum Helme und Kopfhörer tragen. Das sei Vorschrift. Genauso übrigens, wie es verboten sei, außerhalb von Not- oder Gefahrensituationen mit einer Schwimmweste an Deck herumzulaufen. Cooler Typ. Ein bisschen wie Onkel Phil, nur mit Uniform. Ein Blinder mit Krückstock konnte sehen, dass Tildas Mutter noch jede Menge Fragen und Ermahnungen auf Lager hatte, um unseren Abmarsch noch zu verzögern. Frank Harmsen ließ es aber gar nicht so weit kommen. Er rief alle Teilnehmer zusammen und gruppierte die insgesamt fünfköpfige Gruppe vor einem großen Schaubild, auf dem das Schiff im Querschnitt zu sehen war. Ich stand natürlich neben Juli, Tilda hatte sich neben zwei älteren Mädchen positioniert, die zum Schluss zum Team gestoßen waren. “Ich bin gleich bei euch!”, erklärte der erste Offizier knapp. “Muss nur noch schnell eure Erziehungsberechtigten entsorgen! Bitte macht euch in der Zwischenzeit mit der Lage der technischen Einrichtungen vertraut. Und interessieren zu Beginn erstmal die Rettungsboote, Rettungsinseln, die Brücke und der Schornstein!” Er zwinkerte uns kurz zu und eilte zurück zur Rezeption. “Der is ja wwwwitzig!”, flüsterte Juli. Jepp. Und ziemlich jung, für einen ersten Offizier, fand ich. Nicht, dass ich mich damit sonderlich gut auskannte. Aber ich wusste, dass der erste Offizier nach dem Kapitän der wichtigste Mensch auf dem Schiff war. Und meist auch sein Stellvertreter. Dass Frank Harmsen eine eindrucksvolle Erscheinung war, hatten vor allem auch die beiden älteren Mädels festgestellt. Sie steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Thema: der erste Offizier und sein Beziehungsstatus. Wie spannend. Und außerdem ganz weit weg von dem, was wir eigentlich tun sollten. Einfach nur die Augen zu verdrehen brachte uns aber nicht weiter. Ich schielte zu Juli. Auch der war von den beiden irritiert. Sah aber nicht so aus, als hätte er einen Plan, was zu tun sei. Blieb nur noch Tilda. Die tauchte plötzlich zwischen Juli und mir auf, tippte einem der Girls auf die Schulter und verkündete die Rollenverteilung hier: “Ladies, ich weiß, ihr habt keinen Bock auf den Workshop hier. Wahrscheinlich haben eure Eltern den nur gebucht, um euch mal einen halben Tag vom Wellnessbereich wegzubekommen. Ist mir auch komplett egal. Wir drei”, sie zeigt dabei auch Juli, mich und sich selbst, “sind aber freiwillig hier und wollen genau das hören, was der erste Offizier zu sagen hat! Wen er wann datet, könnt ihr doch problemlos heute Abend an der Bar erfahren, oder? Deshalb machen wir das so: Ihr haltet die Klappe und seid körperlich anwesend. Und wir übernehmen den akiven Part. So habt ihr eure Ruhe und wir unseren Spaß! Noch Fragen?” Sicher. Aber keine der Beiden war spontan genug, um auf diesen Vortrag zu reagieren. Kunststück. Nach der Ansage hätten sich sogar Ziegelsteine selbst fein säuberlich aufgestapelt. Und woher wusste Tilda eigentlich, dass wir freiwillig hier waren? Sie kannte ja noch nicht einmal unsere Namen! “Wie schön, ihr habt euch schon angefreundet!?”, kam plötzlich eine Stimme von hinten. Frank Harmsen war zurück. Fragte sich nur, wie lange. Offensichtlich lange genug. Denn in den nun folgenden Stunden orientierte er sich wirklich fast ausschließlich an uns. Pia und Melina, so hießen die beiden Girlies mit der Erster-Offizier-Schwäche, trotteten brav hinter uns her. Dafür redete Matilda um so mehr. So hieß Tilda nämlich mit vollem Namen. Sie wollte alles wissen. Jedes Kabel, jede Steckverbindung, jedes technische Gerät, an dem wir vorbei kamen, weckte ihr Interesse. Ihr entging nichts. Gegen Tilda war ich ein oberflächlicher Mitläufer. War ich aber gar nicht. Ich wollte eigentlich genau das Gleiche wissen, wie Tilda. Die war meistens nur einen Tick schneller darin, die Frage zu stellen. Das ärgerte mich. Aber halt nicht nur. Matilda faszinierte mich, weil sie mir vorkam wie die weibliche Version von mir selbst. Oder besser gesagt, die weibliche Ausgabe dessen, was ich gerne wäre. Selbstbewusst, vorlaut und clever. Okay, vorlaut war ich auch. Aber halt nur in einem Umfeld, das mir vertraut war. Tilda war da ganz anders. Hammer! Juli war nicht ganz so fasziniert von Tilda. “Dddddie redet mir zu vvvviel!”, flüsterte er mir zu, nachdem Tilda von Frank Harmsen wissen wollte, in welcher Sprache das Entertainment-System des Schiffes programmiert sei. Kurze Stille. Dann meldete sich Pia. Das erste und zugleich einzige Mal. “Auf Englisch natürlich! Bist du beschränkt, oder was?” Ich grinste, Tilda verdrehte die Augen. “Programmiersprache, Pia! Matilda will wissen, in welcher Programmiersprache das System erstellt wurde!”, versuchte der erste Offizier die Situation zu deeskalieren. War aber gar nicht nötig. Weder Pia noch Melina legten gesteigerten Wert auf die Forstsetzung des Gesprächs. Von nun an hatten wir Ruhe. Und spulten das volle Technik-Programm ab. Versorgungsbereiche, Arbeitsstationen, Winden und der Anker. Zumindest Tilda, Juli und ich hätten stundenlag so weitermachen können. Also zumindest theoretisch. Denn nach über einer Stunden hatte ich das Gefühl, jede Schraube des Schiffes zu kennen, gleichzeitig aber jegliches Empfinden in Armen und Beinen verloren. Scheiße, war das kalt. So lange man in Bewegung war, ging’s. Bei jedem Stop, den Frank Harmsen einlegte, betete ich darum, dass niemand eine Frage stellen würde. Also vor allem Tilda ihre Klappe hielt. Dass sie das tat, war dann das finale Signal dafür, wieder im Inneren des Schiffes zu verschwinden. Als Frank Harmsen die Tür zum Technik-Deck des Schiffes öffnete und wir uns auf den Weg zum Maschinenraum machten, ging es uns schlagartig besser. Es kribbelte, als die Wärme in meine Arme und Beine zurückkehrte.
“Was hast du denn mit deinen Ohren gemacht?” fragte Tilda, die gerade dabei war, hinter mir eine steile Treppe hinunter zu steigen. Ich schob es auf den Temperaturunterschied und hoffte inständig, dass Tilda sich damit zufrieden geben würde. Tat sie. Aber nur, weil Frank Harmsen in diesem Moment zur Behelfsbrücke überm Maschinenraum abbog. In Wahrheit hatten meine Ohren nämlich gar nichts mit der Kälte zu tun. Okay, vielleicht indirekt. Der richtige Grund hing schwer zwischen meinen Beinen. Meine Windel. Warm und feucht. Mal wieder. Ich war genervt und schämte mich, auch wenn natürlich außer mir und meinen roten Ohren davon niemand etwas mitbekommen hatte. Wann das passiert war? Das wusste ich eben nicht so genau. Und das war ein Problem. Ich hatte praktisch nicht gemerkt, dass sich meine Blase entleert hatte. Ich versuchte die Panik, die in mir hochkam, runterzuschlucken. Okay, die Sache wurde schlimmer, statt besser. Aber immerhin hatte Onkel Phil bereits einen Termin bei Doc Eisenmann gemacht. Ich schnaufte durch und folgte den anderen in den dunklen Raum, der eine Miniaturausgabe der Brücke war, vor der aus der Kapitän das Schiff steuerte. Ruhig bleiben, Paul! So schwer war die Windel gar nicht. Es sollten also noch genügend Reserven vorhanden sein, für die nächsten zwei Stunden. Langsam ließ das Wummern in meinen Ohren nach, die Farbe meiner Lauscher schaltete wieder um auf Normal. Ablenkung gab es eh genug. Frank Harmsen erklärte gerade, was alles passieren musste, damit diese Not-Brücke zum Einsatz kam. Sogar Juli schien beeindruckt und fragte den ersten Offizier vor allem, wie er selbst möglichst schnell Kapitän werden könne. Erstmal ohne zu Kotzen von Bord kommen, dachte ich mir und grinste. Niemals hätte ich das laut ausgesprochen. Juli war schließlich mein bester Freund. Trotzdem fand ich die Vorstellung einen kotzenden Kapitäns irgendwie amüsant. Da hatte also jemand Blut geleckt, in Sachen Seefahrerei. Konnte ja nicht schaden, sie frühzeitig festzulegen.
Inzwischen hatten wir auch den Maschinenraum hinter uns. Wahnsinn. Riesig. Laut. Heiß. Alles zusammen. Aber gar nicht dreckig. Kein Öl, kein Dampf. Nix. Dafür überall tausende Displays, LEDs und Anzeigen. Fast war ich ein bisschen enttäuscht. Aber nur, bis wir nach einer erneuten Klettertour über steile Treppen und enge Durchgänge in einem großen Raum landeten, in dem neben eine riesigen Sofalandschaft, einer Bar, einem Büffet und vielen Stühlen auch ein ziemlich großes Wasserbecken stand. So eine Art fest installiertes Planschbecken. Das sei, erklärte Florian Harmsen, ein Bereich des Mannschafts-Speisesaals, der auch für Weiter- und Fortbildungen der Crew genutzt würde. “Uuund wozu der Pool?”, wollte Juli wissen? “Kein Pool”, erklärte der erste Offizier. In diesem Becken können wir mit einem Modell des Schiffs die Crew auf Notsituationen vorbereiten!” Gleich im nächsten Satz rückte er damit heraus, mit was wir unseren Technik-Workshop beenden würden: “Jeder von euch bekommt gleich jeweils eine Kiste mit einem kleinen Plastikboot und diversen Materialien. Eure Aufgabe: Ihr baut einen Antrieb für euer Schiff, das es mindestens fünf Runden durch das Becken fahren lässt. Wessen Boot die meisten Runden schafft, gewinnt Plätze am Tisch des Kapitäns!” Kurze Stille. “Einen Platz am Tisch es Kapitäns? Echt?” Tilda war sehr aufgeregt. Frank Harmsen nickte und schlug uns mit einem Blick auf die Sofas vor, erstmal die warmen Klamotten loszuwerden. “Werft einfach alles auf die Sofas! Ich erlöse so lange Pia und Melina. Die haben lange genug gelitten!” Das traf es ziemlich ins Schwarze. Die beiden lümmelten auf zwei Barhockern herum und versuchten mit Blicken, den schnellsten Weg hier raus zu finden. Entsprechend flott waren sie verschwunden, als der erste Offizier ihnen erklärte, dass er offizielle Teil des Programms abgeschlossen sei und sie jetzt gerne wieder in ihre Kabinen gehen könnten. Ein Abgang in zehn Sekunden. Wenn sie wollten, konnten die beiden also auch echt ziemlich schnell sein.
Das galt theoretisch aich für mich und meinen Overall. Ein Handgriff und schon war der weg. Wenn man denn wollte. Aber ich wollte eben nicht. Also ich wollte schon. Traute mich aber nicht so richtig. Sollte ich hier wirklich mit Strumpfhose und Windel rumrennen? Vor Frank Harmsen und … Tilda? Juli war wir immer schneller. Er saß bereits mit in seinem beigen Rolli und der grünen Thermostrumpfhose im Schneidersitz zwischen den Sofas und begutachtete das Baumaterial in seiner Schiffskiste. Tilda hatte bereits ihre Stiefel ausgezogen, öffnete gerade ihren Schneeanzug und wurstelte ihre Arme aus dem Oberteil. Ich stand einfach nur da und sah ihr zu. Sie zog den Overall nach unten und stand zwei Augenblicke später in einem kurzen gelben Kleid mit irgendwelchen Mädchen-Motiven und einer braun-lila gepunkteten Glitzerstrumpfhose zwischen ihren Klamotten. Wow. Tilda sa super aus. Nicht perfekt. Sie war groß, das wusste ich ja aber schon. Und schlank. Aber nicht dünn. Eher so sportlich-schlank. Okay, ihre Hüften waren vielleicht etwas zu breit für die schmalen Schultern, aber ich war ja wohl auch alles andere als perfekt. Der ganz körper zu kurz, der Kopf ein bisschen zu groß, von den Ohren ganz zu schweigen. A propos Schweigen. Juli stand plötzlich neben mir. Und griff in einer fließenden Bewegung an mein Bein, zog mit Schwung am Reißverschluss und sorgte so dafür, dass mein Overall nur noch wie ein Cape über meinen Schultern hing. Spinnte der? Vielleicht wollte ich mich ja gar nicht ausziehen? Vielleicht ist mir ja kalt! Ich giftete ihn an, aber Juli verdrehte nur die Augen. “Wwwwir wollen Aaaanfangen, Paul!” Ich nicht zum Teufel. Ich machte mich doch hier nicht zum Affen! Wie unsensibel war dieser Kerl eigentlich? Ich hatte eine Windel an, Himmelhergott. Eine nasse Windel, um genau zu sein. Und ich hatte wirklich überhaupt keine Lust, dass Tilda da mitbekam. Ich wusste natürlich, dass Juli eigentlich alles richtig gemacht hatte. Ich war wie immer tierisch unsouverän. Ich hatte ein Longsleeve unterm Overall. Ein ziemlich langes Longsleeve. Kaum kürzer, als Tildas Rock. Wer nicht ganz genau hinsah, konnte die Windel eigentlich nicht entdecken. Aber eben nur eigentlich. Und ich wusste, wie genau Tilda ihre Umgebung beobachtete. Im Grund war’s aber eh schon wurscht. Juli hatte mir den Overall eh schon zur Hälfte ausgezogen. Und wenn ich es schaffte. mich immer dicht an Juli zu halten, würde Tilda wohl kaum etwas mitbekommen. Mit einem bitterbösen Blick stieg ich erst aus meinen Stiefeln, dann aus dem Overall. Ich zupfte am Saum meines Longsleeves herum. Saß gut. Erstmal keine Gefahr. Mit einem schnellen Schritt ließ ich mich neben Juli nieder. Und zwar so, dass Tilde eher in Julis Blickrichtung saß. Wie immer setzte ich mich auf meine eigenen Beine. Bequem war anders. Aber so konnte Tilda die Windel auf keinen Fall sehen. Tilda saß, die Beine links und rechts angewinkelt, auf ein paar Kissen und war bereits dabei, diverse Teile an ihr Boot zu basteln. Dieses Miststück! Während Juli mich dazu gebracht hatte, locker zu werden, hatte Tilda sich bereits einen Vorsprung erarbeitet. Ich durfte keinen Zeit verlieren. Ich wollte diesen Platz am Kapitänstisch! Und so arbeiteten wir verbissen vor uns hin. Kein unnötiges Blabla. Einfach nur der Versuch, einem kleinen Plastikboot einen Antrieb zu verschaffen. Ich wollte eine Art Gummimotor bauen. Ein dicker Einweckring gehörte zum Equipment. Fragte sich nur, wie ich die Schiffsschraube so antreiben konnte, dass kein Wasser ins Boot lief. Ich fummelte, drückte und rüttelte. Um meine Ideen immer wieder zu verwerfen.
Ich hantierte gerade mit einem Stück Knetmasse herum, da stieg mir ein wirklich sehr unangenehmer Geruch in die Nase. Erschrocken “horchte” ich in mich hinein, versuchte, den Zustand meiner Windel zu erkunden. Nichts. Alles wie gehabt. Nass, aber sonst keine Katastrophen. Der Geruch aber blieb. Und er war eindeutig. Ich stupste Juli an und fragte flüsternd, ob er der Ursprung sei. Blähungen, oder so? Aber er schüttelte ziemlich glaubwürdig den Kopf. “Qqqquatsch! Aber ich rieche das auch!” Ich sah mich um. Juli sah sich um. Und schaltete mal wieder am Schnellsten. “Ttttilda, kann ddddas sein, dass du dddie Windel vvvvoll hast?” Freeze. So fühlte sich das also an, wenn um einen herum das Universum kollabiert. Mir wurde heiß und kalt. Juli hatte jetzt nicht wirklich gefragt, ob Tilda sich gerade in die Windel gemacht hatte? War der wahnsinnig? Ich fauchte ihn an und wollte wirklich ziemlich pronto von meinem besten Freund wissen, ob er noch alle Latten am Zaun habe! Sofort bekam ich wieder knallrote Ohren. Fremdschämen, nennt man sowas wohl.
Und Tilda? Die schaute ziemlich irritiert. Kann ihr ja keiner verdenken. Gleich bricht sie entweder in Tränen aus, oder macht uns beide zur Schnecke. Doch es passierte nichts von alledem. Statt dessen griff sie an ihren Po, schaute dann zu Juli und fragte: “Woher weißt du das mit der Windel?” Dabei wirkte sich kein bisschen Verlegenheit oder Scheu. Moment mal, dann hatte sie ja gersde wirklich zugegeben, eine Windel zu tragen. Einfach so. Juli räusperte sich, schaute dann zu mir und antwortete ähnlich offen, wie er es eigentlich immer tut: “Das sieht ja wohl eeeein Blinder mit Krücksssstock! Uuuuund außerdem hhhat Ppppaul auch eine an. Ddddeshalb hhhab ich einen Bbblick für ssssaugfähige Unterwäsche!” Doppelfreeze. Irgend jemand musste den Kerl stoppen. Erst outet er Tilda, jetzt mich. Unnötig zu erwähnen, dass meine Ohren inzwischen heller leuchteten als die Abendsonne. Immerhin hatte Frank Harmsen nichts von der ganzen Aktion mitbekommen? Der war nur Sekunden vor Julis Frage in die Kantine verschwunden, um Getränke für uns zu besorgen. Jetzt war es Tilda, die mich interessiert betrachtete. “Dachte ich es mir doch”, war das Einzige, was sie in meine Richtung sagte. Was war denn bitte hier los? Ich vergaß zu Atmen und verschluckte mich an meiner eigenen Spucke. Bitte lieber Gott, lass mich nicht mit diesem dämlichen Gesichtsausdruck ersticken, dachte ich bei mir, während Juli mit auf den Rücken rumhaute. Okay, atmen und den Husten unterdrücken. Ich verstand immernoch nur Bahnhof.
Tilda legte nun ihre Schiffsbauteile zur Seite, stand auf und setzte mich neben sich. Panik vermischte sich mit dem Geruch, der nun ganz eindeutig Tilda zuzuordnen war. Das böse W-Wort. Windel. Paul hat eine Windel an. Und Tilda wusste es. Ich war geliefert. Und realisierte nur langsam, dass nicht nur mein Geheimnis gelüftet worden war, sondern auch das von Tilda. Die war aber, anders als ich selbst, nicht sonderlich schockiert. “Was ist den los, Paul?”, fragte sie Mitten in das Schweigen hinein, das sich inzwischen über die Szene gelegt hat. “Eeeer ist noch nnneu im Wwwwindel-Bbbusiness!”, grinste Juli. Danke, Juli. Das ist NICHT witzig! Fand Tilda aber schon. “Das erklärt natürlich einiges!”, meinte sie mit einem Blick auf meine Hüfte. “Seit wann?” Ich biss die Zähne zusammen. Irgendwann muss doch dieser Moment kommen, an dem ich aufwache, aus diesem Scheiß-Traum. Bitte! Aber er kam nicht. Wilkommen in meinem Loser-Leben. Innerlich war für mich völlig klar, dass ich mit Tilda ganz sicher nicht über mein Windelgeheimnis reden würde. Ganz. Sicher. Nicht. Ich schaltete auf Durchzug und tat so, als sei der Linoleum-Boden das spannendste, was ich seit Jahren zu sehen bekommen hatte. Tunnelblick. “Okay, dann fange ich halt mal an!”, sprang Tilda in das von ihr selbst verursachte Schweigen und berichtete routiniert und in knappen Worten, warum sie wieder Windeln trug. Wobei die korrekte Präposition “noch immer” lautete und nicht “wieder”. Denn in der Tat hatte Matilda nie aufgehört, Windeln zu tragen. Sie war mit Spina bifida zur Welt gekommen, einem offenen Rücken. Die passende Wikipedia-Erklärung lieferte sie gleich mit. Deformation des Rückenmarks. Seltene Missbildung, die im schlimmsten Fall dazu führt, dass Betroffene ihr Leben lang auf den Rollstuhl angewiesen sind. Tilda hatte es vergleichsweise gut getroffen. Sie war in ihren ersten fünf Lebensjahren knapp 20 Mal operiert worden, konnte relativ normal laufen und musste nur aufpassen, nichts Schweres zu heben. “Wwwwarum dann Wwwwindeln?”, hakte Juli ein. Tilda zögerte. “Das haben die Ärzte trotz der vielen Operationen nicht hinbekommen! Meine Blase existiert quasi nicht, das Gleiche gilt für die Muskulatur an meinem Darmausgang. Kein Gefühl. Nix.” Sofort fühlte ich mich mies. Auf der anderen Seite sah Tilda nicht so aus, als sei sie deshalb sonderlich niedergeschlagen. Sie sei komplett inkontinent, erzählte sie weiter. Was das hieß, konnte ich mir nur ansatzweise vorstellen. Und ich hatte wirklich gedacht, ich hätte es schwer. Jammerlappen. Keine Hoffnung, frage ich zerknirscht? “Eine Kleine”, räumte Tilda ein. “Wenn ich nach der Pubertät ausgewachsen bin, können die Ärzte versuchen, eine künstliche Blase zu formen und einen künstlichen Darmausgang! Aber eine Garantie gibt’s halt nicht!” Tut mir leid für dich, murmelte ich. Aber Tilda winkte nur ab. “Eigentlich hab ich die Sache im Griff. Solche Unfälle wie heute passieren mir eigentlich nur noch, wenn ich extrem konzentriert, aufgeregt oder abgelenkt bin. Und dann merke ich es meist nur, weil mich Leute darauf hinweisen!” Ein schnelle Blick zu Juli. Der wusste einen Augenblick lang nicht, wohin mit seinen Händen. “Alles gut, Juli!”, führ Tilda fort. “Es wäre viel schlimmer gewesen, wenn ich hier weiter die Luft verpestet hätte!” Okay, damit war Juli rehabilitiert. Meine Rolle in dieser Aufführung wechselte aber nurn vom Zuhörer zu einem der Hauptdarsteller. Ich nahm allen Mut zusammen und erzählte Tilda, wie es dazu gekommen war, dass sie nicht die Einzige an Bord mit Windeln im Gepäck war. Die Sache mit der Blasenentzündung. Und seltsamerweise auch, dass ich lange Bettnässer war. “Pullups könnte ich vergessen!”, meine Tilda, nachdem ich fertig war. “Würden bei mir sofort auslaufen!” Ich nickte. Und stellte mit Schrecken fest, dass sich meine Windel inzwischen bedeuted schwerer anfühlte, als noch vor wenigen Augenblicken. Ich hatte es also schon wieder getan. In die Hose machen. Ohne Kontrolle. Erschrocken griff ich mir in den Schritt. Warm und schwer. Wie ich diesen Zustand hasste. Die Windel war ganz klar am Anschlag. Ich verzichtete auf irgendwelchen blöden Sprüche und räumte ein, dass das Thema Pullup auch bei mir langsam an seine Belastungsgrenze kam. Jetzt und hier ganz konkret, aber auch im Allgemeinen. “Okay, dann brauchen wir jetzt also beide einen Windelwechsel!”, stellte Matilda pragmatisch fest. “Wenn’s für dich okay ist, würde ich Frank Harmsen fragen, ob er mit mir anfängt!?” Wen bitte fragen? Den ersten Offizier? Schon wieder begann die Zeit stillzustehen. Die kann doch nicht einfach ein Crewmitglied fragen, ob er sie wickeln kann. Geht’s noch peinlicher. Immerhin deutet Matilda meinen Blick ziemlich richtig. “Oh, klar, kannst du ja nicht wissen. Frank ist ein Bekannter meiner Mutter. Deshalb sind wir ja auch bei der Kreuzfahrt dabei!” Ah, deshalb hatte er vorhin den Widerstand von Tildas Mutter so schnell in den Griff bekommen. Das erklärte Einiges, hieß aber noch lange nicht, dass ich mich von ihm würde wickeln lassen. Mit einer nassen Windel kam ich ganz gut selbst klar. Ich verkündete also, mit dem lässigsten mir möglichen Gesicht, dass ich kurz in die Kabine gehen und die Sache erledigen würde. “Bbbist du bescheuert?”, fragte mich Juli daraufhin. Was hatte der denn jetzt wieder? Auch Tilda rollte mit den Augen. “Paul, du brauchst 20 Minuten für den Hinweg. Bist du wieder hier bist, dauert es eine Stunde!”, stimmte Tilda Juli zu. “AAaaber kein Problem, wwwwwenn du uuuns eine Sssstunde Vorsprung gggeben willst, ggggerne!” So ein Mistkerl. Aber sie hatten ja beide Recht. Aber ich müsse in die Kabine, jammerte ich. Die Windel hält nix mehr aus. Das war echt zum Kotzen. Tilda seufzte. “Du hast also nichts zum Wechseln dabei?” Ich schüttelte den Kopf. “Immer diese Anfänger!”, grinste sie und griff in ihren Rucksack. Heraus zog sie eine Windel. Komplett weiß und ziemlich dick. “Du kannst gerne eine von meinen haben!”, fuhr sie fort. “Die passen dir garantiert und sollten bei dir fast den ganzen Tag reichen!”. Aus einem Reflex heraus griff ich zu und war dann doch selbst überrascht, wie schwer die Windel war. Dagegen waren meine Pullups echte Leichtgewichte. Sofort fielen mir die vier Klebestreifen ins Auge. Richtige Windeln halt. Ich konnte die doch nicht so einfach … wie zog man die überhaupt an? Schon wieder glühten meine Ohren. Mitten in die schönste Entscheidungsschwäche hinein meldete sich Juli. “Iiiich störe eeeeuch jjjja nur uuungern. Aber kkkönt iihr euch viellleich ein bbbbischen beeilen? Wwwwir haben hier ja nnnoch eine Aufgabe zu eeeerledigen!” Er zeigte auf die halbfertigen Schiffe. Ja doch, nicht hetzen. Immerhin war ich kurz davor, meine Pullup gegen eine richtige Windel zu tauschen. Da darf man doch wohl ein bisschen wankelmütig sein, oder? Ich steckte die Windel in meinen Rucksack und machte mich abmarschbereit. “Quatsch nicht rum!”, machte jetzt Tilda Druck und machte sich auf den Weg, um Frank Harmsen aus dem Nebenraum zu holen. Das dauerte nicht lange. Und der erste Offizier wirkte kein bisschen überrascht. “Tilda hat erzählt, dass du auch einen kleinen Boxenstop brauchst?”, fragte er mich, während er neben mir in die Hocken ging. “Ich helfe dir, das ist kein Problem. Und mach dir keine Sorgen, von Tilda bin ich deutlich Schlimmeres gewöhnt!” Jetzt wurde zur Abwechslung mal Tilda rot. Aha. Also doch nicht ganz so cool, wie sie immer tut. Das beruhigte mich dann doch irgendwie.
Im Gänsemarsch marschierten wir durch eine Tür, die uns in einen engen Gang führte. Zwei Quergänge weiter blieb Frank Harmsen dann vor einer Tür stehen, auf der “Sanitätsraum” stand. “Hier rein, da haben wir alles, was wir brauchen!”. Er schloss die Tür und legte den Riegel vor. “Jetzt stört uns auch keiner!”. Sanitätsraum war eine leichte Untertreibung. Das war eher eine Arztpraxis. Sie bestand, soweit ich sehen konnte, aus drei Behandlungszimmern und einem kleinen Vorraum mit zwei Wartebänken. Dort platzierte uns Frank Harmsen. “Zieht euch doch bitte schonmal die Strumpfhosen aus. Und du Tilda, auch noch dein Kleid. Paul, du dein Pullover! Ich bereite in Raum eins schonmal alles vor!” Er schnappte sich Tildas Rucksack und verschwand im Behandlungsraum. Ich war wie immer ziemlich schüchtern und wartete, bis Tilda den ersten Schritt machte. Die hatte längst ihre Strumpfhose ausgezogen und tastete sie gekonnt ab. Der “Duft”, der jetzt von ihr ausging, war mehr als eindeutig. “Schwein gehabt. Immerhin ist alles IN der Windel geblieben!” Mit zwei schnellen Handgriffen zog sie sich auch ihr Kleid über den Kopf und saß in einem hellgelben Windelbody vor mir. Ich kannte die Dinger von einem meiner kleinen Cousins. In der Größe, hatte ich aber noch keinen gesehen. Tilda registrierte meinen überraschten Blick und nahm mir sofort den Wind aus den Segeln. “Ich habe gar keine richtige Unterwäsche. Weil ich eh die ganze Zeit auf Windeln angewiesen bin, sind die Bodys viel praktischer!” Aha. Ich war dennoch nicht scharf darauf, so ein Ding anzuziehen. “Und wie sieht’s bei dir aus? Alles trocken geblieben?” Ich hatte mir gerade die Strumpfhose ausgezogen und machte wie Tilda vor mir den Trockenheits-Check. Sah so aus. Tilda grinste. Und ich ahnte warum. Die Unterhose mit den bunten Bildchen. Und plötzlich war ich mir gar nicht mehr so sicher, was denn jetzt peinlicher war: der Body, oder meine Unterhose. Zeit, mir darüber ernsthaft Gedanken zu machen, hatte ich aber nicht mehr. Frank Harmsen kam aus dem Behandlungszimmer und bat uns herein. Er hatte eine Patientenliege mit Handtüchern und saugfähigen Einmalunterlagen zu einem provisorischen Wickeltisch umgebaut. Dorthin schickte er Tilda. Mich platzierte er hinter eine Trennwand und bat mich, kurz zu warten. Vom Rest bekam ich nicht viel mit. Tilda und der erste Offizier unterhielten sich. Sie verstanden sich offensichtlich bestens. Dann, vier kurze Ratsch-Geräusche. Die Klebeverschlüsse von Tildas Windel, vermutete ich. Dann ein Schnaufer, der eindeutig Frank Harmsen zuzuordnen war. Offensichtlich war die Sauerei doch größer, als gedacht. Tilda plapperte ungestört weiter, während langsam eine Geruchsfahne vom Wickeltisch zu mir wanderte. Der arme Frank Harmsen. Keine fünf Minuten später stand Tilda bei mir. Sie sah irgendwie erleichtert aus uns roch leicht nach Feuchtigkeitscreme. “Der nächste bitte!” Ich schluckte, marschierte dann aber tapfer zur Wickeltisch-Liege. Beim Laufen konnte ich spüren, wie die Windel zwischen meinen Beinen hin- und herschaukelte. Das war jetzt aber wirklich allerhöchste Eisenbahn. Das sah auch der erste Offizier so, als er mir die Unterhose ausgezogen und die Pullup an den Seiten aufgerissen hatte. “Paul, das war wirklich allerletzte Rille! Deine Unterhose ist an den Rändern ganz leicht feucht. Nicht schlimm, aber das wäre sehr schnell schief gegangen!” Ich nickte. Und kämpfte mit den Tränen. Mit routinierten Handgriffen säuberte Frank Harmsen meinen Windelbereich mit Feuchttüchern. “Wir haben hier auch eine Toilette!”, sagt er zu mir, bevor er zu einer Windel griff, die aus Tildas Rucksack herausschaute. Ich kam nicht mehr dazu ihn darauf hinzuweisen, dass ich ja von Tilda bereits eine Windel bekommen hatte. Half jetzt eh nix. Mein Rucksack war ja vorne bei Juli. “Willst du vorher noch kurz aufs Klo? Ich überlegte kurz. Und horchte in mich hinein. Irgendwann würde das Frühstück bei Julis Großeltern auch wieder raus müssen, das war klar. Aber noch musste ich nicht. Oder zumindest noch nicht richtig. Ich zögerte, entschied mich dann aber gegen den Toilettengang und für die zeitsparende Version. “Na dann, hoch mit dem Popo!”, wies mich Frank Harmsen an, bevor er die Windel unter mit platzierte. Vier schnelle Handgriffe, dann wir die Sache erledigt. Die Windel saß erstaunlich eng, war dabei aber irgendwie auch total bequem und super-weich. Als ich vom Tisch sprang, raschelte die Windel ziemlich laut. Das war ich von meinen Pullups nicht gewohnt. Auch dass ich wegen der breiten Passform der Windeln jetzt leicht watscheln musste, irritierte mich. Alles in allem fühlte sich das aber gar nicht so verheerend an, wie angenommen. Ich marschierte in den Vorraum, wo Tilda bereits mit ihrer Strumpfhose kämpfte. “Steht dir!”, grinste sie mit einem Blick auf meinen Windelpo. Ne, tat es nicht. Und da konnte sie sagen, was sie wollte. Ich schlüpfte schnell in meine Unterhose, zog die Strumpfhose an und den Pulli drüber. Immerhin war die Windel jetzt nicht mehr auf den allerersten Blick zu sehen. Auch Tilda war wieder komplett angezogen und gemeinsam wartete wir auf Frank Harmsen. “War’s schlimm, für dich?”, fragte sie mich leise? Nö. Aber ungewohnt. Normalerweise kann ich meine Windeln ja selbst wechseln. Sie nickte. Und sagte dann wie aus heiterem Himmel: “Danke!” Danke? Wofür? “Dass du nicht gelacht hast!” Warum sollte ich denn lachen? “Paul, was glaubst du, was ich mir in der Schule anhören muss, wenn mir das gleiche passiert, wie hier?! Das ist echt nicht lustig!” Stimmt. Ich konnte mir das wirklich kaum vorstellen. Ich wurde ja nur wegen meiner Frisur gehänselt. Oder wegen meiner Klamotten. Oder einfach, weil ich zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort war. Alles Arschlöcher. Ich lachte Tilda an. Und sie lachte zurück. Wieder jemand, dem ich also vertrauen konnte. Nein, vertrauen wollte. Das war schon seltsam. Je mehr Menschen von meinen Schwächen und Problemen wussten, desto mehr Freunde fand ich. Weil sie mich so akzeptierten, wie ich war. Und ihre Geheimnisse bei mir gut aufgehoben waren. Das fühlte sich … richtig an!
Wenige Augenblicke später waren Tilda und ich zurück am Test-Pool. Von Juli keine Spur. Den fanden wir um die Ecke auf den Sofas, in der Hand eine Dose Orangenlimonade. Er sah sehr zufrieden aus. “Nnna, alles wwwwieder frisch?” Ich nickte. Und sah auf den ersten Blick, dass er während unserer Abwesenheit nicht nur fleißig an seinem Boot gebaut, sondern wahrscheinlich auch permanent den Daumen im Mund gehabt hatte. Als ich mich setzte, war ich davon überzeugt, dass das Rascheln dieser Monsterwindel bis hoch zum Kapitän zu hören war. Kam mir aber wahrscheinlich nur so vor, denn Juli zeigte keinerlei Regung. Wie konnte Tilda das nur ertragen. Tag für Tag. Mich machten die ersten zehn Minuten in der Windel schon wahsinnig. A propos Minuten. Ein Blick auf die Uhr zeigt, dass Juli die Boots-Challenge gewinnen würde. Die Windelwechsel-Aktion hatte doch länger gedauert, als ich gedacht hatte. Tilda und mir blieben jetzt nur noch zehn Mintuen, um unsere Schiffe fertig zu bauen. Das war aussichtlos. Ganz so leicht wollten wir es unserem selbstbewussten kleinen Lord dann aber doch nicht machen. “Herr Harmsen?”, fragte Tilda mit zuckersüßem Augenaufschlag und einem süffisanten Seitenblick auf Juli. “Bevor Sie Juli als Sieger kühren, muss sein Boot aber schon noch beweisen, dass es überhaupt fährt, oder?” Das war schlau und brachte Juli in den nächsten fünf MInuten nochmal ganz schon ins Schwitzen. Während er sein Boot vorbereitete, wünschte er uns neben der Pest auch noch lebenslangen Durchfall an den Hals. Und als er sein Boot etwas zu schwungvoll im Wasser platzierte, konnte ich mir den Hinweis nicht verkneifen, dass er doch bitte vorsichtig sein solle. Auch so ein Kapitän kann schließlich seekrank werden. Und damit hatte dann schließlich auch Juli sein soll an hellrot leuchtenden Ohren erfüllt. High-Five mit Tilda. Kurz: Wir amüsierten uns bestens. Echte Sorgen um seinen Sieg musste sich Juli aber nicht wirklich machen. Erstens hatten wir eh nichts, um ihm Paroli zu bieten. Und zweitens war sein Antriebskonzept wirklich super. Er hatte eine Art Dampfmaschine gebaut. Auf vier Stützen aus Holz lag eine Metalldose, die er gerade mit etwas Wasser füllte. Unter der Dose brannten zwei Teelichter. Der entstehende Wasserdampf konnte durch ein kleines Loch an der Stirnseite der Dose entweichen und schon so als Mini-Düse das Boot langsam übers Wasser. Nicht schnell, aber gleichmäßig. Das klappte perfekt. Nach fünf Runden brachen wir alle drei in Jubel aus. Juli strahlte, als hätte er gerade eben sein Kapitänspatent gemacht. “Wwwwwir sitzen am Tttisch des Kapitäns! Wwwwwen das mein Opa eeeerfährt!” Ich gönnte ihm diesen Moment von Herzen. Endlich hatten der Graf und die Gräfin mal einen Grund, stolz auf ihren Enkel zu sein. Und weil ich gerade so gut drauf war und Juli heute Abend eh bessere Plätze hatte, fragte ich Tilda, ob sie beim Abendessen mit ihrer Mutter bei Onkel Phil und mit am Tisch sitzen wollte. Ich wusste, das Onkel Phil wieder Plätze beim Mexikaner reserviert hatte. Juli würde mit seinen Großeltern im großen französischen Restaurant beim Kapitän essen. “Ich muss Mama fragen. Aber das klappt schon!”, strahlte Tilda. Hoppla, war das jetzt eine Art Date? Nö, oder? Wahrscheinlich hatten Tilda und ihre Mutter eh nichts Besseres vor. Insgesamt also gar kein so schlechter Vormittag fand ich, als wir alle zusammen zurück zur Rezeption marschierten, wo wir von Eltern, Onkeln und Großeltern abgeholt werden sollten.
Teil 9
Onkel Phil stand bei Julis Großeltern und wirkte sehr entspannt. Und er roch auch so. Massageöl, schlussfolgerte ich. Den kann heute garantiert nichts mehr erschüttern. Bevor wir uns aber richtig begrüßen konnten, sprengte auch schon Juli die Szene mit seinem großen Auftritt. Fast ohne Stottern berichtete er seinen Großeltern von seinem erfolgreichen Schiffsantrieb und seinem Gewinn, dem Platz am Kapitänstisch. Der Graf schaltete schlagartig in den “Stolzer Opa”-Modus und nickte anerkennend. Die Gräfin wirkte etwas abwesend. Aber ebenfalls sehr zufrieden. Wahrscheinlich ging sie im Geiste ihre Garderobe-Optionen durch. Onkel Phil und ich ließen den drei ihre Freude. Wir verabredeten uns zu einer kleinen Scrabble-Runde nach dem Essen in der Bibliothek und wollten gerade Richtung Kabine verschwinden, da Stand Tilda plötzlich vor mir. “Es klappt, Paul!” Wie immer war ich kurz sprachlos, wenn Tilda etwas zu mir sagte. Was klappt? Schlimm, wenn mal kurz die Sauerstoffversorgung im Hirn aussetzt. Ach Gott, das Essen. Genau. Natürlich. Großartig? Cool? Elefantös? Was antwortet man einem Mädchen, mit dem man am gleichen Abend zum Essen verabredet ist? Ich hatte keine Ahnung. Und so musste ein schlichtes Super! reichen. “Tina, also meine Mama, freut sich total. Wir sind dann um 18.30 Uhr beim Mexikaner!?” Ich nickte. Onkel Phil auch. Ups, den hatte ich ja ganz vergessen. Zu fragen. Naiver Dackelblick? Ein kurzes Räuspern. War aber alles kein Problem. “So, du bringst also Damenbesuch mit, heute Abend?”, fragte mich Onkel Phil mit einer Entspanntheit in der Stimme, dir mir fast ein bisschen Sorgen machte. In Sachen Smalltalk war Onkel Phil Weltklasse, das wusste ich ja inzwischen. Um Tildas Mama musste ich mir also keine Sorgen machen. Die würde sich mit Onkel Phil allerbestens amüsieren. Aber was war mit Tilda? Himmel, ich musste ja mit ihr reden. Sofort begann ich zu schwitzen. Über was rede ich nur mit ihr? Das Thema Windeln hatten wir ja durch. Zum Glück. Muss man ja nicht am Tisch besprechen, sowas.
“Bist du aufgeregt?”, fragte Onkel Phil, als wir Richtung Kabine schlenderten? “Ist immerhin deine erste Verabredung! Wie hast du Tilda denn kennengelernt?” Pling, rote Ohren. Das war echt nervig. Ich verdrehte die Augen. Keine Verabredung! Und auch kein Date, versuchte ich klarzustellen. “Was denn dann?”, kam sofort der Konter. Ja genau. Was denn dann? Und so erzählte ich Onkel Phil die ganze Geschichte. Inklusive des Windel-Finales. “Du führst also deine Wickeltisch-Bekanntschaft zum Essen aus. Ungewöhnlich, aber doch irgendwie originell!” Das sollte wohl ein Lob sein. Ich schmollte dennoch. Wickeltisch-Bekanntschaft. Das klang wirklich nicht besonders nett. Traf es aber ganz gut. Onkel Phil grinste. “Wir machen uns jetzt einen entspannten Nachmittag. Und später sehen wir dann, dass das ein für alle Seiten erfreulicher Abend wird!” Das klang nach einem Plan.
Wir waren keine zehn Minuten in der Kabine, da forderte die Rennerei übers Schiff ihren Tribut. Ich hatte mir gerade meinen Overall und die Schuhe ausgezogen und es mir neben Onkel Phil bequem gemacht, um ihn ein bisschen beim Auto-Quartett zu demütigen, da fielen mir die Augen zu. Onkel Phil decktemich leise zu, dimmte das Licht und verzog sich mit seinem Laptop in einen der Arbeitsbereiche im Zwischendeck. Bilder bearbeiten, Website aktualisieren und den morgigen Tag planen. Zu tun gab es genug. Und ohne eine elfjährige Laberbacke an seiner Seite, ging das alles auch deutlich schneller.
Pling! Irgend etwas piepste. Zum Glück nicht laut genug, um mich wirklich zu wecken. Pling! Da war es schon wieder. Intuitiv wühlte ich mich tiefer in die Decke. Half aber nichts. Pling! Und wenig späte: Pling, Pling! Was hatte das in meinem Traum verloren? Im Halbschlaf versuchte ich mich zu orientieren. Half aber alles nichts. Wo war ich, verdammt? Und warum war es so dunkel? Pling, Pling! Das ging mir auf die Nerven. Ich wollte weiterschlafen! Ging aber nicht. Weil da dieses Pling, Pling keine Ruhe gab. Und ich durch den flauschigweichen Schlafnebel spürte, dass ich sehr dringenden aufs Klo musste. Das Frühstück wollte raus. Und zwar pronto. Jetzt aber schnell. Ich strampelte mir die Decke vom Körper, sprang aus dem Bett und wollte wie immer rechts durch die Tür in Richtung Badezimmer. Der schnell Schritt endete aber mit einem schmerzhaften Rumms gegen der Wand. Ich war völlig desillusioniert. Hatte Panik und spürte, dass ich eigentliche keine Zeit für so ein “Paul findet den Weg zur Toilette nicht”-Spielchen hatte. Ich gönnte mir ein paar Sekunden, um nachzudenken. Immerhin war ich jetzt wach. Wo war ich? Kabine war einfach. Aber wo? Nicht in meinem Zimmer. Auch einfach. Dann also Onkel Phils Bett. Stimmt. Wir wollten Quartett spielen. Eingeschlafen. Ich Hornochse. Als nach links! Ich stieß mich von der Wand ab und hatte den folgenden Weg bereits im internen Navigationssystem abgespeichert, da schlug erneut das Schicksal zu. Mein Overall und meine Stiefel. Beides hatte ich vorhin ziemlich achtlos im Flur liegen lassen, statt alles, wie Onkel Phil mit einer Engelsgeduld predigte, sofort wegzuräumen. Jetzt war das Klamotten-Knäuel im Halbdunkel nicht zu sehen. Ich trat erst auf einen der Stiefel, erschrack und suchte panisch einen freien Punkt, um mein linkes Bein sicher aufzusetzen. Ich fand aber nur den Stoff meines Overalls. Und der war alles, nur nicht rutschfest. Der Rest war Physik. Mit einem hässlichen Geräusch verlor ich das Gleichgewicht und spürte, dass ich mich für den Bruchteil einer Sekunde im freien Fall befand. Nur nicht auf dem Gesicht landen, meldete irgend ein Instinkt und sorgte dafür, dass ich mich auf dem Weg nach unten zur Seite drehte. Die Landung war dennoch fies. Ich schlug mit der Schulter auf, versuchte mich mit dem rechten Arm abzustützen und spürte, wie sich der Schmerz mit hell blitzenden Sternchen ankündigte. Dann folgte der Rest meines Körpers. Kopf, Hüfte, Beine. Bevor ich aber Zeit hatte, im Schmerz zu versinken, meldte sich mein Darm und erinnerte mich an meine eigentliche Mission. Die Toilette. Ich lag genau davor. Der Weg zum Mond hätte in diesem Augenblick nicht weiter sein können. Ich würde es nicht mehr schaffen. Nicht schon wieder war das Letzte, das mir durch den Kopf ging, bevor ich den Widerstand aufgab und sich mein Darminhalt seinen Weg suchte. Als Onkel Phil ein paar Minuten später zurückkam um mich zu wecken, kauerte ich wie ein Häufchen Elend im Flur. Tränen liefen mir übers Gesicht. Nicht wegen dem, was in meiner Windel war. Sondern wegen meinem rechten Unterarm, den ich in einem ungesunden Winkle gegen den Körper presste. “Paul, Juli hat geschrieben, er fragt ob du …?” Weiter kam er nicht. Dann schaltete auch Onkel Phil in den Notfall-Modus. “Scheiße Paul, was machst du denn für Sachen?” Er Blick genügte ihm um zu sehen, dass bei der Stellung des Unterarms ein paar Pflaster und ein Coolpack nicht reichen würden. Ohne weitere Zeit zu verlieren, nahm er mich auf den Arm und ging ruhig, aber schnell zur Krankenstation.
Die war eigentlich eine genaue Kopie der Räume, in denen Frank Harmsen Tilda und mich gewickelt hatte. Nur ein bisschen freundlicher und viel größer. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis die Krankenschwester am Empfang den Ernst der Lage erkannt hatte und Onkel Phil und mich in ein Behandlungszimmer durchwinkte. Da roch es nach Krankenhaus. Onkel Phil hatte mich auf den Schoß genommen, ich klammerte mich mit dem einen gesunden Arm an ihn wie ein Äffchen. Mir war heiß und kalt. Gleichzeitig. Und wenn ich einen Blick auf meinen Arm riskierte, dreht sich alles. Dazu kam noch dieses kalte klebrige Gefühl in der Windel. Mir war schlecht. Als die junge Ärztin (wo kam die denn auf einmal so schnell her?) den Ärmel mit einer Schere aufschnitt, wimmerte ich. Erst jetzt bekam ich mit, dass Onkel Phil die ganze Zeit beruhigend auf mich einredete. Jetzt redete er mit ihr und teilte ihr mit, was seiner Ansicht nach passiert war. Keine Ahnung, was er genau sagte. Aber es tat gut, seine Stimme zu hören. Die Untersuchung dauerte nicht lange. Die Ärztin tastete vorsichtig meinen Arm ab, leuchtete mir in die Augen, fühlte meinen Puls. “Elle und Speiche sind gebrochen, das ist ziemlich sicher!”, erklärte die Ärztin. “Kein Drama. Bei Kindern im Wachstum passiert das schnell. Wächst zum Glück aber auch sehr gut zusammen! Wir röntgen gleich um zu sehen, ob noch andere Knochen was abbekommen haben! Und dann gibt’s einen schicken Unterarmgips!” Jetzt war sogar Onkel Phil erstaunt. “Sie haben ein Röntgengerät an Bord?” Die Ärztin lachte. “Wir können hier bis auf Organtransplantationen so ziemlich alles machen!” Krass. Ich musste also nicht ins Krankenhaus? “Du bist hier im Krankenhaus, Paul! Nur halt auf einem Schiff!” Wow. Ich hätte jetzt zu gerne einen passenden Spruch auf Lager gehabt. Aber leider war ich damit beschäftigt, die Schmerzen zu unterdrücken, die jetzt langsam meinen Arm hochkrochen. Die Ärztin sah mir an, was los war. “Wir geben ihm jetzt erstmal ein starkes Schmerzmittel. Der Schock lässt nach, das wird sonst sehr schnell sehr unangenehm!” Und bevor ich auch nur daran denken konnte darauf hinzuweisen, dass ich Spritzen hasste und echt Angst vor den Dingern hatte, spürte ich auch schon einen Stich im Oberarm. Autsch! Das war gemein. Aber … schön! Die Wärme kam überfallartig und breitete sich in meinem ganzen Körper aus. Wow. Nett hier. Und so viele Geräte. Hatte ich gerade noch Schmerzen gehabt? Ich grinste. Und fühlte mich großartig. “Was haben sie ihm gegeben?”, fragt Onkel Phil irritiert? “Ein sehr schnell wirkendes Mittel, das ihm alle Schmerzen nimmt. Bei der Behandlung von Kindern ist das extrem wichtig. Ohne Schmerzen bei der Behandlung verläuft die Heilung meist viel unkomplizierter! Und ja, das Zeug hat ähnliche Nebenwirkungen wie ein Joint. Er fühlt sich gerade ziemlich gut!” Beide lachten. “Wir bereiten nebenan das Röntgen vor. Können Sie ihn bitte in ein paar Minuten auf die Liege da drüben legen?” Onkel Phil nickte. “Ich müsste aber vorher noch kurz in die Kabine und frische Sachen für ihn holen. Sie haben ja wahrscheinlich mitbekommen, dass er nicht gerade Aprilfrisch riecht!” Hey, das war ja wohl die Höhe! Musste Onkel Phil vor der Ärztin die Windel ansprechen? Frau Doktor blieb aber erstaunlich gelassen. “Klar, das habe ich mitbekommen. Sie müssen dafür aber nicht extra in die Kabine. Wir haben alles da!. Die Schwester bringt Ihnen alles, was Sie brauchen! Darf ich fragen, warum Paul noch Windeln braucht?” Na toll, jetzt hatten wir den Salat. Das ging die blöde Kuh doch gar nichts an. Ich wollte was sagen, bekam aber kein Wort raus. Was war denn bitte mit meiner Zunge los? Onkel Phil war wie immer entspannt und schaffte es, die gesamte Windelgeschichte in vier oder fünf Sätze zu packen. Die Ärztin nickte verständnisvoll. “Sowas habe ich mir schon gedacht. Ich denke, dass die Sache nach dem nächsten Besuch beim Kollegen auf dem Festland ziemlich schnell vorbei sein wird. Die Situation hat sich in den letzten Tagen nicht wirklich gebessert?” Onkel Phil schnaufte und zeigte auf meinen Windelbereich. “Ja, so kann man das umschreiben!” So langsam war ich genervt. Hatten die den nichts besseres zu tun, als über mein Windelproblem zu quatschen? Mir war das so peinlich! Half ja aber alles nichts. Als die Ärztin den Raum verließ, wollte ich ein ernstes Wörtchen mit Onkel Phil reden. Kam aber nicht dazu. Weil auf einmal die Schwester vom Empfang neben Onkel Phil stand und eine dieser Monsterwindeln die ich von Tilda kannte, feuchte Tücher, Creme und ein Handtuch neben mich legte. “Die müsste passen!”, sagte sie zu Onkel Phil mit einem Blick auf die Windel. “Wir benutzen hier zufällig die gleiche Marke! Brauchen Sie Hilfe?” Was sollte das denn jetzt schon wieder? Pullups, Leute! Ich trug eigentlich Pullups! Dieses Windelding von Tilda war doch nur eine Notlösung! Onkel Phil, sag doch bitte auch mal was! Und das tat er auch. “Nein danke, alles perfekt!” Häh? Nix war perfekt! Hallo, Erde an Onkel Phil! Kannst du bitte eine MEINER Pullups holen?“ Keine Chance. Onkel Phil zog das jetzt durch. “Das haben wir gleich!” war das letzte was ich hörte, bevor er mir die Strumpfhose auszog. Als dann auch die Unterhose weg war und ich freien Blick auf die Windel hatte, blieb von meinem inneren Widerstand nichts mehr übrig. Die eigentlich weiße Windel war vorne komplett gelb verfärbt, der Nässeindikator leuchtete Giftgrün. Wie’s in der Windel aussah, spürte ich ja schon eine Weile. Hätte ich eine von meinen Pullups angehabt, wäre ich jetzt ein Fall für den Vollwaschgang. Von Onkel Phils Bett und der Krankenstation ganz zu schweigen. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Ich schloss die Augen und versuchte Onkel Phil seine Arbeit so gut es ging zu erleichtern. Vier mal ritschten die Klebebänder, dann spürte ich, die kühle Luft am Windelbereich. “Oha, das hat sich aber gelohnt! War vielleicht ganz gut, dass Tilda dir eine ihrer Windeln geliehen hatte!”, meinte Onkel Phil, während er mit der Vorderseite der Windeln die gröbste Sauerei beseitigte. Sagte ich doch. Aber ich muss diesem Scheißding ja nicht auch noch dankbar sein. Dann rollte er mit dem linken Arm meine Beine nach oben. Ich hob automatisch den Po und so konnte Onkel Phil mit der eigentlichen Arbeit beginnen. Dank der dicken feuchten Tüchern aus der Krankenstation ging das Saubermachen erstaunlich schnell. Kein Vergleich zu den kleinen Feuchttüchern. “So, das wird doch alles gar nicht so schlimm!”, murmelte Onkel Phil, während er die Windel und die schmutzigen Tücher zu einem großen Stinkepaket zusammenrollte und mit den Klebestreifen fixierte. “Besser jetzt?” Ich strahlte, auch wenn ich mich gar nicht so fühlte. Wahnsinn, dieses Betäubungsmittel. “Ich muss die Ärztin unbedingt fragen, ob sie mir auch ein Fläschchen von dem Zeug mitgeben kann!”, grinste Onkel Phil. So richtig witzig fand ich das nicht. Trotzdem fühlte es sich gut an, dass er auch in dieser Situation seinen Humor nicht verlor. “Dann wollen wir dich mal wieder einpacken!” Und schon hatte ich die frische Windel unterm Popo. Wieder dieses weiche Gefühl, das ich schon vom letzten Mal kannte. “Du hast einen ganz schön roten Po!”, meinte Onkel Phil, während er die Creme verteilte. “Damit sollte es aber besser werden!” Der Rest dauerte wie bei Frank Harmsen nur wenige Augeblicke. Vier Klebestreifen platzieren, schon saß die Windel perfekt. Wir atmeten beide erleichtert aus. Auch bei Unterhose (die hatte wie durch ein Wunder wirklich nichts abbekommen) und Strumpfhose musste Onkel Phil mir helfen. Mein rechter Arm war ja aktuell zu nichts zu gebrauchen. Scheiße, das würde ja auch die nächsten Wochen so sein, pflügte sich die Welle der Erkenntnis durch mein Hirn. Ich würde ohne fremde Hilfe nichtmal ein Brot schmieren können. Schöner Scheiß. Ich kam allerdings nicht mehr dazu, mir allzu ausgiebige Gedanken über meine anstehende Unselbständigkeit zu machen. Onkel Phil hatte mich gerade auf der fahrbaren Liege platziert, da wurde ich auch schon von der Krankenschwester in den Röntgeraum gerollt. Vor dem Riesenapparat in dem winzigen Raum hatte ich echt etwas Bammel. War dann aber ganz easy, auch wenn in dem Räumchen die Klimaanlage volle Pulle lief. Und Dank der Spritze war es auch kein Problem, dass die Schwester meinen Arm ein paar Mal hin und herdrehte.
Als ich zurück ins Behandlungszimmer geschoben wurde, sah ich gerade noch Onkel Phil, der mit dem Handy am Ohr aus dem Raum ging. Garantiert war Mama dran. Der Arme. Mama hin oder her, mir war immernoch kalt.Und das war auch kein Wunder. Ich lag hier ja nur im Unterhemd und einer Strumpfhose rum. Als die Ärztin in den Raum kam und sich die Röntgenbilder auf einem riesigen Flachbildschirm anzeigen ließ, begann ich leise mit den Zähnen zu klappern. “Du liebe Güte!”, sagte sie, als sie bemerkte wie kalt mir war. “Du hast ja wirklich nicht viel an. Und dann noch der Schock. Moment, wird gleich besser!” Ich hörte eine Schranktür klappern und verschwand kurz darauf unter einer warmen Decke. Das war herrlich. Und dann war ich plötzlich auch so müde … Vielleicht ein kurzes Nickerchen? Nix da. Weil erstens Onkel Phil wieder an meinem Bett auftauchte und zweites die Ärztin die nächsten Schritte erklären wollte. “Wir müssen uns ein bisschen beeilen!”, drückte Frau Doktor aufs Tempo. “Paul wird innerhalb der nächsten 30 Minuten ziemlich müde werden. Eine Nebenwirkung des Medikaments und des Schocks!” Entsprechend schnell ging dann auch die Erklärung der nächsten Behandlungsschritte. Ich hatte mir wirklich Elle und Speiche gebrochen. Jeweils ein glatter Bruch. Alles easy, wie Frau Doktor sich ausdrückte. Drei bis vier Wochen Gips, dann sollte der Arm wieder funktionieren. Vier Wochen? Dann musste ich ja auch mit dem Ding in die Schule? Schule und Gips, da war doch was. Genau! Mit Gips wurde man geschont, musste nicht beim Sportunterricht mitmachen und auch sonst viel netter behandelt, als sonst. Also her mit dem Ding!
Bevor es losgehen konnte, musste die Ärztin erst noch die gebrochenen Knochen richten. Ohne Betäubung wäre ich dabei wahrscheinlich vor Schmerzen die Wände hochgerannt. Dank der wunderbaren Leck-mich-am-Arsch-Spitze konnte ich der Sache aber interessiert zuschauen. Anschließend wickelte mir die Schwester eine weiche Zellstoffauflage um den Arm. Als die Ärztin dann mit einem ganzen Koffer voller bunter Binden ins Zimmer kam, war dann aber auch Onkel Phil sprachlos. “Wie, Farben und Muster aussuchen? Zu meiner Zeit war ein Gips weiß!” Die Ärztin verdrehte die Augen und grinste. “Ganz schön alter Knacker, dein Onkel!” Stimmt. Fettes Grinsen. Wobei ich auch keine Ahnung hatte, dass es so viel bunte Farben gab, mit denen man sich eingipsen lassen konnte. Meine Entscheidung war schnell getroffen. Ein leuchtendes Grün mit weißen Sternen. Passte zu meiner Strumpfhose. “Dann mal los!”, meinte die Ärztin und legte drei der Binden in eine Wasserschale. Als sie damit meinen Arm eingepackt hatte, spürte ich sehr schnell, dass der Verband sich erwärmte. “Das ist ganz normal”, beruhigte mich die Ärztin. Das Harz in den Binden gibt beim Aushärten Wärme ab. Das ist gleich vorbei!” Und tatsächlich. Die Wärme ging. Was blieb, war ein knallharter Panzer um meinen rechten Unterarm und das Handgelenk. Das sah schon irgendwie cool aus. Da ich aber das Pochen im Arm spüren konnte wusste ich, dass das nicht nur angenehme Tage werden würden. “Paul muss bitte noch zehn Minuten liegen bleiben, bis der Gips komplett ausgehärtet ist! Wir räumen hier kurz zusammen, dann geben ich Ihnen noch ein paar Medikamente und Anweisungen mit!”, meinte die Ärztin, bevor sie einen Teil des Materials zusammenpackte und aus dem Zimmer marschierte. Jetzt hatte auch endlich Onkel Phil Zeit, sich mal hinzusetzen. Er zog sich einen Stuhl zu meiner Liege, nahm Platz und streichelte mir ganz sanft über die Wange. “Ich hab mir echt Sorgen gemacht, kleiner Mann!” Und plötzlich sah er gar nicht mehr souverän und stark aus, mein Onkel Phil. Er tat mir leid. Ich tat mir leid. Und schon flossen wieder die Tränen. Die ganze Anspannung der letzten Stunde löste sich. Das tat gut. Onkel Phil hielt meine linke Hand und war einfach da. Er ließ erst los, als ich mit einem letzten Wimmern eingeschlafen war.
Ich wurde wach, weil ich das Gefühl hatte, mein rechter Arm würde in Flammen stehen. Irgend etwas brannte, juckte, pochte und zog darin. Kein echter Schmerz, aber ein Gefühl, dass mir Angst machte. Ich lag in meinem Zimmer in der unteren Etage meines Unterwasser-Stockbetts und sah auf meinen eingegipsten Arm, der mich gerade unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte. Gefühlt dauerte es eine Stunde, bis ich die letzten Stunden im Kopf zu einem Gesamtbild der aktuellen Situation zusammengefügt hatte. Der Sturz. Der Schmerz. Die Ärztin. Onkel Phil. Der Gips. Die volle Windel. Erschrocken fasste ich unter die Decke. Spürte, dass Onkel Phil mir die Strumpfhose ausgezogen hatte. Spürte den Stoff meiner Unterhose. Spürte die dicke Windel darunter. Immerhin war noch alles trocken. Der Nebel in meinem Kopf wollte sich einfach nicht so richtig lichten. Ich wäre zu gerne einfach im Bett geblieben und hätte das auch getan, wenn da nicht mein Arm gewesen wäre, der sich inzwischen nicht nur seltsam anfühlte, sondern weh tat. Richtig weh, verdammt. Außerdem hatte ich Durst. Mit einem Stöhnen schwang ich die Beine aus dem Bett und blieb dabei mit dem linken Fuß an einer Deko-Koralle hängen. Autsch, verdammt. Der Schmerz im Fuß verdrängte kurz den Schmerz im Arm. Mir standen die Tränen in den Augen. War im Grunde ja auch egal, woher der Schmerz kam. Tief Luft holen, mit der Linken Hand an der Sprossenleiter des Etagenbettes festhalten und aufstehen. Ich wimmerte. Ich winkelte den Gipsarm an und versuchte, den stechenden Schmerz in den Griff zu bekommen. Ja, so ging’s. Vorsichtig ging ich ein paar Schritte vorwärts, hielt mich an der Kommode fest und sah dort meine Strumpfhose liegen. Zusammen mit einem frischen Pulli mit TKKG-Logo. Ganz abgesehen davon, dass ich nicht scharf darauf war, den anzuziehen, wurde mir wieder bewusst, dass das mit Gipsarm echt nicht einfach werden würde. Momentan trieb mir die kleinste Bewegung mit den Fingern die Tränen in die Augen. Ich schob die Schiebetür auf und blickte in die warmen Augen von Onkel Phil.
Der saß auf einem der Sessel, der kleine Tisch neben ihm war mit ein paar Päckchen Tabletten und diversen Packungsbeilagen gut gefüllt. Neben dem zweiten Sessel standen, und an der Stelle vergaß ich kurz den Schmerz im Arm, zwei grauweißblaue Windelpakete. Ich kannte den Namen, der stand auch als Nässindikator auf den Windeln, die ich seit dem Unfall in der Crewmesse trug. Ich hatte sowas befürchtet, kam aber nicht dazu, mir selbst Leid zu tun. DIe Schmerzen waren jetzt echt kaum noch auszuhalten. Ich presste den Gips an den Oberkörper und wimmerte. Onkel Phil zeigte auf den Sessel neben sich und gab mir zu verstehen, dass ich mich setzen solle. Ich versuchte, meinen Körper so bequem wie möglich zu positionieren, bewegte den Gipsarm keinen Millimeter und sah Onkel Phil mit verheulten Augen an. Der lächelte. “Hast du Schmerzen?” Ich nickte und schloss die Augen. Onkel Phil reichte mir zwei Tabletten und schob ein Wasserglas zu mir rüber. “Dann nimm die bitte. Die Ärztin hat mir alles für dich mitgegeben. Sie hat angekündigt, dass du nach dem Schlafen etwas gegen die Schmerzen brauchen würdest.” Ich nahm nicht gerne Tabletten. In diesem Fall war ich aber noch nie so froh, zwei dieser kantigen Dinger zu sehen. Ich schluckte sie beide mit einem großen Schluss Wasser hinunter. “In spätestens zehn Minuten sollten die Schmerzen weg sein!”, erklärte Onkel Phil weiter. “Geht’s so einigermaßen?” Ja, ging. So lange ich den Arm nicht bewegte, ließen sich die Schmerzen aushalten. “Wir müssen ein paar Dinge besprechen!”, fuhr Onkel Phil fort. Und dann redeten wir. Zuerst über die Tabletten, die ich in den nächsten Tagen würde nehmen müssen. Und darüber, was erstmal tabu war. Das ging schnell. Der rechte Arm war für alles tabu, was Spaß machte. Nerf-Spielen, Klettern, Schwimmen, schwere Dinge heben. Ätzend. Dann schwenkten wir zu dem Thema, das mich beschäftigte, seit mir die Ärztin den Arm eingegipst hatte: Wie sollte ich den Alltag hinbekommen? “Gute Frage”, sagte Onkel Phil mit einem entspannten Lächeln. “Aber das kriegen wir schon hin. Die Ärztin meinte, dass du auch die rechte Hand ungefähr 5 Tage nicht benutzen sollst. Weil’s wegen der Schmerzen eh nicht gehen würde und um die Heilung nicht zu gefährden!” Fünf Tage? Das war krass. Oder besser: Was für ein Scheiß. Konkret hieß das für mich: In den nächsten Tagen würde mir Onkel Phil beim Anziehen helfen müssen. Und beim Essen. Das war im Grunde kein großes Problem. Heikel wurde es beim Thema Toilette. Ich hatte das schon ganz richtig gesehen, die Ärztin war der Meinung, dass ich auf etwas dickere Windeln umsteigen sollte. Mit dem gebrochenen Arm hatte das aber wenig zu tun. Sie hatte lange mit Onkel Phil gesprochen und der hatte ihr berichtet, dass meine Blasenschwäche in den letzten Tagen eher schlimmer als besser geworden war. Das Thema war mir unendlich peinlich. Aber ich wusste selbst sehr genau, dass da wirklich nicht mehr viel Blasenkontrolle übrig war. Und dafür waren die Pullups echt nicht gemacht. Also echte Windeln. Die zusätzliche Sicherheit war noch aus einem weiteren Grund ganz vernünftig: meinem Darm. Den hatte ich zwar eigentlich im Griff, ohne funktionierenden rechten Arm würde ich es auf der Toilette aber garantiert nicht immer rechtzeitig schaffen, Hose, Strumpfhose, Unterhose und Windel loszuwerden. Und Onkel Phil konnte ja nicht 24 Stunden am Stück neben mir herlaufen. “In den ersten Tagen müssen wir da beide einfach so entspannt wie möglich mit der Sache umgehen. Was in die Hose geht, geht ihn die Hose!” Sehr witzig. Das sagte der so einfach. Er hatte ja keine kaputte Blase, einen kaputten Arm und die Aussicht vor der Nase, fast eine Woche lang nur sehr eingeschränkt auf die Toilette gehen zu können, weil niemand da war, der mir aus den Klamotten helfen konnte. Ich motzte leise vor mich hin. Onkel Phil war aber noch nicht fertig. “Paul, die Ärztin hat explizit darauf hingewiesen, dass du nach gut einer Woche auf jeden Fall wieder anfangen musst, die Sachen wieder selbst in den Griff zu bekommen! Und genau so werden wir das machen! Heißt: Morgen bei unserem Shopping-Trip werden wir auch ein paar bequeme, einfach an- und auszuziehende Klamotten kaufen, die du auch mit eineinhalb Armen im Griff hast, okay?” Ich hörte, was Onkel Phil sagte, aber es kam nicht wirklich bei mir an. Jaja. Immerhin wirkten die Tabletten langsam. Der Arm fühlte sich weiter warm an, aber immerhin konnte ich die Finger wieder ein bisschen bewegen. Kein Grund, euphorisch zu werden. Ich konnte sie ein paar Zentimeter nach oben und unten bewegen. Gut fühlte sich das deshalb noch lange nicht an. Und jetzt? Onkel Phil grinste und hielt mir sein Tablet hin. “Jetzt skypen wir mit deiner Mama! Die macht sich ziemliche Sorgen um ihren tollpatschigen Sohn und will wissen, ob er die Ferien wirklich noch durchziehen will!?” Ich stöhnte. Mama. Die hatte ich ja ganz vergessen. Und was hieß hier eigentlich, ob ich den Urlaub noch durchziehen wolle? Das war ja wohl die Höhe! Und schon hörte ich das charakteristische Wählgeräusch des Messengers. 35 Minuten Mama. Ein Marathon ist nix dagegen. Aber es fühlte sich trotzdem irgendwie auch gut an. Mama bleibt halt Mama. Ich brauchte eine ganze Weile, bis ich ihr wirklich glaubhaft klar gemacht hatte, dass sie sich nicht sofort ins Auto setzen und mich abholen müsse! Onkel Phil und ich hatten das im Griff. Trotz Gips und Windeln. Natürlich musste Onkel Phil ungefähr das gleiche Gespräch fühlen. Nein, es war ihm nicht zu viel. Nein, wir hatten alles im Griff. Nein, die Windeln waren kein Problem. Ja, Paul gab sich große Mühe, die Sache selbst zu regen. Wie gesagt, Mama konnte sehr hartnäckig sein. Kaum hatten wir die Verbindung getrennt, schnauften wir beide durch. Der Urlaub konnte also weiter gehen. High Five!
Letztes kleines Hindernis: der Besuch der Ärztin. Die wollte sich den Gips und meinen Arm ansehen, bevor auch sie uns grünes Licht für die nächsten Tage gab. Ich hatte es mir auf Onkel Phils Bett bequem gemacht und sah zu, wie sie meine Finger abtastete, Fieber maß und die Ränder des Gipses kontrollierte. Alles gut. Dann dreht sie sich zu ihrer Tasche und meinte gleichzeitig, dass ich mir doch bitte das Unterhemd und die Unterhose ausziehen solle. Onkel Phil half mir dabei. “Die Windel kann anbleiben!”, meinte die Ärztin, während sie sich ihr Stetoskop in die Ohren hängte. “Die müsst ihr eh gleich wechseln!” Ich wurde schlagartig rot. Echt? Ich schielte nach unten und sah, dass sie Recht hatte. Ziemlich nass. So viel zu der Frage, ob die dicken Windeln wirklich sein musste. Anschließend tastete sie meinen Bauch und vor allem den Bereich über der Blase ab. Angenehm war anders. Vor allem weil ich spürte, dass bei jedem Druck, den die Ärztin ausübte, ein bisschen was in die Hose ging. Zum Schluss holte sie ein mobiles Ultraschallgerät aus ihrem Rucksack und sah sich meine Blase von innen an. Da sie meine Vorgeschichte ja bereits aus dem Behandlungszimmer kannte, nickte sie eigentlich permament, während sie den Schallkopf über meinen Bauch bewegte. Ihre Diagnose: Die letzte Blasenentzündung hatte offensichtlich Vernarbungen in der Blase hinterlassen, die jetzt wie eine Art Türstopper den Blasenaugang blockieren. “Normalerweise dauert das ein paar Jahre, bis sowas zum Problem wird!”, erklärte sie. “Deshalb gehe ich bei dir davon aus, dass dein früheres Bettnässer-Problem ursprünglich auch auf eine Blasenentzündung zurückging, die über eine längere Zeit verschleppt wurde. Die gute Nachricht: Das ist mit einem relativen kleinen Eingriff zu reparieren. Die schlechte: So lange wird’s kaum ohne Einlagen gehen! Da du eh einen Termin beim Arzt auf dem Festland hast, sollte die Sache bald ausgestanden sein!” Und damit begann sie, ihre Sachen wieder zusammenzupacken. “Beim Arm bleibt’s wie gehabt. Aktivitäten sind kein Problem. Aber bitte nichts, bei dem der rechte Arm gestaucht, durchgeschüttelt oder sonstwie belastet wird!” Sie verabschiedete sich mit einem schnellen Händedruck bei mir, wünschte mir gute Besserung und wurde dann von Onkel Phil zur Tür begleitet. Wie jetzt? Was jetzt? Mir war das ehrlich gesagt alles ein bisschen schnell gegangen. Vernarbungen? Türstopper? Eingriff? Was denn für ein Eingriff? Es dauerte ein bisschen, bis Onkel Phil und ich die Ausführungen der Ärztin auseinandersortiert hatten. Ich wusste jetzt also, warum ich früher ins Bett gemacht hatte, warum es jetzt wieder passierte und wie’s weiter gehen sollte. Soweit alles kein Problem. Beim Thema “Eingriff” hatte ich aber sofort das große Panik-P im Gesicht. Das hieß Krankenhaus. Und ich hatte wirklich Angst vor Krankenhäusern! “Wie wär’s, wenn du dich jetzt einfach mal auf unser Abendessen mit Tilda und ihrer Mutter vorbereitest?”, schlug Onkel Phil vor. Alles andere klären wir, wenn’s soweit ist. Der alte Pragmatiker. Ich freute mich ja wirklich auf den Abend. Aber die Aussicht auf eine Operation steckt man halt nicht so einfach weg. Jetzt nur Trübsal zu blasen, war aber natürlich auch keine Lösung. Und für so eine gepflegte Depri-Phase fehlte uns auch eindeutig die Zeit. In einer Stunde wollten wir uns mit Tilda und ihrer Mutter treffen. Nicht viel Zeit, wenn mir Onkel Phil nicht nur beim Anziehen helfen musste, sondern ich auch noch eine frische Windel brauchte.
Es musste also ein Plan her. Und zwar flott. Mein Ansatz: Onkel Phil sollte sich umziehen und fertig machen, während ich die passenden Klamotten für den Abend raussuchte. Dann schnell wickeln, waschen und anziehen. “Können wir so machen”, meinte Onkel Phil. Aber bist du dir sicher, dass du erstmal nicht auf die Toilette musst? Ich schüttelte den Kopf. Was meine Blase betraf, spürte ich momentan eh nicht viel. Und in Magen und Darm sah es ruhig aus. “Na dann, legen wir los!” Während Onkel Phil ins Bad ging, marschierte ich in mein Zimmer. Mist, die Windel war deutlich dicker als die Pull-Ups. Und das wurde nicht besser, wenn das Ding nass war. Eine enge Hose war deshalb wohl keine gute Wahl. Die würde ich nie über den Po kriegen. Blieben die Jogginghose, die Latzhose und … nix und. Nichts mehr. Und da ich eigentlich keine Lust hatte, heute den ganzen Abend in der Jogginghose durch die Gegend zu laufen, blieb nur die Latzhose. Drunter entschied ich mich für eine möglichst große Slipboxer-Unterhose und die Werder-Bremen-Strumpfhose. Obenrum ein dünnes Langarm-Shirt und drüber einen weißen Kapuzenpulli mit TKKG-Motiv. Der war ein bisschen kurz an Bauch und Rücken, was aber heute keinem auffallen würde, da ich ja die Latzhose drüber hatte. So konnte ich gehen, fand ich. Onkel Phil sah’s ähnlich.
Und so saßen wir ein paar Minuten später vor dem mexikanischen Restaurant auf einem der Lounge-Sofas und warteten auf Matilda und ihre Mutter. Eigentlich hätte ich gerne Juli nochmal gesehen, der war aber inzwischen zwei Decks höher beim Captain’s Dinner und würde definitiv ausfallen. Dass wir morgen gemeinsam einkaufen fahren würden, tröstete mich in diesem Augenblick nicht wirklich. Ich war nervös wegen Tilda. Und dann war auch noch Juli nicht da. Schöner Mist. Onkel Phil hatte natürlich längst durchschaut, was mich beschäftigte. “Du vermisst Juli, oder?” Ich nickte. “Weil du nicht genau weißt, wie das heute mit Matilda wird, oder?” Wieder ein Nicken. “Ganz normal. Sei doch einfach so wie du bist. Dann werdet ihr beiden eine schönen Abend haben!” Toller Tip. So sein, wie ich bin. Das konnte alles und nichts heißen. Und warum eigentlich wir beiden? “Paul, ich werde mit Matildas Mutter später ein bisschen im Kaminzimmer sitzen, mich nett unterhalten und ein paar Cocktails trinken! Und dann werde ich dich aufgabeln und wir werden relativ früh schlafen gehen. Erstens stecken uns beiden noch die harte letzten harten Stunden in den Knochen und zweitens wirst du sehr schnell merken, dass die Schmerzmittel, die du gerade nimmst, dich ziemlich schnell ziemlich müde machen werden!” Aha. Toller Plan. Schade nur, dass Onkel Phil mir davon bislang nichts erzählt hatte. Was sollte ich denn bitte mit Tilda machen, nach dem Essen? Ganz abgesehen davon, dass ich Dank des dämliches Gipses praktisch nichts machen konnte, das Spaß macht blieb die Frage: Was macht denn bitte einem Mädchen Spaß? Wie auf Kommando bekam ich sofort knallrote Ohren. Na prima. Das konnte ja heiter werden. Ich hätte zu gerne Onkel Phil um Rat gefragt, aber da kamen bereits Tilda und ihre Mama um die Ecke. Na gut, also improvisieren.
War aber alles erstmal halb so schlimm. Die beiden wollten erstmal ganz genau wissen, was denn zwischen dem Workshop und jetzt passiert war? Das war immerhin keine sechs Stunden her. Onkel Phil übernahm die Rolle des Chronisten und berichtete brav von meinem blöden Sturz und die anschließende Zeit auf der Krankenstation. Ich hielt die Klappe und guckte zumindest entsprechend leidend. So ein bisschen Mitleid konnte ja nie schaden. Während Onkel Phil redete hatte ich Zeit, Tilda zu betrachten. Die hatte sich mittlerweise neben mich gesetzt und sah wirklich toll aus. Sie hatte ihre Haare zu einem französischen Zopf geflochten. Statt des Kleides trug sie jetzt einen engen, hellgrünen Jumpsuit, der auf dem Rücken mit kleinen Sternen aus Strass-Glitzersteinen verziert war. Dazu schlichte Sneaker. Um die Hüfte hatte sie sich einen lila Kapuzenpulli gebunden. Bequem, cool und trotzdem irgendwie schick. Es dauerte eine Weile, bis ich mitbekam, dass Tilda die ganze Zeit mit mir geredet hatte. “Cool, dann lass uns schnell was essen!” Äh, was? Scheiße, ich hatte immernoch ein bisschen Watte im Kopf. Das mussten die Schmerzmittel sein. Wenn ich doch nur wüsste, warum Tilda jetzt auf einmal aufs Tempo drückte? Ich versuchte, souverän zu kucken, kam damit aber zumindest bei Onkel Phil nicht weit. “Tolle Idee, Tilda! Die Show im Planetarium wollte Paul auch unbedingt noch sehen!” Er zwinkerte mir zu. Oh. Planetarium. Na ja, wenn’s sein musste. Onkel Phil war aber noch nicht fertig. “Wir stehen morgen sehr früh auf. Ich möchte deshalb bitte, dass du direkt im Anschluss in die Kabine kommst, Paul!” Ich nickte pflichtbewusst und war froh, als wir endlich am Tisch saßen. Erstmal ein ordentlicher Schlag mexikanisches Essen. Das konnte nie schaden. Und offensichtlich war Tilda ähnlich heiß auf die vielen Spezialitäten, mit denen das Büffet bestückt war, wie ich. Wir zogen gemeinsam los, um die Teller zu füllen. Wobei Tilda beide Teller trug und ich mit der gesunden Hand draufschaufelte. Immer nur die schärfsten Sachen. Weil halt auch Tilda immer nur die ganz scharfen Gerichte haben wollte. Ich hoffte inständig, dass Onkel Phil genügend Getränke bestellt hatte…
Hatte er natürlich. Und das war auch bitter nötig. Während Tilda lässig Pfefferschoten in sich reinschaufelte und Chilis futterte, stand mir bei jedem Bissen der Schweiß auf der Stirn. Hatte die denn bitte kein Rezeptoren für scharfes Essen? Reiß dich zusammen, Paul! Löffel für Löffel. Zwischendurch viel Brot und Apfelschorle. So ging’s einigermaßen. Auch Onkel Phil hatte bemerkt, was Tilda da alles in sich reinstopfte und runzelte irritiert die Stirn. Tildas Mutter lachte nur. “Das macht sie immer!”, erklärte sie ohne wirklich die Stimme zu heben. “Eine Nebenwirkung der Medikamente, die Matilda nehmen muss. Die schärfsten Chillis sind für meine Tochter gerade mal ein bisschen würzig!” Ich hustete. Dieses Biest! Das war unfair! Und ich hatte mir fast das gleiche Repertoire an essbarem Feuer auf den Teller getürmt. Tilda grinste. “Ganz schön cool, was du alles gepackt hast, Paul! Und ganz ohne Medikamente!” Ich schmollte. Veräppelte sie mich jetzt, oder fand sie das wirklich beeindruckend? Ich wollte gerade ein weiteres Glas Apfelschorle trinken, da schob mir Tilda ihren Kakao rüber. “Trink lieber den hier!”, meinte sie. “Das hilft gegen die Schärfe. Wasser macht es nur schlimmer!” Schlauberger, nuschelte ich und trank gierig. Wow. Das half ja wirklich. “Mama könnte dir jetzt erklären, warum die Schärfe durch die Milch gemildert wird!”, plapperte Tilda weiter. “Aber den Vortrag will ich dir gerne ersparen. Hast du Lust auf Nachtisch?” Ich nickte. Und schon zog Tilda mich wieder zum Büffet. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie Tildas Mutter die Augen rollte und sich Onkel Phil zuwandte. Ob er jetzt den Vertrag abbekam? Ich konnte es nicht erkennen. Er wirkte aber zumindest nicht so, als würde ihn das stören.
Über eine halbe Stunde später war das scharfe Chilli-Zeug in meinem Magen großflächig mit einer ebenso gewaltigen Menge süßer Nachspeisen bedeckt. Ich schnaufte zufrieden. Und auch Tilda war offensichtlich ziemlich satt. “Können wir los?”, fragte sie daraufhin in die Runde? “Ins Planetarium?”, entgegnete Onkel Phil? Tilda nickte. Ich machte gute Miene zum bösen Spiel. Planetarium. Wie langweilig! Und dann auch noch mit Tilda, die ich noch immer nicht richtig einschätzen konnte. Wobei das Planetarium natürlich wirklich so ziemlich einzige Option hatte, die ich mit dem kaputten Arm hatte. A propos Arm: Der fühlte sich nach wie vor ziemlich heiß an. Schmerzen hatte ich aber zum Glück nicht. Tilda sprang vom Stuhl, um sich von ihrer Mutter zu verabschiedet. Die versorgte sie, ähnlich wie Onkel Phil es vorher mit mir getan hatte, mit den üblichen Ermahnungen und der klaren Ansage, anschließend direkt in die Kabine zu gehen. Als sie Tilda zum Abschied noch kurz am Po berührte, reagierte Tilda ziemlich routiniert. “Meinst du, die Windel hält noch eine Weile?” Ihre Mutter nickte und antwortet, dass das kein Problem sei.
Wir waren kaum aus dem Restaurant raus, da wurde die Neugier in mir wach. Dieser routinierte Umgang mit den Windeln, irritierte mich nach wie vor. Ich setzte alles daran, so schnell wie möglich ohne auszukommen. Tilda war’s offensichtlich völlig egal. “Oder halt auch nicht!”, erklärte sie mir betonter Lässigkeit. “Es ist mir natürlich nicht egal. Aber ich kann es halt nicht ändern. Das muss man irgendwann akzeptieren!” Ich schwieg. Nickte aber. “Und im Alltag ist es ja eigentlich wirklich kein Problem”, fuhr Tilda fort. “Die Sache heute Morgen war eine absolute Ausnahme. Ein Unfall! Weil ich wirklich nichts spüre, wird mein Darm alle zwei Tage durchgespült. So lässt sich zu 95% verhindern, dass was aus dem Darm in die Windel geht. Heute hatten wir zu wenig Zeit für die Spülung, deshalb ging’s schief. Pech! Wenn die Windeln nur nass sind, mache ich alles selbst!” Wollte ich das eigentlich alles wissen? Irgendwie ja schon. Ich brachte trotzdem keinen Ton raus und schwankte irgendwo zwischen Mitleid, Schock und Angst. Angst, dass es mir mal ganz ähnlich ergehen könnte. Ich kam allerdings nicht weit damit, mir die Sache auszumalen. “Was ist eigentlich mit deiner Windel? Noch trocken? Und was machst du eigentlich, wenn du mit dem Gips aufs Klo musst?” Meine Gesichtsfarbe wechselte schlagartig von blass zu Signal–Rot. “Ups, zu direkt, oder?”, murmelte Tilda. Ich nickte. “Sorry, ich hab echt vergessen, dass du noch neu im Windel-Business bist!” Ich erklärte ihr ein bisschen zu giftig, dass sie sich die Juli-Zitate sparen könne und die Sache im Griff hätte. Alles noch trocken, natürlich! Das war nicht nur unglaublich unsouverän, sondern ach glatt gelogen. In Wirklichkeit war meine Windel zwar noch nicht richtig nass, aber eben auch nicht mehr trocken. In Benutzung, wenn man so wollte. Und den Rest hatte ich natürlich überhaupt nicht im Griff. Ohne Onkep Phil waren Toilettengänge gerade einfach nicht möglich. Die Windel hätte ich vielleicht noch aufbekommen, aber aus Latzhose, Strumpfhose und Unterhose kam ich mit einer Hand einfach nicht schnell genug raus. Und das hieß: Windel benutzen. Wenn’s nicht eh unbemerkt passierte. Tilda hin oder her, das fühlte sich einfach beschissen an. Und Tilda hatte es längst durchschaut. “Na wenn du meinst”, seufzte sie und schob mich weiter Richtung Planetarium.
Das lag direkt hinter der Nerf-Halle und war ziemlich klein. Ein fünfeckiger Raum mit Kuppeldecke, in dessen Mitte ein riesiger Projektor stand. Drumherum geschätzt 25 bequeme Lehnstühle, kreisförmig angeordnet. Außer uns saß nur noch ein älteres Pärchen im Raum. Wir konnten uns also die besten Plätze aussuchen. Wir setzen uns nebeneinander in die letzte Reihe. Die Stühle waren saubequem. Ich lehnte mich zurück und schnaufte durch. Ich genoß die Ruhe im Raum. Tilda verabschiedete sich kurz, um Popcorn und Getränke zu kaufen. Ein unnötiges Investment. Ich war noch pappsatt. Außerdem spürte ich, dass sich meine Windel langsam aber sicher ganz gut zu tun hatte. Die Riesenmenge Apfelschorle blieb nicht ohne Folgen. Und so lehnte ich die Flasche Limonade dankbar ab und angelte mit statt dessen die Tüte Popcorn, die Tilda im Arm hatte. Salziges Popcorn? Tilda grinste. “Magst du das etwa nicht?” Pech gehabt Lady. Ich liebte salziges Popcorn. Mein erster kleiner Triumpf. Tilda war aber nur kurz irritiert. “Okay, dann bleiben mehr Gummibärchen für mich!” Von mir aus. Wir hatten es uns gerade gemütlich gemacht, da erwachte der Riesenbeamer zum Leben. Er fuhr ein Stück nach oben, surrte leise und projezierte auf einen Schlag den beeindruckendsten Sternenhimmel an die Decke, den ich je gesehen hatte. Vielleicht doch ganz cool, das Planetarium.
Die restlichen 90 Minuten verbrachten wir im Universum. Dank 3D-Brillen und Lautsprechern in den Sitzen, war die Reise zu und durch die Sterne ein Erlebnis für alle Sinne. Zwischendurch war mein Magen drauf und dran, verrückt zu spielen, so rasant war der Trip durchs All. Das Problem war nicht der wilde Flug, sondern dass mein Körper mit den verschiedenen Sinneseindrücken nicht klar kam. Ich blieb tapfer und unterdrückte den Würgereiz. Diese Blöße würde ich mir auf keinen Fall geben. Schlimm genug, dass ich ziemlich genau spürte, wie meine Blase längst alle Schleusen geöffnet hatte.
Nicht jedem machte der Trip zu schaffen. Immer, wenn wir mit Lichtgeschwindigkeit den Planeten wechselten, durch ein Asteroidenfeld surften oder in eine Sonne flogen, quiekte Tilda vor Begeisterung. Die Erläuterungen, die eine tiefe Stimme direkt in mein Gehirn abspeicherte, hätte sie nicht gebraucht. Sie sprach das gesamte Programm praktisch parallel mit. Als nach unserer Rückkehr auf die Erde der Sternenhimmel verblasste und wir langsam wieder in der Realität ankamen, sprang Tilda von ihrem Sitz hibbelte durch den Raum. Die völlige Extase. So quasselte an einem Stück und war fast nicht zu bremsen. Ich rutschte deutlich langsamer von meinem Sitz. Nur keine hektischen Bewegungen mehr, nach diesem Trip. Sobald ich wieder mit neiden Beiden auf dem Boden stand, spürte ich auf der Stelle, dass ich dringend in die Kabine musste. Weil gefühlt jeder Tropfen Apfelschorle inzwischen meinen Beinen hing und mein Darm dringend das scharfe mexikanische Essen loswerden wollte. Ein schneller Blick auf Tilda zeigte, dass sie ebenfalls ein Nässeproblem haben musste. Die aufgequollene Windel war gut unter ihrem engen Jumpsuit zu erkennen. Was sie selbst von dieser Erkenntnis abhielt? Das Adrenalin, das sich erst langsam abbaute. Irgendwann, ich hatte inzwischen locker zehnmal versucht, auf unser gemeinsames Problem hinzuweisen, stockte sie Mitten im Satz. “Scheiße, ich muss jetzt leider weg, Paul!” Irritiert über das dann doch überraschend schnelle Ende, folgte ich ihrem Blick nach unten. Dort signalisierten zwei dunkle Abdrücke, dass auch Tildas Einlage kapituliert hatte. “Sehen wir uns morgen?”, fragte sie zu meiner Überraschung, als wir uns vor dem Planetarium verabschiedeten. Ich schüttelte den Kopf und erzählte vom anstehenden Einkaufstrip mit Onkel Phil und Juli. Sie lachte. “Cool! Deinen neuen Look muss ich mir aber unbedingt noch ansehen!” Veräppelte sie mich jetzt, oder meinte sie das Ernst? Ich war einigermaßen ratlos. Wie immer, eigentlich. Trotzdem verabredeten wir uns für den letzten Abend an Bord im Kaminzimmer. Eine Runde Scrabble musste ja wohl noch drin sein, oder? Kaum war das geklärt, trennten sich unsere Wege erstmal. Tilda verschwand mit einem Affentempo nach links, ich spurtete die zwei Treppen zu unserem Deck nach oben. Ich. Musste. Jetzt. Dringend. Aufs. Klo! Statt leise zu klopfen, hämmerte ich gegen unsere Kabinentür. Onkel Phil bekam gerade sicher einen Herzschlag. Darauf konnte ich jetzt aber echt keine Rücksicht nehmen. Kaum war die Tür auf, rannte ich an ihm vorbei mit zwei großen Schritten in Richtung Badezimmer. Bitte … Hose aus… Windel aus … Toilette… Nass … Schnell! Ich schaffte es irgendwie, meine missliche Lage in zehn Sekunden SMS-Text zu packen. Zum Glück war Onkel Phil so hell im Kopf. Er half mir mit routinieren Handgriffen aus den Klamotten und ratschte mir zum Schluss mit einer fließenden Handbewegung die nasse Windel vom Körper. Ich schauderte, als die kühle Luft auf meine feuchte Haut traf, stürzte aber, ohne mich noch einmal umzusehen, direkt auf die Toilette. Es war eine Sache von wenigen Augenblicken gewesen. Aber ich hatte es gepackt. Das viel zu scharfe Essen forderte jetzt seinen Tribut. Bei der Vorstellung, diese Sauerei in der Windel zu haben, kamen mir die Tränen. Ich zitterte. Ja, diesmal hatte ich es geschafft. Aber was war morgen? Und übermorgen? Das war mein erster Tag mit Gips und der wäre beinahe in einer Katastrophe geendet. “Muss ich dir was helfen?”, fragte Onkel Phil von draußen nach einer gefühlten Ewigkeit. Ich schluckte. Meine rechter Arm im Gips war immernoch heiß und war praktisch nicht zu benutzen. Und mit links war ich gerade mal in der Lage, eine Gabel unfallfrei zum Mund zu führen. Ich wollte ihn gerade hereinbitten, da überraschte er mich. Mal wieder. “Schau mal in dem Korb neben dem Spiegel. Da hab ich dir feuchtes Toilettenpapier besorgt. Damit sollte es auch mit dem falschen Arm gehen!” Wahnsinn. Der Kerl war Wahnsinn! Statt von Onkel Phil den Po abgewischt zu bekommen, konnte ich die Sache selbst in die Hand nehmen. Der Rest dauerte nur wenigen Minuten. Ich fühlte mich gut. Sauber, gut und ein klitzkleines bisschen Selbständiger, als noch vor 15 Minuten. Als ich, nur mit Unterhose und T-Shirt bekleidet aus dem Bad kam, hatte ich mal wieder verheulte Augen. Onkel Phil nahm mich in die Arme. Sagte nichts. Drückte mich einfach an sich, gab mir Halt. Und versuchte langsam, wieder in den Normalmodus zu schalten. “Freust du dich auf morgen?” Ich nickte. Ach ja, unser Shopping-Trip zur größten Mall in Schweden. Hatte ich nicht vergessen. Aber es war einfach so viel passiert. “Super. Wir müssen früh raus. Juli erwartet uns um 6.30 Uhr. Deshalb schlage ich vor, dass wir dich jetzt bettfertig machen!” Wieder ein Nicken. “Dann wasch dich bitte gründlich, deine Windel war echt voll. Zähneputzen nicht vergessen. Ich richte dein Bett und warte in deinem Zimmer!” Er hatte mal wieder einen Plan. Alles wie immer.
Als Onkel Phil mich keine neun Stunden später weckte, war es noch stockfinster. Im Zimmer, und in meinem Kopf. Das fehlende Licht vor den Bullaugen den Kabine störte mich nicht. Die Tatsache, dass ich scheinbar nichts geträumt hatte, dafür umso mehr. Nichts. Kein Flashback ins Universum. Kein Sprung zurück auf die Krankenstation. Keine Tilda, kein Juli. Nichts. Alles schwarz. Das machte mir Angst. Angst, weil ich das von mir nicht kannte. Ich träumte immer. Tag und Nacht. Ich erzählte Onkel Phil davon. Der wirkte aber ganz und gar nicht beunruhigt. “Ich kann mir vorstellen, dass dich das erschreckt. Bin mir aber sicher, dass das an den Medikamenten liegt, die du nimmst. Gegen die Schmerzen. Eines davon ist ein leichtes Beruhigungsmittel. Daran wird’s liegen!” Okay, das ließ ich gelten. Ich wünschte mir dennoch meine Träume zurück. Und meinen rechten Arm. Der steckte fest und nutzlos in seinem Gips. Immerhin schien die pochende Hitze etwas nachgelassen zu haben.
Noch ziemlich verschlafen schlich ich rüber in die Kabine. Da hatte Onkel Phil bereits alles zusammengestellt, was wir heute brauchen würden. Ich ließ mich müde auf Onkel Phils Bett fallen. “He, nicht schlapp machen, jetzt!” Er schob mich ins Bad. “In acht Minuten will ich dich gewaschen wieder hier sehen!” Yes, Sir! Ich salutierte und verbrachte genau acht Minuten damit, mich auszuziehen und mir eine Katzenwäsche zu verpassen. Die Windel war nach dem Beinahe-Unfall gestern Abend erstaunlich trocken geblieben. Entsprechend schnell fühlte ich mich frisch. Als ich wieder in die Kabine kam, hatte Onkel Phil bereits die Rucksäcke gepackt. “Ich hab dir eine Garnitur frische Klamotten und deinen Overall eingepackt. Wir wollen ja vor allem Einkaufen, da musst du nicht ausstaffiert sein, als ginge es in die Antarktis!” Er zeigte auf die Kommode mit den Windeln: “Pullups, oder die richtigen Windeln?” Ich verzog das Gesicht. Die dünnen Einlagen waren verlockend. Aber ich wusste ganz genau, dass die in der aktuellen Situation nicht lange halten würden. Also marschierte ich zur Kommode und stand einen Atemzug später mit einer dicken Windel in der Hand vor Onkel Phil. Frage beantwortet. “Wie du magst. Dann wirf’ dich mal aufs Bett!” Der Rest war Routine. Windel an, Unterhose (eine hellblaue Slipboxer) drüber. Dann ein graues TKKG-Longsleeve, drüber eine hellblaue Kapuzenjacke. Über die graublaue Superman-Strumpfhose kam die grün-weiß gestreifte Leggings, die wir im Outdoor-Laden auf Helgoland gekauft hatten. Ich mochte die Farben, lief allerdings nicht so gerne in Leggings durch die Gegend. In Verbindung mit dem Gipsarm und der Tatsache, dass ich Leggings und Strumpfhose wenigstens mit einer Hand ausgezogen bekam, war das dann aber doch eine schlaue Klamottenauswahl, die Onkel Phil getroffen hatte. Musste ich zugeben. Wenn auch nur widerwillig. Als ich dann aber noch anfing darüber zu lamentieren, dass so ja jeder meinen Windelpo sehen konnte, zeigte Onkel Phil mir den Vogel und schob mich auf den Flur. Frühstück! Oder Besser: Die Lunchpakete abholen. So früh hatte nämlich noch keines der Bordrestaurants geöffnet.
Auf dem Weg zur Rezeption spürte ich, wie der Kapitän das Schiff in den Hafen von Göteborg manövrierte. Der Boden zitterte, wenn die Maschinen Gegenschub gaben und den Riesen-Kahn an seinen Liegeplatz manövrierten. Perfektes Timing. Keine 10 Minute später stand ich bepackt mit drei riesigen Plastikbeuteln wieder in der Kabine. Mit nur einem benutzbaren Arm war auch das recht anstrengend gewesen. Aber offensichtlich war Onkel Phil nicht bereit, wie ein rohes Ei zu behandeln. Das fand ich gar nicht so schlecht, auch wenn es schon verlockend war, sich ein bisschen mehr verwöhnen zu lassen, als nötig. Ich entriegelte die Kabinentür mit dem Digitalarmband und kam gerade in dem Moment ins Zimmer, als Onkel Phil fünf Ersatzwindeln und eine Packung Feuchttücher oben in meinen kleinen Rucksack packte. So viel? “Sicher ist sicher! A propos: Willst du nochmal auf die Toilette, bevor wir aufbrechen?” Wollte ich nicht, bzw. musste ich nicht. “Gut, dann Schuhe an, Jacke an und los geht’s!” Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Meine Gore-Text-Stiefel waren zum Glück mit Klettverschlüssen ausgestattet, mit denen kam ich auch mit einem Arm klar. Und so standen wir maximal pünktlich bei Juli und seinen Großeltern vor der Kabine. Die hatten natürlich ebenfalls dafür gesorgt, dass Juli pünktlich auf die Minute abmarschbereit war. Offensichtlich hatte Onkel Phil vorab geklärt, dass auch Juli nicht im Antarktis-Outfit würde antreten müssen. Und so sah er für seine Verhältnisse fast schon gewagt modern aus: Braune Stoffhose, dunkle Leder-Boots und drüber eine grüne Softshelljacke. Er grinste, als er mich in Onkel Phils Schlepptau erblickte. Und auch ich freute mich echt, Juli wiederzusehen. Eigentlich waren wir ja nur einen halben Tag getrennt, aber ich hatte mich wirklich an ihn gewöhnt! Eigentlich wollte ich sofort wissen, wie sein Abend mit dem Kapitän gelaufen war. Und auch Juli hatte offensichtlich große Lust, mir alles haarklein zu erzählen. Wir kamen aber beide nicht weit, weil Onkel Phil uns nach, nach dem mit dem Graf und der Gräfin die wichtigsten Eckpunkte des Tages besprochen waren, zielstrebig Richtung Hauptdeck schob, von dem aus wir das Schiff verlassen würden. “Nicht labern Jungs, wir haben heute noch einiges vor. Quatschen könnt ihr im Auto!” Auto? Warum Auto? Jetzt waren wir doch ziemlich überrascht. Wir waren bislang davon ausgegangen, direkt in Stockholm einkaufen zu gehen. Taten wir aber gar nicht. Mehr Antworten bekamen wir aber erstmal nicht.
Statt dessen marschierten wir ein bisschen verloren hinter Onkel Phil her, der zielstrebig auf eine junge Dame in einer graugrünen Uniform zulief, die ein Schild mit der Aufschrift “Northstar rental / Reservation” hoch hielt. Die begrüßte ihn kurz um, um dann erst Juli und dann mich mit ihren Blicken abzutasten. Ein paar kurze Worte mit Onkel Phil. Der nickte. Sie schüttelte kurz den Kopf. Dann wieder ein paar Worte. Dann nickten beide. Was davon bei Juli und mir ankam? Nix. Erstens pfiff ein ziemlich starker Wind über den Anlegeplatz und zweitens sprachen die beiden so schnell Englisch, dass Juli und ich auch ohne Wind nichts verstanden hätten. Und so beschränkten wir uns drauf, möglich dekorativ nicht im Weg zu stehen und dackelten wie die Entenkücken hinter Onkel Phil und der Schildchendame her, die jetzt zu einer schlichten grauen Halle liefen. Auch dort fand sich der Northstar-Schriftzug. Und so langsam wurde auch klar, wie es weitergehen sollte. Onkel Phil hatte einen Wagen gemietet, den wir jetzt abholten.
Ein paar Minuten später standen wir im schicken Empfangsbereich von Northstar-Rental. Graue Möbel, grüne Details. Da sah alles sehr modern und teuer aus. Onkel Phil hatte uns in einer Sitzecke abgestellt, in der es diverse Comics und einen Getränkeautomaten gab, an dem man kostenlos Wasser und Softdrinks zapfen konnte. Wir waren im graugrünen Paradies! Cola um 7 Uhr morgens? Kein Problem! “Dddas ist so cool!”, grinste Juli. “Iiiich muss nachher aber unbedingt aufs Klo!” Das konnte ich nach vier Bechern Koffeinbrause sehr gut nachvollziehen, auch wenn das Thema bei mir windelbedingt nicht ganz so wichtig war. “Schluss jetzt mich Cola!”, zischte Onkel Phil nach ein paar Minuten vom Tresen. “Schnappt euch eure Rucksäcke und kommt mit nach hinten. Wir müssen noch die passenden Sitze für euch aussuchen!” Sitze? Juli schaute ziemlich irritiert. “Iiiich brauch doch keinen Sitz mehr!”, warf er ein, kam damit bei Onkel Phil aber nicht weit. “In Deutschland vielleicht nicht. In Schweden aber schon!” Und schon standen wir in einem großen Raum, an dessen Wände Regale standen, die mit einer unfassbare Menge Kindersitze bestückt waren. In allen Formen, Farben und Größen. Bei Juli war die Auswahl schnell erledigt. Ihn trennten selbst in Schweden nur wenige Zentimeter davon, ganz ohne Zusatzausstattung mitfahren zu dürfen. Er wurde von einem jungen Mitarbeiter von Northstar-Rental auf eine rote Sitzerhöhung mit Rückenlehne gesetzt. “Perfect!”, sagte Mr. Northstar und tippte ein bisschen auf seinem Tablet rum. Bei mir wurde es schwieriger. In Schweden war ich nämlich deutlich zu klein für eine klassische Sitzerhöhung, brauchte also einen richtigen Kindersitz. Den kannte ich im Prinzip ja schon aus Onkel Phils Volvo. Das Problem: Bei Northstar Rentals waren gerade offensichtlich Kleinkind-Wochen. Denn alles, was sie an entsprechenden Sitzen auf Lager hatten, war an Peinlichkeit kaum zu überbieten. Alle knallbunt, alle mit irgendwelchen Märchen- oder Disneyfiguren verziert. Logisch, dass ich mich niemals in sowas reinsetzen würde. Nach diversen Versuchen den jungen Mitarbeiters, mich wahlweise für einen grün bezogenen Sitz mit Benjamin-Blümchen-Muster oder einen roten Sitz mit Pippi Langstrumpf-Motiv zu begeistern, hatte ich langsam Tränen in den Augen. Das war doch alles Mist! Warum konnte ich nicht einfach so einen Sitz haben wie Juli, zur Hölle! Ich war echt sauer. Und verzweifelt. Onkel Phil war genervt. Er wollte seit 15 Minuten unterwegs sein und stand jetzt immernoch tatenlos herum, weil ich mich nicht in so ein Baby-Ding setzen wollte. Er zog mich zum Pippi-Langstrumpf-Sitz und drückte aufs Tempo: “So Paul, wir haben jetzt einfach keine Zeit mehr für dieses Theater. Du wirfst dich jetzt in den Pippi-Langstrumpf-Sitz und lässt den guten Northstar-Menschen schauen, ob der für deine Größe passt! Und ich besorge dir mittlerweile ein Modell, das nicht ganz so peinlich wirkt. Abgemacht?” Ich schniefte kurz, nickte dann aber. Und schon schnallte mit Mr. Northstar einmal zur Probe fest. Ich schmollte, ließ die Prozedur aber über mich ergehen. Immerhin war der Sitz wirklich bequem. Trotz der straffen Hosenträger-Gurte konnte ich es darin sicher eine Weile aushalten. Wenn, ja wenn Onkel Phil mit einem Modell um die Ecke kam, das den Paul-Design-TÜV bestand. Und Onkel Paul war erfolgreich. Zumindest, wenn man auf Pokémons stand. Die waren überall auf dem Sitz verteilt, den Onkel Phil auf einem kleinen Wägelchen vor sich herschob. Im Prinzip auch kein Grund, begeistert zu sein. Die Dinger waren seit dem Ende der Grundschule out. Im Vergleich zum Rest des Angebots war’s aber immerhin nicht ganz so peinlich. Ich verdrehte die Augen und nickte, immer bemüht möglichst genervt auszusehen. Mr. Northstar war sichtlich erleichtert und tippte happy die letzten Befehle in sein Tablet.
Dann drückte er Onkel Phil einen Schlüssel mit Fernbedienung dabei und erklärte ihm, dass der Wagen in fünf Minuten zur Verfügung stehen würde. Wir gingen wieder in die graugrüne Lounge, warfen nochmal einen sehnsüchtigen Blick auf den Getränkeautomaten und standen wenigen Minuten später vor dem größten SUV, das ich je gesehen hatte. Schwarz, mit getönten Scheiben, riesigen Rädern und einem chromblitzenden Kuhfänger vorne. “Kkkkrass, ein Chevrolet Tahoe!”, begann Juli fast zu sabbern. Onkel Phil grinste. “Yep. Mit so einem wollte ich immer schon mal fahren. Und da wir ja viel Platz für die Einkäufe brauchen werden, kam mir das Angebot gerade recht! Werft die Rucksäcke in den Kofferraum und dann rein mit euch!” Er entriegelte das Fahrzeug, öffnete die Heckklappe und half mir auf die Rückbank, wo die beiden ausgewählten Sitze eingebaut waren. Juli saß hinterm Fahrersitz, ich auf der Beifahrerseite. Himmel, saß man hier weit oben. Entsprechend knifflig war der Weg in den Kindersitz. Mit nur einem zur Verfügung stehenden Arm eine koordinative Meisterleistung die nur gelang, weil Juli mir von Innen half. Als ich endlich in der Sitzschale saß, schloss Onkel Phil die Gurte, zog sie fest und drückte mir meinen Frühstücksbeutel in die Hand. “Da kommst du ja sonst nicht ran!” Das war korrekt. Selbst mit zwei gesunden Armen war es fast aussichtslos, das Gurtschloss zu öffnen. Juli hatte es da mit dem normalen Dreipunkt-Gurt bedeutend einfacher! “Du hilfst Paul, wenn er was braucht?”, sagte Onkel Phil zum ihm. Juli nickte. “Kkklar!”. Und schon saß Onkel Phil vorne hinterm Steuer. Er sah sehr zufrieden aus. Kunststück. Selbst jemand wie er, der im Job eigentlich jede Woche auf einem anderen Kontinent aufwachte, hatte offensichtlich nicht jeden Tag die Gelegenheit, so ein Riesenteil zu fahren.
“Und jetzt: Musik!” rief Onkel Phil von vorne, als er den Startknopf drückte. Der dicke V8 des Chevy meldete sich mit einem epischen Rülpser zum Dienst, seine Vibrationen spürte ich bis in die letzte Haarspitze. Vorsichtig dirigierte Onkel Phil das SUV-Monster vom Hof der Autovermietung. Was für ein saucooles Gefühl. Ich interessierte mich echt nicht für Autos, aber dieses Ding war der Knaller. Zu schade, dass keiner der Doofbratzen in meiner alten Schule mich jetzt sehen konnte. Der unsichtbare Paul fährt im coolsten Auto auf dem Planeten vor. Steigt aus und zeigt jedem … seinen dicken Windelhintern. Okay, streichen wir den letzten Gedanken. Was war denn bitte mit meiner Phantasie los? Jetzt konnte ich mich nichtmal mehr auf meinen Tagträume verlassen. Onkel Phil hatte uns inzwischen durch den frühmorgendlichen Verkehr einer erwachenden Großstadt auf eine Autobahn navigiert. Raus aus Stockholm, raus aufs Land. Juli und ich waren immernoch ratlos, wohin die Reise wirklich ging. Aber Onkel Phil blieb hart. “Jetzt lasst euch doch einfach mal überraschen, Jungs!” war seine Standard-Antwort, wenn einer von uns so alle fünf Minuten einen neuen Versuch unternahm, ihm das Fahrtziel aus den Rippen zu leiern. Nix zu machen. Wir verlagerten unser Interesse deshalb auf die Frühstückstüten. Juli klappte die Tischchen an unseren Sitzen hoch und verteilte den Inhalt der Tüten auf den Tischen. Ich war ja im Kindersitz gefesselt. “Gute Idee!” kommentierte Onkel Phil von vorne. “Wir sind noch gut zwei Stunden unterwegs. Macht es euch bequem. Wenn ihr wollt, könnt ihr auch gerne die Schuhe ausziehen!” Wollten wir. Das war in meinem Fall zwar nicht ganz so einfach. Ich war durch Gips und Sitz doppelt gehandicapt. Nach ein paar Verrenkungen war ich dann meine warmen Stiefel aber doch los. Ich zwängte meine Beine im Sitz in den Schneidersitz und inspizierte den Frühstückstisch. Belegte Brötchen, Wurst, Käse, Saft, Obst, Milch, Jogurth ein Müsli, Wasser, ein gekochtes Ei, Kakao und diverse kleine Portionspackungen mit Marmelade, Butter und Frischkäse. Ganz klar, hungrig würden wir ganz sicher nicht ankommen. Auch Juli hatte inzwischen seine Schuhe ausgezogen und kaute bereits genüsslich auf einem dick mit Schokocreme bestrichenen Brötchen. Er sah sehr zufrieden aus. Ich kämpfte mit dem Butterpäckchen und versuchte, mir so würdevoll wie möglich ein Wurstbrötchen zu schmieren. Das Ergebnis war eine ziemliche Sauerei, in der ein ein belegtes Brötchen lag. Bitte, ging doch! Und so ganz nebenbei hatte ich gemerkt, dass ich inzwischen die Finger des gebrochenen Arms wieder ganz gut bewegen konnte. Und während ich dann auch endlich anfangen konnte zu essen, begann Juli vom letzten Abend zu erzählen. Fast drei Stunden am Tisch des Kapitäns, der neben jeder Menge Smalltalk auch viel von seinen Aufgaben und seinem Werdegang erzählte. Julis Augen leuchteten. Er erzählte ohne zu stottern. Er hatte quasi den ganzen verdammten Abend auswendig gelernt und war natürlich davon überzeugt, dass er später auf jeden Fall Kapitän werden müsse! Irrtum ausgeschlossen! Zwischendurch erzählte ich von meinem Abend mit Tilda. Dass ich Spaß mit einem Mädchen gehabt hatte irritierte ihn zwar, aber er hörte sich auch meinen Bericht geduldig an. Das war ein tolles Gefühl. Mit Juli und Onkel Phil in einem Superluxusauto zu sitzen, durch die Gegend zu fahren und zu quatschen. Nicht aufhören. Das soll bitte nicht aufhören, brüllte mein Unterbewusstsein, als sich zwischendurch meine Blase meldete. Fassungsvermögen erreicht. Und zwar schon ziemlich lange! Kein Wunder. Nach dem ganzen Softdrink-Zeug vorhin. Jetzt Onkel Phil darum zu bitten, den nächsten Parkplatz mit Toilette anzufahren, aus dem Auto zu klettern, die Windel loszuwerden und es dann noch rechtzeitig auf die Toilette zu schaffen, war in meiner aktuellen Situation ausgeschlossen. 30 Sekunden. Länger schaffte ich es momentan nicht, meine Blase unter Kontrolle zu halten. Und so versuchte ich gar nicht erst, gegen den Drang anzukämpfen, entspannte mich und spürte augenblicklich, wie die Superabsorber in der Windel ihre Arbeit aufnahmen. Eine gefühlte Ewigkeit später war die Windel voll und die Blase leer. Ich schluckte den Klos im Hals runter. Darin würde ich nie Routine bekommen. Aber immerhin waren meine Klamotten trocken geblieben. Und hey, in ein paar Wochen ist der Spuk eh vorbei. Die Sache mit den Windeln würde vorbeigehen, die Freundschaft mit Juli und die Erinnerungen an diesen Urlaub würden bleib. Ich musste grinsen. Der Spruch hätte fast von Onkel Phil stammen können. “Beteiligst du dich eigentlich auch noch an unserem Gespräch?” holte mich Onkel Phils Stimme wieder zurück ins Hier und Jetzt. Kurze Verwirrung. Ups, schon wieder abgeschweift. Sorry! Was war denn? Onkel Phil schüttelte lachend den Kopf. “Und du bist dir sicher, dass du heute Morgen nicht zu viel von den Schmerzmittel-Tabletten genommen hast?” Sehr witzig. Was war denn jetzt bitte so wichtig? “Juli müsste mal aufs Klo und ich würde mir gerne einen Kaffee holen. Am nächsten Rastplatz fahr ich raus!” Das war jetzt ein Scherz, oder? Mit ein bisschen mehr Blasenkontrolle müsste ich jetzt nicht hier in einer nassen Windel sitzen. Schöner Scheiß. Ich nickte betont genervt. Sollten sie doch anhalten. “Wird aber noch gut zehn Minuten dauern”, fuhr Onkel Phil fort. “Packst du das, Juli?” Der sah nicht happy aus, nickte aber tapfer. Ich konnte mir vorstellen, wie er sich fühlte. Immerhin hatte er sogar noch mehr Softdrinks getrunken, also ich. “Du kannst aber schonmal deine Schuhe anziehen, wir sind gleich da! Dann geht’s schneller.”
Dass es dann aber doch etwas länger dauerte, lag nicht am Navi, nicht an Onkel Phil und auch nicht an der wirklich nervige Geschwindigkeitsbegrenzung auf schwedischen Landstraßen. Sondern an einem riesigen Tier, hinter einer Kurve plötzlich auf der Straße stand und uns erstaunt ansah. “Fuck!”, fluchte Onkel Phil, bevor er mit einem “Achtung, Elchtest” den Chevy nach rechts riss und in bester Rallye-Tradition über den Randstreifen rauschte, kurz ein paar kleine Büsche und Sträucher umnietete und ein paar Sekunden später wieder festen Asphalt unter den Rädern hatte. Warnblinker an, rechts ranfahren und erstmal durchschnaufen. Täuschte ich mich, oder war mein Supercoolerimmereinenplanbindertasche-Onkel so ein klitzekleines bisschen blass um die Nase? War ja aber auch eine krasse Aktion. 30 Sekunden Schleudergang. Aber immerhin hatten weder Elch noch Fahrzeug was abbekommen. Zumindest gingen wir davon aus. Denn außer der Schneise, die Onkel Phil mit dem Chevy ins Unterholz geschlagen hatte, erinnerte nicht mehr viel an unsere Offroad-Einlage. Okay, die Schneise und ein ziemlich eingesauter Juli. Der saß regungslos auf seiner Sitzerhöhung und starrte erschrocken auf den großen dunklen Fleck, der sich auf seiner Hose und dem Pullover ausgebreitet hatte. “Sssso ein Mist!”, fluchte er und wischte sich die Reste des Orangensaftes aus dem Gesicht. “Iiiich hatte gerade den Becher in der Hand, als das …. Vieh auftauchte!” Ups. Ein O-Saft-Unfall. Nun ja, er würde sicher keine bleibenden Schäden davontragen. “Sonst alles gut bei euch?”, fragte Onkel Phil ehrlich besorgt. Daumen nach oben von mir. Nur Juli jammerte. “Iiiich bin kkkkklatschnass!” Ich konnte sein Genöle ja verstehen. Zumindest ein bisschen. Aber hallo?! Wir hatten gerade einen echten Elch gesehen! Einen echten Elch! Ich fand schon, dass wir dem eigentlich hinterhergehen sollten. Wo der eine war, gab’s vielleicht noch mehr!? Aber gut, abgesehen von meiner Windel war ich ja trocken und hatte deshalb leicht reden. “Eine Minute noch”, rief Onkel Phil nach hinten, als er den Tahoe zurück auf die Straße lenkte und beschleunigte.
Keine 60 Sekunden später parkten wir auf einem ziemlich leeren Parkplatz vor einer kleinen Tankstelle und einem winzigen Restaurant. Juli wartete nichtmal, bis Onkel Phil den Motor ausgeschaltet hatte, sondern schnallte sich los, sprang aus dem Auto und versuchte, die Reste des O-Safts von sich abzuschütteln. Ohne allzu viel Erfolg, natürlich. “Krass oder? Ein echter Elch!” Onkel Phil war ums Auto herumgegangen und war gerade dabei, die Gurte meines Sitzes zu lösen. Aber hallo! Er konnte also auch schon wieder lächeln. Und mir hatte die Aktion eh gefallen. “Ich will drin gleich einen Kaffee trinken”, meinte er ruhig. “Sonst alles gut bei dir?” Ich nickte zerknirscht. Ich musste ja noch aus der nassen Windel raus. Und außerdem kündigte sich der nächsten Toilettengang an. Und den wollte ich definitiv nicht in der Windel haben. Und so beichtete ich Onkel Phil, dass erstens eine frische Windel fällig war und ich zweitens vorher zur Toilette musste. “Dachte ich mir schon”, meinte Onkel Phil nur knapp. “Ist es okay für dich, wenn wir erst Juli versorgen?” Klar. Der arme Kerl brauchte ja dringend trockene Sachen. Ich versuchte kurz zu checken, wie dringend die Angelegenheit bei mir war. Okay, sollte gehen.
Ein paar Minuten später saß Juli neben mir im Kofferraum des Chevy. Da waren ja unsere Rucksäcke mit den Wechselsachen. Er hatte echt schon glücklicher ausgesehen. Das Problem waren die Wechselsachen. Er hatte zwar frische Unterwäsche, ein T-Shirt und einen Pulli dabei, aber keine Wechselhose. Dafür die beiden Strumpfhosen, die er von mir bekommen hatte und den dicken Overall. “Ddddie Strumpfhosen wollte ich dir zurückgeben!”, seufzte er. “Eine frische Hose hab ich irgendwie vergessen!” Wir mussten also improvisieren. Grundsätzlich kein Problem, Onkel Phil hatte ja für mich mehr als genug eingepackt. Die meisten Sachen waren Juli aber viel zu klein. So oder so musste er aber jetzt erstmal aus den nassen Sachen raus. Pulli, Hose, T-Shirt, lange Unterhose, Unterhose. Alles voller O-Saft. Lediglich sein Unterhemd war trocken geblieben. “Soll ich dir helfen?”, fragte Onkel Phil, während Juli sich eine Decke um den Körper schlang. Es war doch ganz schön kalt. Er wurde rot, nickte aber. Dann ging’s eigentlich recht flott. Frisches T-Shirt, drüber ein hellgrüner Pullover mit großer Wolfstatze auf dem Rücken. Dazu eine der beiden Ersatzstrumpfhosen. Fehlte nur noch eine Hose. Und da war das Angebot sehr überschaubar. “Pauls Leggings gibt’s doppelt”, meinte Onkel Phil schließlich. “Magst du die mal anprobieren?” Mochte er natürlich nicht. Er lief genauso ungern in Leggings durch die Gegend, wie ich. Die Alternative, mit einer knallroten Strumpfhose durch Schweden marschieren zu müssen, war aber die deutlich unangenehmere Option. Also die Leggings. Die saß bei mir ziemlich luftig. Bei Juli dann eher figurbetont. Aber sie passte. “Zwillinge!”, frotzelte Onkel Phil, als Juli und ich nebeneinander im Kofferraum saßen. Bevor Juli irgend etwas erwidern konnte, hatte er schon seine Jacke im Gesicht. “Los jetzt ihr beiden, anziehen! Ich brauche dringend einen Kaffee und Paul braucht einen Boxenstop!“ Ja danke auch, Onkel Phil. Geht’s noch lauter? Wobei er natürlich recht hatte. Vor allem bezogen auf mich. Die Sache war jetzt echt dringend. Und so gingen wir wenige Augenblicke später in Richtung Restaurant. “Such uns doch schonmal einen Platz!”, bat Onkel Phil Juli, während er mich in Richtung Toiletten schob. “Wir sind gleich da!” Gleich war allerdings ein ziemlich dehnbarer Begriff. Denn in meiner Situation war jeder Toilettengang ein relativ aufwändiges Unternehmen. Ich hatte ja nur den einen einsatzfähigen Arm, brauchte also für fast alles Unterstützung. Ich hatte keinen Plan, wie das gleich alles funktionieren sollte. Windel wechseln, dann noch aufs Klo, frische Windel an… und das alles in einer kleinen Klokabine? Ich grübelte und spürte, dass das bald alles Überlegungen ohne Wert sein würden, wenn es nicht schnell ging. Ich bekam feuchte Hände und konnte so langsam keinen festen Gedanken mehr fassen. Auch Onkel Phil spürte offensichtlich meine aufsteigende Panik und kürzte die Sache ganz pragmatisch ab. Wir hatten inzwischen die Herrentoiletten betreten und waren alleine dort. Dann ging alles blitzschnell. Onkel Phil schob mich in eine Kabine und zog mir gleichzeitig mit einer einzigen Handbewegung Leggings, Strumpfhose und Unterhose bis zu den Knien nach unten. Vor Schreck blieb ich einfach stehen. Mit zwei weiteren schnellen Bewegungen waren die Klettverschlüsse der Windel offen, eine dritte Handbewegung zog das nasse Teil zwischen meinen Beinen raus. Zum Schluss streckte mir Onkel Phil noch ein Paket Feuchttücher entgegen und meinte nur: “Damit sollte es gehen! Komm einfach nach nebenan, wenn du fertig bist!” Und weg war er. Aus einem Reflex heraus verriegelte ich die Tür und setzte mich auf die Toilette. Keine Sekunde zu spät. Ich zitterte, als sich die Anspannung legte. Geschafft. Onkel Phil hatte die Situation mal wieder gerettet. Jetzt musste ich die Sache hier drin nur noch sauber zu Ende kriegen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Es wurde keine ganz einfache Aktion, klappte aber wegen der Feuchttücher dann aber doch überraschend gut. Als ich mich einigermaßen sauber fühlte, zog ich mich einhändig an, so gut es ging. Ein schönes Gefühl, so ganz ohne Polster am Po. Das wollte ich unbedingt wieder öfter haben! Der Rest war dann wirklich Routine. Ich fand Onkel Phil in einem kleinen Nebenraum, der als Kinderspielbereich diente, bzw. mal gedient hatte. Das Rasthaus hatte offensichtlich schon deutlich bessere Zeiten erlebt. Für unsere Zwecke reichte der Raum aber. Ein bisschen Creme für die gereizte Haut, Windel an, fertig. Ein echter Abtörner, verglichen mit dem luftigen Gefühl vorher. Aber immerhin konnte es jetzt weitergehen!
Juli saß in einer Ecke des kleinen Restaurants, vor ihm eine dampfende Tasse Kakao und sah sehr zufrieden aus. Er hatten den Schreck des Elch-Tests offensichtlich weggesteckt. “Nnnna, alles wieder frisch?” An dieser Stelle hätte ich jetzt genervt sein können, über seinen betont lässigen Unterton, mit dem er auf meine Windel abzielte. Aber warum eigentlich? Er hatte ja recht. Und so nickte ich lediglich milde, setzte mich neben ihn fand umgehend, dass wir beide ein wirklich schräges Bild abgeben mussten. Durch die gleichen Leggings sahen wir aus wie Zwillinge, die mit ihren Klamotten versuchten zu kaschieren, dass sie nicht ein einziges Gen miteinander teilten.
Ich orderte bei Onkel Phil, der gerade am Tresen stand, ebenfalls einen Kakao und hatte wenige Minuten später auch eine Tasse mit dem süßen Dickmacher vor mir stehen. Onkel Phil grinste. “Wenn Juli die nächsten Wachstumsschübe auslässt und Paul ab sofort anfängt, Steroide zu schlucken, hält man euch in 5 Jahren ganz bestimmt für Zwillinge!” Juli verschluckte sich fast an seinem Kakao vor Lachen, Onkel Phil leerte seinen doppelten Espresso in einem Zug. “Ich mache schnell im Wagen klar Schiff, dann geht’s in zehn Minuten weiter! Kommt ihr dann?” Wir nickten synchron, wie sich das für Zwillinge gehörte. Kaum war Onkel Phil nach draußen verschwunden, da änderte sich Julis Stimmung. “Iiiiihr seid nach der Kreuzfahrt noch 14 Tage auf Sylt, oder?” Ich nickte und wusste noch nicht so genau, worauf er rauswollte. “Wwwwir nur noch eine Woche!” Stimmt, darüber hatten wir gesprochen. “Mmmeinst du wir kriegen das hin, dass wir uns dann nochmal sehen?” Ah, daher wehte der Wind. Ich nickte wieder. Und spürte plötzlich, wie da ein Klos im Hals größer wurde. Juli hatte Angst, dass unsere Freundschaft nicht halten könnte, wenn wir erstmal vom Schiff runter waren. Und wenn ich ehrlich war, spürte ich diese Angst auch schon seit einer ganzen Weile. Ich hatte bis jetzt noch nie einen Freund gehabt, der mit mir wie Juli durch alle Höhen und Tiefen gegangen war. Das war ein großartiges Gefühl. Und ich wollte ehrlich gesagt nicht, dass das aufhörte! Und deshalb schob ich all die Zweifel weg, sah Juli lange an. Ein stilles Versprechen, das er sofort verstand. Und sofort ging’s mir besser. Ihm offensichtlich auch. Knapp eine Woche später sollte ja dann auch die Schule anfangen. Da würden wir uns dann jeden Tag sehen, hoffte ich zumindest. Ich erreichte ihn also. Mit allem was ich sagte. Man konnte es an den kleinen Fältchen über seinen Augen sehe. Die entspannten sich und verschwanden. Er war wirklich erleichtert. “Ddddas wird cool, in der Schule!”, versuchte er zurück in den Urlaubsmodus zu kommen. Ich tat ihm den Gefallen und ließ mich drauf ein, auch wenn ich ganz genau wusste, dass das noch ein weiter Weg war. Ich musste wahrscheinlich vorher noch eine OP hinter mich bringen, die Windel loswerden und dann an einer Schule Fuß fassen, an der alles neu für mich war. Ich bekam eine Gänsehaut, bei der Vorstellung. Mich davon aber schon heute runterziehen zu lassen, darauf hatte ich jetzt aber auch keine Lust. Jetzt wollte ich erstmal aus dem schmuddeligen Rasthaus raus und einkaufen. Heute genießen. Der Rest würde sich finden!
Keine 30 Minuten rollten wir erneut durchs schwedische Nirdgendwo. Endlose Wälder, durch die sich eine endlose schmale Straße schlängelte. So langsam wurde ich unruhig. Wo zur Hölle sollten wir hier einkaufen? Und was? Nichts gegen Mitbringsel aus Baumrinde und Kiefernzapfen. Damit waren Eltern und Großeltern wunderbar zu beeindrucken. Aber darum ging es hier ja gar nicht. Shoppen. Wir wollten Shoppen! Juli klebte mit der Nase an der Scheibe und starrte ebenfalls unsicher ins Waldesgrün. Onkel Phil schien unsere Ahnungslosigkeit prächtig zu amüsieren. Sadist. Weitere 10 Minuten später, der Chevy schnurrte gerade entspannt einen kleinen Hügel hoch, änderte sich Onkel Phils Haltung schlagartig. “So Jungs, wir sind fast da!” Bitte was? Fast da? Wo denn bitte? Ich sah mich jetzt echt schon auf einem Baumstamm sitzen und kleine Rentiere auch Blättern, Ästen und Bindfaden basteln. Auch Juli schaute einigermaßen schockiert? “Aaaaaber hier ist doch nix!”, platzte es aus Juli raus. “Das würde ich so nicht sagen!”, zog Onkel Phil den Spannungsbogen ins Unendliche. “Hier gibt’s Wald. Elche. Rasthöfe und …” Pause. “… das hier!” In diesem Moment kamen wir über den Berg und blicken auf eine Eben hinab, die mit dem Wald drumherum nicht mehr viel zu tun hatte. Riesige Hallen, Glaskuppeln und Türme, alle durch große Glasröhren miteinander verbunden. Dazwischen Rasenflächen und Parkplätze. Viele Parkplätze. Gewaltig viele Parkplätze. Ich röchelte. Mist. Atmen und schlucken gleichzeitig vergessen. Schnell nachholen. “Willkommen in Wikingsund, dem größten Shopping-Center Europas!”, beendete Onkel Phil seinen großen Auftritt. Wie, nur Europa? Es war schwer vorstellbar, dass es irgendwo auf der Welt also noch größere Konsumtempel geben konnte. War uns jetzt aber auch völlig egal. Dieses Ding sprengte auf jeden Fall unseren sich langsam entwickelnden Teenager-Horizont. Juli sagte gar nichts. War stottertechnisch wahrscheinlich auch besser so. Er hatte genug damit zu tun, die Gigantomanie zu verdauen. Entsprechend ruhig war es im Auto, also Onkel Phil sich zu den Parkplätzen navigierte. Wir kamen erstaunlich nahe ran. “Erstens sind wir früh dran, zweitens hat das Ding gerade mal seit einer Woche offen und drittens sind in Schweden gerade keine Schulferien!”, erklärte Onkel Phil ungefragt. “Wir werden also ziemlich viel Platz haben, um Geld auszugeben!” Wieder so eine Kunstpause. Dann: “Alles klar?” Wir nickten mehr oder weniger synchron. “Na dann los! Schuhe an, Jacken an und vergesst die Rucksäcke nicht! Wer was im Auto vergisst, muss alleine zurückfinden!” Ich hatte zwar keine große Lust, den ganzen Tag den Rucksack durch die Gegend zu schleppen, aber vor dem Hintergrund eines mittleren Wandertags, der für den Rückweg zu Auto einkalkuliert werden musste, war das echt das kleinste Problem.
Wir gaben uns also größte Mühe, nur ja nichts im Auto liegen zu lassen, dass wir in den nächsten paar Stunden brauchen würden und standen fünf Minuten später vor einem riesigen Portal, das in einer großen Empfangshalle mündet. Einem von vier Haupteingängen, wie wir später begriffen. Zu jeder Himmelsrichtung hin einer. Groß traf es allerdings nicht richtig. Die Einganshalle fühlt sich eher so an wie ein Bundesliga-Fußballstadion. Ein ziemlich leeres Stadion. Onkel Phil dirigierte uns zu einer stattlichen Holzhütte, die inmitten dieser Stahl- und Glasarchitektur nicht nur ein bisschen verloren aussah, sondern auch irgendwie deplatziert. Dafür aber auch entsprechend auffiel. “Jungs, bevor wir hier mit Geld um uns werfen, müssen wir ein wichtiges Thema besprechen: Sollten wir uns aus welchen Grund auch immer aus den Augen verlieren, treffen wir uns immer zur vollen Stunde hier. Dieses Wikingerhaus gibt es nur einmal und es ist überall ausgeschildert. An jedem Eingang gibt es ein anderes Bauwerk aus der schwedischen Mythologie, die Wikingerhütte gibt’s wirklich nur hier. Verstanden?” Ein gewissenhaftes Nicken. “Sehr gut, dann machen wir es uns mal bequem und bringen die ganze Kohle unters Volk”. Bequem machen? Er sprach schon wieder in Rätseln. Vor einem gelb beleuchteten Tragluftzelt klärte sich die Sache auf. Bollerwagen. In der Form von Rentierschlitten. Weil die meisten Kunden offensichtlich mit viel Gepäck kamen und die Wege so extrem weit waren, konnte man sich gegen Vorlage des Personalausweises einen Bollerwagen ausleihen. Der war Dank elektrischem Hilfsmotor fast ohne Kraftaufwand zu ziehen und bot genug Platz für Rucksäcke und natürlich jede Menge Einkäufe. Ein sehr cleverer Schachzug. Diese Dinger sorgten dafür, dass sich niemand Gedanken darüber machen musste, wie er seine Einkäufe ins Auto bekam Das konnte auf keinen Fall schädlich für die Umsätze sein. Es dauerte keine zehn Minuten, da hatten Juli und ich begriffen, wie sinnvoll die Elektroschlitten waren. Das Einkaufszentrum sprengte alle Dimensionen, die man so als Neunjähriger parat hat. Und die Wege waren weit. Extrem weit. Dazu war es drinnen alles andere als kalt. “Der gesamte Komplex ist klimaneutral gestaltet und kommt ohne externe Energiezufuhr aus!”, dozierte Onkel Phil. “Strom und Wärme stammen aus einem Geothermie-Kraftwerk!”. Weltklasse, Herr Oberlehrer. Ich verdrehte die Augen. Shoppen, Onkel Phil! Shoppen. Nicht Unterricht!
Wobei die Sache mit der Temperatur sollten sich die klimaneutralen Bauherren echt nochmal ansehen. In Kombination mit unseren Winterklamotten fühlten sich die erste halbe Stunde in Wikingsund an, wie ein Familienausflug in die Großraum-Sauna. Entsprechend schnell verschwanden Mützen, Schals, Handschuhe und Jacken in unserem E-Schlitten. Damit kamen wir zumindest durch die erste Halle. Lauter Läden für Schmuck und Mädchenkram. Wie ätzend. War aber eben das Konzept der ganzen Anlage. Jede Halle ein Themenschwerpunkt. Schnell verzogen wir uns auf eine Bank und tüftelten die für uns ideale Route aus: Klamotten, Spielsachen, Elektronik, Schuhe, Sportartikel. Keine Chance für Inneneinrichtung, Dekoration, Mädchen-Mode oder die Beauty-Area. Der Hallenplan sah jetzt ziemlich vollgekritzelt aus, die Route funktionierte aber. High-Five. Onkel Phil amüsierte sich königlich. Auch er hatte längst nur noch ein T-Shirt an. Seine Funktionshose reichte ihm dank der Reisverschlüsse jetzt nur noch bis zu den Knien. Er fand’s jetzt also entsprechend angenehm. Juli und ich schwitzten aber schon wieder. Das konnte so nicht weitergehen. Wir hatten noch einen Riesen-Fußmarsch vor uns. Das ging nicht mit den Klamotten. Kurze Sachen zum Wechseln hatten wir aber natürlich auch nicht dabei. “Aaaach, scheiß drauf!”, motzte Juli schließlich, zog seine Schuhe aus und stieg aus der Thermo-Leggings. Dann schlüpfte er wieder in seine Stiefel und sah sehr erleichtert aus. Aber halt auch ein bisschen seltsam, in der feuerroten Strumpfhose. Jetzt war ich unter Zugzwang. Natürlich war es vernünftig, was Juli gemacht hatte. Zumal auch die wenigen anderen Kinder, die in Wikingsund unterwegs waren, so oder zumindest so ähnlich rumliefen. Aber hey, die hatten auch keine XXL-Windel an, die durch das Superman-Logo auf dem Po auch noch wunderbar in Szene gesetzt wurde. Ich war echt genervt, hatte aber keine Alternative. Mit einem tiefen Seufzer fummelte ich die Leggings nach unten, öffnete die Klettverschlüsse meiner Stiefel und strampelte beides von den Beinen. Stiefel wieder an. Fertig. Schlagartig ging’s mir besser. Zumindest in Sachen Körpertemperatur. Meine rot leuchtenden Ohren würde aber noch eine Weile brauchen, um mit der Situation klar zu kommen. Ich schämte mich wirklich, für die Windel und versuchte die nächsten Minuten, immer möglichst so zu gehen, dass mein Po zur Wand zeigt. Was nicht nur anstrengend war, sondern auch kreuzdämlich aussah. Es war natürlich wieder Onkel Paul, der mich zurück in die Spur brachte. “Hör mal, Paul. Juli und mir ist es bekanntermaßen komplett egal, dass du eine Windel tragen musst. Und wenn du dich mal umschaust wirst du feststellen, dass die anderen Kunden besseren zu tun haben, als auf einen Neunjährigen zu achten, der evtl. ein bisschen mehr Po hinter sich herzieht, als üblich!” Ich sah mich vorsichtig nach allen Seiten um. Ja, konnte schon sein, dass eigentlich niemand auf uns achtete. Aber … “Nix aber!”, murmelte Onkel Phil. “Willst du jetzt shoppen, oder nicht?” Blöde Frage. Natürlich! “Dann los jetzt, in der nächsten Halle sind die ganzen Klamottenläden, auf die ihr so scharf seit!” Ich kam nicht mehr dazu, irgend einen Einwand zu bringen. Juli nahm mich am Arm und schleifte mich in Richtung der nächsten Wegbiegung. “Ddddu bist aber auch immer kompliziert”, hörte ich ihn nörgeln und beschloss, mir zumindest in den nächsten Stunden einfach keinen Kopf mehr zu machen.
Eine gute Entscheidung, aber eigentlich auch ziemlich unnötig. Denn die folgende Tour durch die Stores der wirklich angesagten Labels war eh Ablenkung genug. Strumpfhose? Windel? War da was? Und wenn schon. Juli und ich hatten besseres zu tun. Ausgestattet mit reichlich Bargeld (Onkel Phil war wirklich nicht knausrig und Juli Großeltern alles andere als arm) landete all das in unseren Einkaufstüten, was Mama mir nie gekauft hätte und Julis Großeltern unter normalen Umständen sofort in die Altkleidersammlung geben würden: Viel zu bunte Shirts und Pullover mit Fantasy-Figuren, Jeans mit Löchern, moderne Baggypants und lässige Jogginghosen. Onkel Phil hatten wir in der Zwischenzeit in einer netten Lounge geparkt, in der noch weitere Eltern und Angehörige auf die Rückkehr des mit Tüten bepackten Nachwuches warteten. Das IKEA-Spieleparadies für Erwachsene. Wir fanden es lustig, Onkel Phil ziemlich angenehm. Kein Wunder, er war ja dank Espresso-Bar, saubequemen Sesseln, Handy-Ladestation und großen Flatscreens bestens versorgt. Juli war es, der es nach dem dritten Schuhgeschäft (jeder zwei paar sehr angesagte Klett-Sneakers, die im Winter zu kalt und im Sommer zu warm waren) plötzlich eilig hatte und durch die riesige Halle sprintete. “… Klo! … treffen … Onkel Phil!” hört ich aus der Ferne, bevor er um die Ecke verschwand. Ach so. Also trottete ich wie ein einarmiger Lastesel zu Onkel Phil. Seine Tüten hatte Juli natürlich bei mir gelassen. “Ich brauche unbedingt ein Video davon, wenn deine Mama sieht, was du da alles zusammengeshoppt hast!”, prustete Onkel Phil, als ich ihm wenig später meine Beute vorführte. Völliges Unverständnis meinerseits. Was hatte der blöde Kerl denn? Das waren alles 1a-Sachen! Was konnte ich denn dafür, dass er modetechnisch komplett hinterm Mond lebte!? “Türlich!”, prustete er zum Abschluss. “Wenn’s dir gefällt, dann haben wir ja alles richtig gemacht! Ich gehe davon aus, dass ihr heute Abend zum Abschluss-Essen der Kreuzfahrt einen Teil eurer neuen Garderobe ausführend werdet?” Das war ja wohl sonnenklar! Wobei Juli, der gerade verschwitzt zu uns stieß, diesen Teil des Gesprächs nur mit einem zerknirschten “Mal sehen….” quittierte. Niemals würden seine Großeltern in diesen Klamotten in die Öffentlichkeit lassen. “Ach, das kriegen wir schon hin!”, drehte Onkel Phil das Stimmungsbarometer mal wieder in die richtige Richtung. “Aber wo warst du eigentlich so lange?” Juli druckste herum. “Musste ganz dringend aufs Klo und hab die Entfernung unterschätzt. Und dann war das erste WC natürlich kaputt! Hab’s auf den letzten Drücker geschafft!” Kannst gerne was von meiner saugfähigen Unterwäsche haben, grinste ich und zeigte auf meinen Rucksack! “Bei dir piept’s wohl!” motzte Juli zurück. “Können wir jetzt weiter? Da vorne müssen wir noch unbedingt rein!” Aus dem schnellen Aufbruch wurde aber nichts. Weil Onkel Phil uns ziemlich humorlos einbremste. Oder besser gesagt: mich einbremste. “Sorry Paul, aber du brauchst vorher auch noch dringend einen Boxenstopp!”
Boxenstopp? Äh, was? Warum? Was meinte er denn? Ich hatte doch grade was gegessen und getrunken? Er senkte den Blick und ich folgte seinen Augen. Bis zu meiner Hüfte. Und wurde bleich. “Kann es sein, dass du auch schon auf dem Klo warst, Paul? Ohne dort gewesen zu sein?” Ich tastete nach meiner Windel und spürte jetzt erst, dass sie ziemlich schwer zwischen meinen Beinen hing. Jetzt wurde mir heiß und kalt. Wie konnte das sein? Nichts. Ich hatte nichts gespürt. Zum allerersten Mal. Sofort hatte ich Tränen in den Augen. Ich fühlte mich elend. “Nun mach mal kein Drama draus!”, schaltete Onkel Phil wieder auf Angriff. “Wir wussten, dass das bis zur OP noch schwierig werden würde. Und dann noch die aufregende Shopperei. Das konnte ja nicht gut gehen!” Er platzierte Juli mit einem “Passt du bitte mal für zwanzig Minuten auf unsere Sachen auf” in dem Sessel, in dem er selbst gerade noch gesessen hatte, schnappte sich meinen Rucksack und schob mich vor sich her aus der Lounge. Juli nickte und war bereits dabei, sich die Wartezeit mit Salzcrackern zu versüßen.
Ich war völlig durch den Wind. 20 Minuten? Was hatte Onkel Phil vor? Wo war denn bitte der nächste Wickelraum? Auf dem Scheiß-Mond? Natürlich merkte Onkel Phil, wie es in mir arbeitete. “Paul, der Wickelraum ist gleich da vorne um die Ecke. Aber wir brauchen auch noch neue Windeln für dich. Die hab ich bereits vom Schiff aus in einem Sanitätshaus bestellt, an dem wir auf dem Rückweg vom Wickelraum vorbeikommen! Hättest du Juli da gerne dabeigehabt?” Ich schluckte. Ne. Nicht wirklich. Wir hatten zwar keine Geheimnisse. Aber er musste ja trotzdem nicht unbedingt dabei sein, wenn ich die nächsten Windeln verpasst bekam. Ich biss mir auf die Lippen. Augen zu und durch.
Mal wieder war alles nur halb so schlimm, wie befürchtet. Der Wickelraum bestand eigentlich aus drei geräumigen Kabinen, die alle identisch ausgestattet waren: Waschbecken, zwei Stühle, ein Tisch, ein großer Mülleimer und ein höhenverstellbarer Wickeltisch, auf dem auch Erwachsene Platz hatten. Das kannte ich ja schon vom Museum auf Sylt. Hier war aber alles auch irgendwie ziemlich freundlich eingerichtet. Warme Farben, eine weiche Wickelauflage, flauschige Papierhandtücher, Einweg-Handschuhe, Desinfektionsmittel, ein paar Zeitschriften und Kinderbücher. Außerdem noch einzeln verpackte Babywindeln, mit denen Hersteller Werbung für ihre Produkte machten. Meine Größe und Saugstärke hab es natürlich nicht. Aber man konnte ja nicht alles haben. Während Onkel Phil sich Handschuhe überstreifte, fummelte ich meine Strumpfhose runter, so gut es eben mit einem Arm ging und platzierte mich auf dem Wickeltisch. Als Onkel Phil 45 Sekunden später die Klebestreifen aufriss und die Windel unter meinem Po hervorzog, roch ich sofort, dass ich das Ding an seine Belastungsgrenze gebracht hatte. Mit einem dumpfen “Pflump” landete das schwere Teil im Müll. “Das war allerhöchste Eisenbahn!”, nuschelte Onkel Phil, während er mich sorgfältig säuberte. “Ich schätze, dass da schon einiges im Auto drin gelandet ist”, stellte Onkel Phil Vermutungen an. Ich zuckte mit den Achseln und hatte dabei immernoch (oder schon wieder?) Tränen in den Augen. “Du hast nichts gespürt?” Ein Kopfschütteln. Und noch mehr Tränen. “Okay, dann müssen wir halt ab sofort spätestens alle zwei Stunden eine kurze Wickelpause einlegen! Sonst wirst du wund, da unten!” Um der Sache vorzubeugen, trug Onkel Phil eine Schicht Heilsalbe auf. Ich verlor mich dabei irgendwo zwischen Tobsuchtsanfall und Gleichgültigkeit. Ich war kein Baby, verdammt. Und trotzdem lag ich hier und wurde mal wieder gewickelt. Aber störte mich das wirklich. Noch? Ich wusste es nicht mehr. Ich wusste gar nichts mehr. Ließ es einfach geschehen. Onkel Phil schloss den letzten Klebestreifen, zog meine Unterhose hoch und hatte mich in Rekordzeit wieder in der Strumpfhose. Dann noch die Schuhe an. Fertig. Ich spürte das dicke, weiche Windelpaket, das eng anlag. Spürte den Unterschied zu vorher. Und wunderte mich noch viel mehr, dass ich nicht mitbekommen hatte, wieviel ich vorhin eingenässt hatte. Krass.
Keine zwei Minuten später betraten wir das größte Sanitätshaus, das in bislang in meinem Leben gesehen hatte. Okay, es war das Erste. Aber es war riesig. Drei Stockwerke! Alles in Glas, helle Farben, LED-Beleuchtung. Und hier wollten wir Windeln kaufen? Zu meiner Enttäuschung folgten wir einem Schild in Richtung Keller. Da sah es ähnlich modern aus wie oben, allerdings ohne Tageslicht. Dafür halt mehr LEDs. Viel beeindruckender waren aber die Waren, die sich in langen Regalreihen bis fast unter die hohe Decke türmten. Windelpakete. Der gesamte linke Teil des Raumes war voller Windelpakete. Sortiert nach Größe und Gewicht desjenigen, der sie benötigte. Ganz vorne die dünnen Einlagen, hinten Richtung Wand nahm die Saugstärke dann immer weiter zu. Das war ja einfach. Kurz bevor wir in den dritten Gang einbogen, trat eine junge Frau aus der Regalreihe daneben. Sie war ungefähr so alt wie meine Schwester aber viel dicker und trug zwei große Windelpakete in jeder Hand, die offensichtlich für sie selbst bestimmt waren. Durch ihre enge Sommerhose war deutlich zu sehen, dass ihr Po dicker war, als bei normaler Unterwäsche. Wow. ich hatte echt noch nie einen Erwachsenen gesehen, der auf Windeln angewiesen war.
“Paul, kommst du?”, holte mich Onkel Phil aus meinen Gedanken. Ein paar schnelle Schritte, dann stand ich wieder neben ihm, ganz nach an der Wand aus grauem Sichtbeton. Bei meiner Windelmarke. Einzeln an den Regalen befestigte Windeln halfen bei der Orientierung. Allerdings standen die beiden Pakete, die dort mit meinem Namen beschriftet waren, nicht bei den Windeln, die ich aktuell trug. Sondern noch ein Stück weiter rechts, direkt an der Wand. Die extremste Saugstärke. Ich tastete vorsichtig nach der Beispielwindel am Regal. Sie fühlte sich schon anders an, als meine. Die hellgelbe Oberfläche war weicher, knisterte aber bei jeder Berührung etwas. Und sie war viel dicker. Statt Klettverschlüssen erkannte ich blaue Klebestreifen. “Okay für dich?”, fragte Onkel Phil? Ich nickte kurz. “Damit wirst du garantiert nicht auslaufen!”, erklärte er weiter. “Und falls mal ein größerer Unfall passiert, sind die hier auch viel sicherer!” Mir wurde schlecht, wenn ich nur daran dachte. Aber Onkel Phil und die Ärztin hatten ja Recht. Ich hatte das alles immer weniger unter Kontrolle.
Der Weg zur Kasse war nicht annähernd so peinlich, wie befürchtet. Das lag vor allem an der Frau mit den Windeln, die wir vorher gesehen hatten. Wenn die ohne Probleme hier einkaufen konnte, dann war’s ja wohl für mich auch kein Problem. War es wirklich nicht. Die Dame an der Kasse verpackte die beiden Windelpakete in jeweils eine große Papiertüte. Kein schiefer Blick, kein vielsagendes Grinsen. Dafür aber eine handvoll Bonbons zum Abschied.
Die wollte ich natürlich mit Juli teilen. Der bekam davon aber erstmal wenig mit. Als Onkel Phil und ich zurück in die Lounge kamen, fanden wir ihn schlafend zusamengerollt in einem Sessel. Natürlich hatte er den Daumen im Mund. Störte mich nicht. Und eigentlich auch sonst niemanden, der hier im Raum war. “Lass ihn noch kurz schlafen!”, meinte Onkel Phil. “Ich hole uns schnell was zu Essen, dann können wir ihn immernoch wecken!”
Eine ganze Menge Sandwiches später waren dann alle wieder Fit. Juli hatten die paar Minuten Schlaf sichtlich gut getan und der volle Magen sorgte bei mir dafür, dass ich dem restlichen Tag ziemlich gelassen entgegen sah. “Können wir dann endlich los!”, quengelte Juli? “Da vorne gibt’s diese coolen Overalls! Da müssen wir unbedingt noch hin!” Overalls? Was? Aber … Ich kam nicht dazu, irgend was einzuwenden. Weder, dass ich eigentlich vorher noch zur Toilette musste. Noch, dass ich keine Ahnung hatte, von welchen Overalls er sprach. Zumindest Letzteres klärte sich sehr schnell. Er meinte ziemlich weit geschnittene Overalls, die es in allen möglichen Farben und Mustern gab. Die Dinger sahen ein bisschen aus, wie überdimensionale Strampelanzüge, waren aber ziemlich flauschig und angeblich total angesagt. Gemessen am Gewühl im Laden war das wohl auch nicht untertrieben. Entsprechend schwierig war es, die beliebtesten Farben und Muster in den richtigen Größen zu finden. Vor allem Juli musste ewig suchen, bis er einen der Overalls im Polizeiuniform-Look fand, der ihm passte. Ich hatte es einfacher, da ich noch bei den Kindergrößen einkaufen konnte. Und da gab es noch jede Menge Auswahl. Ich entschied mich für einen Overall im Ninja-Turtle-Look. “Dazu dann unsere neuen Sneakers, dann stimmt der Look!”, bestimmte mein persönlicher Shopping-Guide Juli. “Wir ziehen uns dann gleich um, oder?” Von mir aus gerne. War mir aber eigentlich grade egal. Weil: Wir mussten nämlich noch bezahlen. Oder besser: Ich. Juli wollte in einem Geschäft nebenan noch kurz ein paar Souvenirs für seine Großeltern besorgen. Das Problem: Die Schlange vor der einzigen (!) geöffneten Kasse war endlos lang. Und so langsam wurde das Klo-Problem echt relevant. Meine Windel hing relativ weit nach unten, war also ziemlich sicher nicht mehr trocken. Gespürt hatte ich wieder nichts. Viel dringender war aber die Sache mit dem großen Geschäft. Ich hatte während der letzten Stunde permanent versucht, einzuhalten. Mit Erfolg. So langsam wurde die Sache aber aber anstrengend. Immer wieder musste ich Pupsen und betete, dass das niemand mitbekam. Von Juli weit und breit keine Spur, die Kasse noch gefühlt einen Kilometer entfernt.
Wie durch ein Wunder schaffte ich es bis zu Kasse. Hektisch warf ich die Geldscheine über den Tresen, steckte das Wechselgeld ein, riss der Mitarbeiterin die beiden Tüten aus der Hand und ging quälend langsam aus dem Laden. Rennen ging nicht mehr. Ich zitterte am ganzen Körper. Ein paar Meter entfernt sah ich Juli, der auf einer Bank saß und an einem Lolli lutschte. Unsere Blicke trafen sich und wenige Sekunden später stand er neben mit. “Was ist los mit dir Paul? Du bist ganz bleich!” Meine Selbstbeherrschung reichte noch, um ihm zu erklären, dass ich seit über eine Stunde krampfhaft versuchte, meinen Darm unter Kontrolle zu behalten. “Dann los, die Toilette ist nicht mehr weit! Ich hole deinen Onkel!” Netter Versuch, Juli. Aber zwecklos. Jeder Schritt war jetzt einer zu viel. Beim nächsten Pups brachen alle Dämme. Mit einem schmatzenden Geräusch füllte ich meine Windel. Es war eklig. Aber eine unglaubliche Erleichterung. Eine gefühlte Ewigkeit später gab mein Darm endlich Ruhe. Ich schnaufte. Dann ein Moment Stille. Dann kam der Geruch. “Bleib einfach hier, wir kommen gleich!”, hörte ich Juli aus der Ferne. Er war auf dem Weg zu Onkel Phil. Erstaunlicherweise war ich weder panisch noch den Tränen nahe. Auch der Ekel war anders, als bislang. Wie unangenehm das ist, mit einer eingesauten und klatschnassen Windel in einem Einkaufszentrum zu stehen, kann man sich ja leicht ausmalen. Das war eine Sauerei allererster Güte. Vor allem für den, der das wegmachen musste. Aber, und das klingt jetzt vielleicht ein bisschen bescheuert, inzwischen hatte ich einen gewisse Erfahrung mit der Stuhlinkontinenz. Ja, ein neues Wort, das ich auf der neuen Windelverpackung gelesen hatte. Onkel Phil hatte mir noch im Laden erklärt, dass das der Fachbegriff dafür sei, dass ich eben nicht nur in die Winkel pinkelte, sondern leider mit schöner Regelmäßigkeit auch alle anderen Geschäfte da drin erledigte. Erledigen musste. Es ging einfach nicht anders. Und deshalb machte das auch nur bedingt Sinn, sich deshalb selbst zu hassen. Von den letzten vollen Windeln wusste ich, dass es jetzt nichts mehr brachte, vorsichtig zu sein. Die weiche Masse hatte sich bereits überall verteilt. Also marschierte ich zielstrebig zur nächsten Bank und lehnte mich dort so lässig wie möglich gegen die Wand. Spannend für mich selbst: Von dem Drama hatte wirklich niemand etwas mitbekommen. Die Leute beachteten mich nicht. Der eine oder andere wunderte sich vielleicht gelegentlich über den Duft, der immer mal wieder auf sich aufmerksam machte. Dass ich Quelle des Gestanks war, kam niemand in den Sinn. Meine einzige Sorge war, dass ich die Windel diesmal echt überstrapaziert hatte. Ich hatte ja nur die Strumpfhose und den langen Pulli drüber. Man würde also sofort sehen, wenn da was auslief.
“Oha, dur riechst ja heftig!”, war das erste, was ich von Onkel Phil zu hören bekam, als er mit Juli im Schlepptau anmarschiert kam. In aller Ruhe. Was mich schon ein bisschen ärgerte. Konnte er sich denn nicht vorstellen, in welcher Situation ich mich befand? Konnte er natürlich. “Aber hätte dir das was geholfen, wenn ich wie von der Tarantel gestochen hier hergesprintet wäre?” Ich schmollte. Schüttelte aber den Kopf. “Siehste. Ich hab mir sowas schon gedacht, so viele Sandwiches wie du vorhin in dich reingestopft hast. Alle schön mit Chilli-Paste. Du weißt doch, dass du das scharfe Zeug nicht verträgst, oder?” Wusste ich nicht. Oder halt. Wusste ich natürlich doch. Die Aktion beim Mexikaner auf dem Schiff. Ich war aber auch ein Volldepp. Die Woge der Erkenntnis war mir offensichtlich anzusehen. “Der Mexikaner?”, nuschelte Juli, der offensichtlich zum gleichen Schluss gekommen war? “Jepp, der Mexikaner”, beendete Onkel Phil die Denkerei. Der Rest fiel wie immer in die Rubrik: “Onkel Phils Plan”. Weil: Er hatte auf dem Weg zu mir rausbekommen, dass es im Center auch einen Wickelraum mit Dusche gab. “Und die wirst du sicher brauchen, wenn ich das richtig sehe und rieche!” Ich war echt schockiert. Warum denn Dusche? “Paul, deine Windel hängt ungefähr zwischen den Kniekehlen. Wahrscheinlich hattest du on top noch etwas Durchfall. Das kann man mit 5 Paketen Feuchttüchern bekämpfen, oder mit einer Dusche. Und genau das machen wir jetzt!” Ich schnaufte. Natürlich was das die beste Lösung. Passte mir aber nicht in den Kram. Obwohl ich nicht wirklich wusste, warum. “Wir werden allerdings 10 Minuten laufen müssen, um da hin zu kommen!”, meinte Onkel Phil. Jetzt hatte ich echt Panik. Die Augen weit aufgerissen konnte ich gerade so erklären, dass meine Windel dann ganz sicher auslaufen würde. “Weiß ich”, zuckte Onkel Phil mit den Schultern. Deshalb fährst du mit unserem Elektrowägelchen. Toller Plan. Theoretisch. Denn dazu musste ich mich ja setzen. Mit dem Ergebnis, dass ich praktisch gleichzeitig realisierte, wie sich ein großer Teil des Windelinhalts an sämtlichen Bündchen seinen Weg in die Freiheit suchte. Da hätten wir ja gleich laufen können. Half jetzt aber alles nichts. Ich spürte, wie sich die pappige Masse langsam vom Po den Rücken hochschob. Zwischen meinen Beine fühlte es sich nicht besser an. Da war es vor allem Nässe, die sich breit machte. Multi-Systemversagen. Die Windel hatte kapituliert. Das durfte doch alles nicht wahr sein. War es aber.
Der Anblick der Toilettenbereichs, vor dem wir wenigen Minuten später ankamen, holte mich dann aber schlagartig zurück aus meiner tief sitzenden Verzweiflung. Mit dem vielen Glas, den Blumen und der hellen Beleuchtung sah das fast aus, wie der Zugang zum Wellnessbereich an Bord unseres Schiffes. Links führte der Weg zu den Toiletten, rechts versperrte ein Tresen den Weg zu den Wickelräumen, Behinderten-WCs und Duschen. Onkel Phil hob mich aus dem Bollerwagen und zog mich an seiner Hand zum Tresen. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass ich den Wagen ziemlich eingesaut hatte. Zum Glück war das alles aus Plastik und abwaschbar. Ganz anders sah die Sache mit meinen Klamotten aus. Zwischen den Beinen und hinten am Po war meine Superman-Strumpfhose dunkel verfärbt. Selbst mein geliebter TKKG-Pullover war völlig durchgeweicht. Bei jedem Schritt spürte ich, wie die Sache schlimmer wurde. Ich fühlte mich elend. Half jetzt aber nichts. Am Tresen begrüßte die Mitarbeiterin des Centers uns freundlich und wollte wissen, wie sie uns helfen könne. Onkel Phil zeigte kurz auf mich und bat sie um den Schlüssel einer der Duschen. Sie brauchte nur wenige Sekunden, um bei meinem Anblick die Situation zu erfassen. “Wir haben einen großen Raum mit Dusche, Toilette und großem Wickeltisch. Der ist gerade wieder frei geworden. Ich buche sie für 30 Minuten ein. Wird das reichen? Brauchen Sie etwas? Inkontinenz-Vorlagen zum Wechseln?” Onkel Phil schüttelte den Kopf und bedankte sich freundlich. “Nein, vielen Dank. Wir haben alles!” Ich war völlig platt. Die waren ja auf alles vorbereitet hier. Und hatte die Frau nicht gesagt, der Raum sei gerade erst wieder frei geworden? Dann passierte sowas also öfter? Krass. Das war übrigens auch das erste und einzige Wort das Juli rausbrachte, als wir den großen Raum betraten, den uns die Dame zugewiesen hatte. Er war riesig, extrem schick eingerichtet, komplett gefliest und bestand eigentlich aus zwei Räumen, die durch eine halbhohe Wand voneinander abgetrennt. Links ging es zur Dusche, der rechte Teil war eingerichtet wir eine kleine Lounge mit zwei bequemen Sesseln und einer kleinen Couch, einem Tisch mit Zeitschriften. Dahinter stand ein sehr großer Wickeltisch, auf den auch ein Erwachsener gepasst hätte. Daneben eine Art Kran. “Das ist ein Hublifter”, erklärte uns Onkel Phil. Mit dem können Erwachsene oder große Kinder bequem auf dem Wickeltisch platziert werden, die nicht selbst hochklettern können!” Neben dem Wickeltisch fand sich noch ein höhenverstellbares Waschbecken und ein Toilette. Zwischen Wickelbereich, und Toilette hing ein riesiger Flatscreen, der Juli und mich natürlich magisch anzog. Okay, eher Juli. Ich wollte nur noch so schnell wie möglich aus den Sachen raus. “Tu mit bitte den Gefallen und setz’ dich nicht hin!”, meinte Onkel Phil zu mir, als er erst den Bollerwagen in einer Ecke parkte und dann Juli auf einen der Sessel kommandierte und den Flatscreen einschaltete. Der war erstmal versorgt.
Anschließend holte Onkel Phil aus einer der Schubladen unter dem Wickeltisch ein große saugfähige Unterlage und deckte damit die Wickelunterlage ab. Drüber kamen noch zwei Lagen Zellstoff von einer Rolle, die an der Wand direkt daneben angebracht war. “So sollte es gehen!”, betrachtete er schließlich sein Werk zufrieden. “Kommst du, Paul?” Ich kam. Breitbeinig und peinlich darauf bedacht, nur ja nicht noch mehr Sauerei anzurichten, “eierte” ich zum Wickeltisch. Erst als Onkel Phil mich mit einem sanften Ruck auf der Wickelunterlage platziert hatte, ließ die Anspannung langsam nach. Ohne große Hektik zog er mir die Klettstiefel aus. Sie waren so ziemlich das einzige Kleidungsstück, das die Aktion heil überstanden hatte. Dann streifte er sich Latex-Handschuhe über. Jetzt wurde es unangenehm. Dachte ich, zumindest. Onkel Phil blieb aber wie immer ziemlich entspannt. Mit einer routinierten Bewegung zog er mit den Pullover über den Kopf, der wie erwartet auf Höhe des Popos ziemlich nass geworden war. Auch das Langarm-Shirt war noch kein Problem. Erst beim Unterhemd wurde die Sache unangenehm. Der Teil des Unterhemds, der in der Hose gesteckt hatte, hatte überm Windelbund am Rücken einiges der klebrigen Durchfallmasse abbekommen. Phil rollte den Teil des Unterhemds vorsichtig nach oben und schaffte es so, mich da rauszubekommen, ohne die Sauerei weiter auf mir zu verteilen. Das Unterhemd war nicht mehr zu retten und flog kommentarlos in die große Mülltonne, die direkt neben dem Wickeltisch stand. Dann bedeutete mir Onkel Phil, dass ich mich hinlegen solle. Tat ich auch, auch wenn sich das noch schlimmer anfühlte, als zu sitzen. Nicht viel besser sah es mit der Strumpf- und Unterhose aus. Die waren nicht nur klatschnass, sondern zwischen den Beinen komplett eingesaut. Ich hatte künftig also nur noch eine der Superman-Strumpfhosen. Toll, Paul. Die eine war also keine Woche alt geworden. Blieb noch die Windel. Mit zwei schnellen Griffen waren die Klettbänder offen und der Tatort lag frei. Jetzt musste auch Onkel Phil schlucken. Es roch schlimm. Und ich konnte nur erahnen wir eklig es sein musste, die schlimmsten Spuren mit den Feuchttüchern von mir runter zu bekommen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Ich schloss die Augen und versuchte, an was anderes zu denken. Das klappte ganz gut, denn als ich wieder zu mir kam, stand ich nackt vor dem Wickeltisch und wurde von Onkel Phil in Richtung Dusche geschoben. “Mach das bitte gründlich!”, ermahnte er mich. “Duschgel und Shampoo sind in der Dusche!”. Ich nickte und verschwand. Unterm Wasserstrahl schaffte ich es langsam, wieder klare Gedanken zu fassen. Mit jeder Minute fühlt ich mich besser. Ich wusch mich sehr gründlich und verbrauchte gefühlt die halbe Tube Duschgel, die an der Wand in einem Spender befestigt war. Jetzt noch abtrocknen, dann konnte es weitergehen.
Als ich zurück zu Onkel Phil und Juli kam, war von der Sauerei nichts mehr zu sehen. Auf dem Wickeltisch lagen neue Zellstoffbahnen und ein Stapel frischer Klamotten. Offensichtlich hatte Onkel Phil tatsächlich noch ein Notfall-Set in seinem Rucksack gehabt. Meine eigentlichen Ersatzklamotten trug ja Juli. Uff. Damit war eine meine Befürchtungen unbegründet. Ich würde also nicht halb nackt durch die Gegend laufen müssen. “Na, wieder sauber?” Onkel Phil grinste. Und ich bekam auch so langsam wieder ein Lächeln hin. Ich kletterte auf den Wickeltisch, legte mich in und hob den Popo. Raus aus der Windel, rein in die Windel. Was Onkel Phil mir da allerdings unter den Hintern schob, hatte mit den Windeln die ich gewohnt war, wenig zu tun. Ich musste aber nicht lange überlegen. Das waren die, die wir vorhin gekauft hatten. Irgendwie fühlten sie sich dicker an, als meine normalen Windeln. Und fester. Aber trotzdem nicht unbequem. Auffällig war vor allem die Plastikfolie und die vier Klebebänder, mit denen Onkel Phil die Windel verschloss. nachdem er mich gründlich mit einer kühlen Windelcreme eingecremt hatte. Es knisterte leicht, als ich mich bewegte. Ich erschrak. So laut waren die Dinger? “Keine Sorge!”, griff Onkel Phil meinen Schrecken auf. Wenn du was drüber hast, hört das niemand mehr!” Das was ich drüber hatte, entsprach dann aber leider nicht ganz dem, was ich mir vorgestellt hatte. “Sorry, Paul. Aber die Auswahl ist leider nicht mehr groß!”, entschuldigte sich Onkel Phil. Unterhosen hatten wir gar keine mehr und so griff Onkel Phil in einer der Tüten, die er gekauft hatte, als Juli und ich die Overalls erstanden hatten. Er zog fünf bunte Unterhosen heraus, die ungefähr so groß wie meine Slipboxer waren, aber irgendwie unförmig aussagen. “Die sind eigentlich für die Zeit nach der OP gedacht”, erklärte Onkel Phil. “Die haben einen saugfähigen Kern und verzeihen kleinere Unfälle! Die Ärztin hat mir die empfohlen, da es nach der OP noch ein bisschen dauern könnte, bis du ganz ohne Schutz klarkommen wirst!” Ah ja. Gut zu wissen. War mir aber ehrlich gesagt jetzt egal. Ich wollte einfach was anziehen und dann ins Auto zurück. Ich war fix und fertig. Also streifte mir Onkel Phil eine hellgrüne Trainer-Unterhose über die Windel und zog mir dann die letzte Strumpfhose drüber, die wir dabei hatten. Sie war ebenso knallrot wie die, die Juli trug und mir mindestens eine Nummer zu groß. Wieder Zwillinge. Das hatten wir ja heute schonmal. Obenrum gab’s ein hellgrünes, zur Unterhose passendes Unterhemd, ein dünnes weißes Langarm-Shirt und einen gelben Bob der Baumeister-Pullover. Der war mir fast etwas zu klein, aber immerhin hatte ich was an. Dann noch die Schuhe und schon saß ich neben Juli, der mit dem Daumen im Mund vor der Glotze hockte und “Power Ranger” guckte. Erde an Juli? Es dauerte eine Weile, bis Juli wieder auf Realität umschaltete und mitbekam, dass er seinen Daumen im Mund hatte. Er zog das Ding aus dem Mund, schüttelte sich kurz und stellte dann mit Erstaunen fest, dass ich bereits wieder angezogen war. Krasser Typ. Der war ja voll weggetreten. “He, schon wieder die gleiche Hose?”, nölte er grinsend? Ich verpasste ihm einen Schlag auf die Schulter. Ich kann das tragen, spielte ich auf seine Körperfülle an. Er parierte den verbalen Schlag lässig. “Klar, inklusive der Pampers. Hast du zwei von den Dingern an?” So ein Blödmann. Aber er hatte ja Recht. Schon die normalen Windeln waren auffällig gewesen. Aber die hier konnte einfach niemand übersehen. Trotz des gewöhnungsbedürftigen Looks: Die dicke Verpackung gab mir irgendwie Sicherheit. Das Thema Toiletten-Drama war, das wurde mir jetzt bewusst, bis zur OP mehr oder weniger abgehakt. Außerhalb der Kabine oder zu Hause würde ich dir Dinger tragen und musste sie dann auch benutzen. Die Klebestreifen würde ich nie rechtzeitig aufbekommen. Keine so richtig prikelnde Vorstellung, aber immerhin eine klare Sache. Das sah offensichtlich auch Onkel Phil so, der fertig war und auf dem Sessel neben uns Platzgenommen hatte. “Paul, mit den neuen Windeln musst du entweder viel früher sagen, dass du zur Toilette musst, oder dann eben hinterher echt schnell dafür sorgen, dass dich jemand wickelt! Deine Haut ist auch so schon gereizt genug!” Ich nickte. Stimmte ja alles. Ich holte hörbar tief Luft, klopfte mir auf den Windel-Po und verkündete dann: Wird schon. Können wir jetzt los?
Hier gehts weiter – 2. Teil
Autor: Der Beobachter (eingesandt via E-Mail, exklusiv)
Diese Geschichte darf nicht kopiert werden.
Suche
Weitere Teile dieser Geschichte
- Alles wird besser, vielleicht sogar gut (12)
- Alles wird besser, vielleicht sogar gut (11)
- Alles wird besser, vielleicht sogar gut (10)
- Alles wird besser, vielleicht sogar gut (9)
- Alles wird besser, vielleicht sogar gut (8)
- Alles wird besser, vielleicht sogar gut (7)
- Alles wird besser, vielleicht sogar gut (6)
- Alles wird besser, vielleicht sogar gut (5)
- Alles wird besser, vielleicht sogar gut (4)
- Alles wird besser, vielleicht sogar gut (3)
- Alles wird besser, vielleicht sogar gut (2)
- Alles wird besser, vielleicht sogar gut (1)
Archiv
Neueste Beiträge
Neueste Kommentare
- Spaiky bei Erst gewollt und dann gezwungen (1)
- Spaiky bei Die Schwimmstunde (4)
- eagle124 bei Zwischen Gestern und Morgen (2)
- eagle124 bei Zwischen Gestern und Morgen
- Herbert bei Escortbaby (23)
- Joerg Zach bei Ally’s Pyjama Erlebnis (30)
- Julia-Jürgen bei Zwischen Gestern und Morgen
- Julia-Jürgen bei Tim im Internat (2)
Warum ist die Geschichte nun unter anderem Namen hier nochmals veröffentlicht worden ?
Wenn ich mich recht entsinne hieß diese Geschichte „Erstlingswerk“, nicht? Wenn ja frage ich mich, warum sie unter anderem namen erneut hochgeladen wurde. Wollte sich da vielleicht jemand mit der Arbeit eines anderen profilieren oder ist das nur Zufall?
Hallo kleiner Anonymus, du hast Recht!
Diese Windelgeschichte ist komplett von der Windelgeschichte ,,Erstlingswerk“ kopiert wurden.
Diese Windelgeschichte wurde am 14.08.2015 hier auf dieser Seite veröffentlicht. Der Autor ist ein gewisser Whisperer!
Dafür kriegst du von mir, die Note 6!
Lieber Administrator, ich bitte dich da drum, diese Windelgeschichte zu entfernen, da sie die Leistung und die Arbeit, eines anderen Autors ist!
Und somit, gegen den Kopierschutz dieser Seite verstoße!
Hallo Gast,
die Geschichte wurden im Original auf der WBC von besagtem whisperer veröffentlicht, allerdings nach 6 oder 7 Teilen fallen gelassen, auf dieser Seite nur bis Teil 3, die letzten Teile sind also neu und wurden nach kurzem googlen auch nicht von mir bei einer anderen Quelle gefunden.
Ist die Story nicht ein bischen zu lang ?? Wie lange brauch man um sie zu lesen xD ?
Ziemlich lange xD
Dieser Geschichte ist geklautes Eigentum in Wirklichkeit heißt sie erstlingswerk und es sind auch mehrer Kapitel die der “dieb“ alle zusammen eingefügt hat
@admin bitte löschen
Ich glaube das dass nicht die schuld vom admin is weil er sich wahrscheinlich auch nicjt alle durchliest und die lange erst recht nicht und sie einfach gepostet hat
Wie schon gesagt, hier ist nix geklaut. „Alles wird besser, vielleicht sogar gut“ wurde vor geschätzt einem Jahr in der WBC veröffentlich, wo seit der Forenunstellung aber kein neues Kapitel mehr dazukam. Die hier veröffentlichte Version ist nun allerdings wesentlich länger, ich nehme an, der Autor whisperer hat sie nach Vollendung hier veröffentlichen lassen. Find ich super! Fand es immer Schade, dass es da mit der Geschichte vermeintlich nicht weiter ging. Supi, und die zweite Hochqualitative Geschichte hier innerhalb kurzer Zeit. Daumen hoch!
Naja auch wenn jemand anders die Geschichte erweitert hätte fande ich das nicht so schlimm, ne Aufklärung vom Einsender wär nett. Ich hab nur bisl überflogen, da könnt man locker ein Buch draus machen. Ist das Ende eigentlich total offen oder ein passender Schluss? Die letzten Sätze scheinen zumindest nicht vollständig abzuschließen.
Nein es hat kein wirkliches ende leider
Schade, so schnell vorbei?
Ich hätte gerne weitergelesen, tolle Geschichte, muss ich schon sagen!
die Geschichte zu lange aber sehr interessant und würde gerne eine Fortsetzung haben. und ich finde es scheiß egal ob es geklaut ist oder nicht Wahl jede Geschichte eine eigenes Atmosphäre oder Ausstrahlung hat wenn man die liest. UND DAS IST ABER NUR MEINE MEINUNG.
Und kauf dir einen Duden!
[…] Alles wird besser, vielleicht sogar gut (1 … […]