Erstlingswerk (2)
Windelgeschichten.org präsentiert: Erstlingswerk (2) – 1. Teil
Bei der Rückfahrt von Dr. Eisenmann hatte ich nicht viel zu sagen. Ich war einfach nur sauer. Auf … ja auf was denn eigentlich? Das war so UNGERECHT. Warum konnte nicht einmal was nach Plan laufen. Statt den Urlaub mit Onkel Phil genießen zu können, stolperte ich vom einen Desaster ins nächste. Erst der Mist mit Ben, dann die Blasenentzündung. Wenn’s ganz blöd lief, durfte ich wieder mit Windeln schlafen. Ja, genau: WINDELN. So hießen diese blöden Dinger. Egal wie Doc Eisemann die nannte. Ich wollte das alles nicht. Wo ist denn so eine verfluchte Zeitmaschine, wenn man sie gerade braucht. Das klappte doch in jedem billigen Computerspiel auch. Computerspiel. Ganz falsches Thema. Diese Spielkonsole war doch Schuld an dem ganzen Schlamassel. Wie konnte man nur so blöd sein und als Elfjähriger spielsüchtig werden. Mann Paul, was bist du nur für ein Trottel. Selbstmitleid. Da war es wieder. Darin war ich gut. Und sonst so? Was kann ich denn bitteschön gut, außer Onkel Phil und meiner Mama Sorgen zu bereiten. “Hör auf damit!”, kam es plötzlich vom Fahrersitz. Äh, was bitte? Im Rückspiegel sah ich Onkel Phils warme grüne Augen. Er machte sich Sorgen. Dafür musste man kein Hellseher sein. Und er hatte irgendwie durchschaut, was mir durch den Kopf ging. “Mit was denn”, fragte ich dennoch mit gespielter Ahnungslosigkeit. “Damit, dir permanent Gedanken und Vorwürfe zu machen. Ich sehe genau, was in die Vorgeht! Und damit ist jetzt Schluss. Niemand hat Schuld. Was passiert ist ist passiert. Und wir werden das Beste draus machen. Okay, wir werden nicht Wakeboarden können. Dann machen wir eben was anderes. Wir haben noch fast drei Wochen. Und die lassen wir uns nicht kaputt machen. Nicht von Ben. Nicht von einer Blasenentzündung. Und nicht von irgendwelchen medizinischen Hilfsmitteln. Klar!?” Wahrscheinlich hätte ich jetzt “Ja, Sir!” antworten müssen. Tat ich aber nicht. Denn Onkel Phil war noch nicht fertig. “Wir machen das jetzt so: Da vorne an der Ecke kommt eine große Apotheke. Da lösen wir die Rezepte für Schmerzmittel und Antibiotika ein. Das dritte Rezept ist erstmal nicht mein Problem!” Sprach’s, und reichte mir den rosafarbenen Zettel, mit dem ich in jeder Apotheke eine große Packung Windelhosen bekommen würde. Maximale Saugstärke. Größe XS. Solche Dinger zum selbst hoch- und runterziehen. Schon beim Gedanken an die raschelnden Einlagen stellten sich mir die Nackenhaare auf. “Du hast das Rezept, du entscheidest, ob und wann wir es einlösen. Von mir wirst du dazu nichts mehr hören. Da wir das Haus regelmäßig vermieten, haben alle Matratzen Schonbezüge. Die eine oder andere nasse Nacht wird also außer einer Sonderschicht für Waschmaschine und Trockner keine Schäden anrichten!” Bämm. Er hatte es schon wieder getan. Statt mich klein und hilflos zu fühlen, ging’s mir jetzt besser. Meine Entscheidung. Mein Rezept. Und ich würde dieser dämlichen Blasenentzündung sicher nicht kampflos das Feld überlassen. In der Apotheke ging’s dann ganz schnell. Und das war auch gut so. Ich musste nämlich plötzlich extrem dringend pinkeln. Wir waren kaum die Einfahrt hochgefahren, da stürzte ich bereits aus dem Auto, den Haustürschlüssel in der Hand. Keine zehn Sekunden später hatte ich es geschafft. Keinen Augenblick zu früh. Immerhin war das Brennen kaum noch zu spüren. Das Schmerzmittel wirkte also. Trotzdem, das konnte ja heiter werden. Weil man ja sein Glück nicht überstrapazieren soll, verbrachten wir den Rest das Tages zu Hause. Ich musste einen Tag Schulstoff nacharbeiten. Außerdem wollten wir die Fotos sichten, die wir bei unserer Tour durch die Dünen geschossen hatten. Zwischendurch telefonierte Onkel Phil mit Mama und brachte sie auf den neusten Stand. Und obwohl ich ihn mit Blicken anflehte, es nicht zu tun, erzählte er ihr auch vom Windelrezept. Ihre Reaktion war klar. Sofort einlösen das Ding. So eine Entscheidung könne man doch nicht einem Elfjährigen überlassen. Nicht auszudenken, wenn die Matratzen Schaden nähmen. Und dann noch der Aufwand. “Jetzt mach dir mal nicht meinen Kopf!”, bremste Onkel Phil darauf gekonnt aus. “Paul ist durchaus in der Lage, das selbst zu regeln”. Zu Hause kannst du das dann gerne anders regeln. Hier machen wir das so, wie ich das für richtig halte. Damit was das Thema für Onkel Phil beendet. Für Mama eigentlich auch. Sie meckerte dennoch ein bisschen an der Sache herum. Willigte aber schließlich ein. Unter der Bedingung, dass sie lückenlos Bericht erstattet haben wollte. “Kein Problem”, meinte Onkel Phil. “Auch das wird Paul selbst machen! Du bekommst ab heute jeden Abend eine Mail mit einem Tagesbericht von ihm. Das Thema freies Erzählen und Orthografie steht schließlich auch auf dem Nachhilfeplan!” Mama war sehr be-, ich sehr entgeistert. “Äh, wann wolltest du mir das eigentlich sagen, Onkel Phil?” platzte es aus mir heraus, als er aufgelegt hatte. “Und seit wann darf ich eigentlich wieder an den Computer?” Onkel Phil lächelte verschlagen. “Oh, habe ich das nicht? Sachen gibt’s. Aber sehen wir’s doch mal positiv. Der Preis für den wiedererlangten Zugang zum Computer ist eine tägliche Mail nach Hause. Das halte ich für einen fairen Deal!” Er hatte das geplant. Von langer Hand. Ganz ohne bitten und betteln. Sensationell. Und sehr lehrreich.
Es wurde auch an diesem Abend wieder ziemlich spät. Das Essen ging schnell (belegte Brote, Gemüsesticks und jede Menge Dips). Aber wir spielten noch ewig mit diversen Bildbearbeitungsprogrammen rum. Onkel Phil fand meine Fotos handwerklich noch ziemlich lausig. Aber immer mit coolen Bildausschnitten. “Keine Ahnung, ob aus dir mal ein Fotograf wird”, meinte er, während er meine Tagesmail an Mama redigierte. “Aber du bist auf jeden Fall ein sehr guter Beobachter und hast einen interessanten Blick für Details! Aber, du hast eine lausige Grammatik. STR+A, ENTF. Alles nochmal von vorne!” Na toll. Mit der dritten Fassung war er dann schließlich zufrieden. Als er sie abschickte, schlief ich schon. Wieder in Strumpfhose und T-Shirt. Der Schlafanzug war zwar schon gewaschen. Aber ich hatte es einfach nicht mehr geschafft, mich umzuziehen. Ich war überhaupt nicht mehr im Bad gewesen. Und auch nicht auf der Toilette. Keine gute Idee, wie sich kurz nach Sonnenaufgang zeigte. Ich träumte mal wieder wirres Zeug. Wieder war da ein blonder Zombie mit blutgetränkter Skatermütze und schiefem Lächeln, der mit vergifteten Würsten um sich warf. Dieser dämlichen Ben musste doch irgendwann aus meinem Kopf verschwinden, zum Teufel. Tat er aber erstmal nichts. Ich rannte und rannte, bekam kaum Luft. Mein Flucht endet schließlich in einem dieser öffentlichen Toilettenhäuschen. Als sich die Tür schloss, fühlte ich mich kurzzeitig sicher. Dann rumorte es in den Eingeweiden des Plastik-Klos. “Reinigung aktiviert”, sagt eine verzerrte Computerstimme. Ach du Scheiße. Die Dinger säuberten sich nach jeder Benutzung selbst. Mit Chemikalien und Hochdruck-Wasserstrahlen. Ein Wunderwerk der Technik. Aber halt nur, wenn man es von Außen betrachtete. Jetzt war ich drin. Und hämmerte panisch gegen die Edelstahlverkleidung. Vergeblich. Mit einem Zischen öffneten sich die Abdeckklappen der Reinigungsdüsen und ich verschwand in einem Strudel aus Schaum, Wasser und grünlich schimmernder Reinigungsflüssigkeit. Immerhin war das Wasser schön warm, dachte ich bei mir, bevor mich mein Unterbewusstsein langsam zurück in die Realität entließ. Noch in den letzten Schlaf-Resten verknüpften meine Synapsen (schlafen die eigentlich nie?) dieses wohli warme Empfinden in den letzten Traum-MInuten mit dem eigentlichen, sehr realen Ereignis, das das Gefühl ausgelöste hatte. Schlagartig war ich hellwach. Nein! NEIN! Das konnte nicht wahr sein. Bitte NICHT! Mit einem einzigen Satz sprang ich aus dem Bett und stand in den ersten warmen Strahlen der Morgensonne, die sich an den Vorhängen vorbei in mein Zimmer geschlichen hatten. Es war so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Ich war vom Bauchnabel abwärts komplett nass. Die Feuchtigkeit hatte die eigentlich hellblaue Strumpfhose dunkelblau verfärbt. Bis runter zu den Knöcheln war alls klatschnass. Dort paddelte dämlich grinsend ein nerviger Clownfisch über die Maschen, über den ich mich vor Jahren im Kino kaputtgelacht hatte. Welche Ironie. Nemo musste endlich nicht mehr im Trockenen schwimmen. Witzig fand ich aber gerade gar nichts. Mir war zum Heulen zumute. MIr war schlecht. Ich eckelte mich vor der warmen Feuchtigkeit und dem süßlichen Uringeruch, der sich in der Kühle des Morgens dampfend in meinem Zimmer verteilte. Laut Panik-Plan in meinem Kopf hätte ich jetzt komplett zusammenbrechen und heulend darauf warten müssen, dasss Onkel Phil mich aus dieser Notsituation befreit. Und die Tränen flossen tatsächlich. Ja, heulen konnte ich wirklich gut. Zum allerersten Mal war da aber nicht nur Verzweiflung und Ratlosigkeit. Ein kleines bisschen Rest-Verstand weigerte sich ganz offensichtlich, hier vollgepinkelt auf den weiteren Lauf der Dinge zu warten. Es war noch längst kein Plan. Aber das konnte ja noch werden. “Hör auf damit, dir andernd Gedanken und Vorwürfe zu machen!”, hatte Onkel Phil im Auto gesagt. Na gut. Dann würde ich das mal versuchen. Ich löste mich aus der Schockstarre und spürte dabei, wie ein letzter Schwall Urin den Weg in meine Unterhose fand. Das war jetzt auch schon egal. Breitbeinig watschelte ich zu meinem Bett. Da war nichtmehr viel zu machen. Spannbettlaken, Bettbezug. Alles musste runter. Mit spitzen Fingern fummelte ich an den Knöpfen herum und schaffte es nach einer gefühlten Ewigkeit, die dicke Winterdecke von ihrer feuchten Hülle zu befreien. Beim Spannbettlaken ging’s schneller. Beides landet auf einem Haufen vor meiner Zimmertür. Scheiße, der Matratzenschoner hatte ganze Arbeit geleistet. War aber triefend nass. Also, auch runter. Bei jedem Handgriff musste ich mit dem Brechreiz kämpfen. Aber ich zog es durch. So, jetzt musste der ganze Mist nur noch ins Badezimmer, wo hinter einer halb abgetrennten Nische Waschmaschine und Trockner standen. Ich stopfte den müffelnden Wäscheberg in die Maschine. Beim Anstellen würde Onkel Phil mir helfen müssen. Aber damit konnte ich leben. Ich war gerade auf dem Rückweg in mein Zimmer um die Fenster zu öffnen und den Bettnässer-Geruch aus dem Raum zu kriegen, da öffnete sich dir Haustür. Ich zuckte zusammen und hatte doch tatsächlich kurz ein Bild des Würstchen-Zombies vor Augen. Tatsächlich war es aber Onkel Phil, der ziemlich verschwitzt vor mir stand. Ebenso überrascht und mit einem großen Fragezeichen im Gesicht. “Was machst du denn schon ….?” setzte er zu einer Frage an, brach dann aber ab und zeigte auf die feuchten Meeresbewohner an meinem Knöchel: “Übst du schonmal für unseren Ausflug ins Aquarium des Meeresbioogischen Instituts?” Wie gesagt, ich fand das ja eigentlich überhaupt nicht witzig. Musste aber trotzdem grinsen. “Geh schonmal ins Bad”, schaltete Onkel Phil schon wieder in den “Rationales Handeln”-Modus. “Ich ziehe schnell das Bett ab und lege dir frische Sachen raus!” Das sei nicht nötig, antwortete ich. Die Bettwäsche sei bereis in der Maschine, ich habe soweit alles im Griff. Stirnrunzeln bei Onkel Phil. “Wird ja langsam besser”, meinte er mit einem zufriedenen Kopfnicken. “Vielleicht sogar gut!”.
Stolz darauf zu sein, dass ein Elfjähriger sein vollgepinkeltes Bett selbst abzog und sich selber frische Klamotten aus dem Schrank holte, das wollte mir einfach nicht gelingen. Beim besten Willen nicht. Wäre wahrscheinlich auch nicht richtig gewesen. Dennoch fühlte ich mich nicht ganz so deprimiert, wie gestern in gleicher Situation. Der Blick in den Kleiderschrank war dann aber doch ziemlich ernüchternd. Keine Slipboxer mehr. Alle nass. Oder längst im Müll. Also musste ich wirklich so einen peinlichen bunten Slip und das passende Unterhemd anziehen. Grün, Gelb, Rot. Die Wahl zwischen Pest und Cholera. Also grün. Obwohl ich für diese Art Unterwäsche wirklich zu alt, aber halt noch nicht zu groß war, hatte die Situation wieder etwas Komisches. Weil: Vorne auf der Unterhose schaufelte ein Comic-Bauarbeiter fleißig ein Loch. Eine Baustelle. Leben, Schule, Blase. Alles eine einzige Baustelle. Bei den Strumpfhosen sah es nicht besser aus. Nur noch zwei, die verfügbar warein. Eine war bei der Elektronikmarkt-Aktion draufgegangen, die andere lag nass im Wäschekorb. Also, sparen. Ich griff zu meiner blauen Jogginghose und zog mein zweites Paar grauer Superman-Kniestrümpfe an. Schwarzes T-Shirt und grüner Kapuzenpulli. So konnte ich doch bitte in den Tag starten, oder?
Konnte ich nicht. Als ich nämlich in die Küche kam wartete dort kein leckeres Frühstück, sondern lediglich eine Tasse Kamillentee (würg) und der ziemlich dick eingepackte Onkel Phil. Ein Traum in Softshell und Microfasern. “Äh, ich hatte versprochen, nichts zu deiner Klamottenwahl zu sagen, Paul!”, kam es von Onkel Phil. “Aber ich weiß nicht, ob wir so weit kommen werden!?” Jetzt hatte ich das Fragezeichen im Gesicht. Hatte ich was nicht mitbekommen? Offensichtlich. Und dann fiel es mir ein. Ich hatte gerade die dritte Version von Mamas Tagesbericht in Arbeit und wieder mal nicht richtig zugehört. Mein Hirn spulte hektisch zurück. Irgendwas mit Hiking-Tour. Bunker und Aquarium. Oh. Das war heute? “Egal was du mal beruflich machst”, sprach das Softshell-Männchen lachend. “Du brauchst auf jeden Fall eine Sekretärin!” Also alles von vorn. Gemeinsam marschierten wir zurück in mein Zimmer. “Das Wetter ist fies, heute. Es ist saukalt, sehr windig. Und am Nachmittag könnte es auch noch regnen! Du packst also besser mindestens zwei Sets Wechselwäsche ein. Hab ich auch so gemacht! Und denk an den Zwiebellook! Viele Schichten übereinander, dann kann man auf unterschiedliche Temperaturen reagieren!” Stimmt. Wir sprachen darüber. Und jetzt war plötzlich auch der Plan für heute wieder da. Kleiner Morgenmarsch ins Nachbardorf. Dort wollten wir in einem gemütlichen Kaffee frühstücken. Dann weiter zu den alten Bunkern, die im zweiten Weltkrieg überall auf der Insel verbuddelt wurden. Anschließend ins Aquarum des Meeresbiologischen Instituts. Dann eine kleine Stärkung beim Burgerbrater meiner Wahl und auf dem Rückweg einkaufen fürs Abendessen. Ein volles Programm. Und über 15 Kilometer Strecke. Davor hatte ich echt Bammel. Aber vor allem die Bunker waren wohl jede Anstrengung wer. Das hatte ich gestern Abend noch im Internet recherchiert. Eng, dunkel und ein bisschen gruselig. Ich hatte richtig Schiss. Und wollte genau deshalb dort hin. Aber jetzt musste ich erstmal die ganzen Klamotten zusammenstellen. Wie aufs Stichwort kam Onkel Phil mit einem Wäschekorb ums Eck. Meine frisch gewaschenen Sachen. So ein Glück. Ich nahm eine der khakifarbenen Thermohosen und stapelte darauf ein Set Unterwäsche (gelb), die rote Notfall-Strumpfhose (Benjamin Blümchen!!), ein paar dicker Socken, ein braunes T-Shirt und einen gelben Pullover. Das war die absolute Notfall-Garnitur. Ganz unten im Rucksack. Dann eine der wirklich peinlichen Schlupfmützen und einen dunklen Schal. Dazu die alten Ski-Fäustlinge. Die zweite Garnitur bestand aus der Latzhose, dem grünen Kapuzenpulli, einem weißen Langarm-Shirt, blauem Slipboxer-Set und meiner gelben Strumpfhose, die beim Nudelmachen gelitten hatte. Obendrauf kam der wasserdichte Regenoverall. Den würde ich erst bei den Bunkern brauchen. Die eigentliche Kleidung für die Tour bestand im Wesentlichen aus einem blau/schwarzen Thermo-Overall, den mir Onkel Phil eigentlich fürs Wakeboarden besorgt hatte. Drunter eine nagelneue rote Falke Ski-Strumpfhose aus Funktionsmaterialien. Die gehörte zum Overall und machte aus einem eigentlich hochnotpeinlichen Kleidungsstück plötzlich eine cooles Outdoor-Acessoir. Die grüne Unterwäsche behielt ich an. Man musste es ja nicht übertreiben. Drüber dann ein weißer Rolli und ein blauer Fleecepullover. Eine hellblaue Mütze und neue Thermo-Softshell-Handschuhe rundeten den Auftritt ab. Ja, so machte auch ein Durchschnitts-Paul was her! Den restlichen Platz im Ruckack füllten wir mit ein paar kleinen Flaschen Wasser, eine Thermoskanne Tee, ein paar Müsliriegeln und Feuchttüchern aus. Konnte losgehen. Onkel Phil zwang mich noch, den Kamillentee runter zu stürzen. Damit ich wenigstens etwas Warmes im Magen hätte. Kann ja sein, dass das vernünftig ist. Aber entschuldigung. Wir sprechen von Kamillentee. Widerlich! Pünktlich um 6.30 Uhr verließen wir das Haus. Es war wirklich arschkalt. Das spürte man aber nur auf dem Gesicht, das von einer dicken Schicht Creme geschützt war. Fünf Kilometer hatten wir zu gehen. Durch Dünen, an Feldern entlang. Durch den dichten Morgennebel, der von der schwächlichen Herbstsonne nur in Zeitlupe vertrieben wurde. Das gab bestimmt tolle Bilder. Ich knipste, wie ein Wahnsinniger. Sowas hatte ich noch nie gesehen. Dieses Licht. Die feuchten Schafe im Nebel, die versuchten, die letzte Kraft der Sonne für ihren Start in den Tag zu nutzen. Der Wind, der würzige Duft nach Meer. “Wenn du so weiter machst, dann brauchen wir eine größere Speicherkarte!”, kommentierte der Profi-Knipser meinen Foto-Flash. Normalerweise habe ich bereitrs nach zwei Kilometern Schulweg die Schnauze voll. Aber hier vergingen die fünf Kilometer wie im Flug. Wir redeten über den Wechsel der Jahreszeiten, rechneten aus, wie lange ein Landwirt braucht, so eine riesige Weide einzuzäunen und versuchten, in dem ganzen Gestrüpp seltene Pflanzen zu entdecken. Nebenbei erzählte mir Onkel Phil die wichtigsten Regeln beim Fotografieren. Goldener Schnitt, und so. Ich habe erst kurz vor unserer Frühstückspause geschnallt, dass wir damit quasi im Vorbeigehen mein ganzes Tagespensum an Lernstoff abgearbeitet hatten. Und das hatte natürlich einen Grund.
Als wir die zum Kaffee umgebaute Scheune betraten, war ich fast traurig, eine Pause einlegen zu müssen. Wir waren echt gut in Fahrt. Die wohlige Wärme und das mitten im Raum platzierte offene Feuer erinnerten mich dann aber doch daran, dass ich eigentlich richtig Hunger hatte. Und dringend aus den Klamotten raus musste. Himmel, war das warm hier. Onkel Phil hatte längst die oberste Softshell-Schicht samt der schweren Schuhe ausgezogen und lümmelte entspannt auf einem Fellsofa. Vor ihm stand ein niedriger Tisch voll mit dem coolsten Frühstück, das ich jemals gesehen hatte. Erst jetzt erkannte ich, dass das kein klassische Café war, sondern eine Art Wikinger-Schänke. Wie cool war das denn bitte? Onkel Phil hatte mein Staunen bemerkt. “Das gehört zu einem Freilichtmuseum, das einem Wikingerdorf nachempfunden ist! Gefällt’s dir?” Mehr als ein Nicken brachte ich nicht heraus. Ich war mit dem Reißverschluss des Overalls beschäftigt. Hatte sich verhakt, das blöde Ding. So ein Mist. Wahrscheinlich wäre ich ohne Hilfe einfach geschmolzen. “Vielleicht beschäftigst du dich beim nächsten Mal etwas früher mit deiner neuen Ausrüstung”, prustete Onkel Phil. “Eigentlich ist das nämlich ganz einfach”. Und damit griff er auf Höhe meiner Knöchel zu einem weiteren Reißverschluss und zog ihn ganz nach oben. Schon stand ich linksseitig im Freien. Das ist ist praktisch, stammelte ich, während ich die Klettverschlüsse meiner Stiefel öffnete, um auch mit dem anderen Bein aus dem Overall zu kommen. Jetzt war’s besser. Und ich war nicht mehr zu halten. Überall hingen Schwerter, geschnitzte Symbole, Helme und anderes Wickinger-Zeug. Und alles sah so echt aus. Die Schwerter waren sogar richtig scharf. Dass ich nur in einer roten Strumpfhose durch ein Café flitzte, war mir in diesem Moment völlig Wurscht. Ich stellte gefühlt 10.000 Fragen, die Onkel Phil alle geduldig beantwortete. Als unsere Getränke kamen, beendete Onkel Phil meine Rennerei. “Jetzt wird gefrühstückt!” Und wie! Ich lümmelte auf der Nachbildung eines Eisbärfells und piekste mir mit einem kleinen Wikingerdolch, die Leckereien zusammen. Es war so cool! Einziger Haken: Onkel Phil hatte wirklich wieder Kamillentee bestellt. Der dampfte zwar in einem kleinen Trinkhorn stilecht vor sich hin, das machte die Sache aber nur bedingt besser. Kann ich nicht bitte einen Kakao haben, bettelte ich? Onkel Phil verzog die Augen. “Ungern. Es ist keine zwei Tage her, da hast du dir mit halbrohen Würsten den Magen verdorben. Ich weiß nicht, ob Kakao schon wieder Richtige ist! Aber bitte, du entscheidest!” Genau. Das tat ich. Mein Magen war wieder fit. Also: Kakao. Ein großer Becher. Es schmeckte herrlich! Als Onkel Phils Handy bimmelte, war das die Erinnerung, meine Medikamente zu schlucken. Tat ich natürlich. Onkel Phil hatte aber noch ein Thema, das er mit mir besprechen wollte. “Paul, ich habe mit deiner Mutter besprochen, dass du während des Urlaubs auch ein paar Besuche bei einem Spezialisten machst, der sich mit Kindern und Jugendlichen auskennt, die keine ganz leichte Zeit hinter sich haben. Erinnerst du dich?” Das tat ich. Ein Pyschotherapeut. Ein Seelenklempner. Muss ich da echt hin? Ich bin doch nicht bescheuert! “Das bist du in der Tat nicht. Aber du bist haarscharf an einer Spielsucht vorbeigeschrammt. Hast große Probleme in der Schule. Und hast irgendwo tief drin sicher noch mit dem Verlust deines Vaters zu kämpfen. Das muss irgendwo hin. Und Marc Breier, so heißt der Therapeut, kann dir dabei helfen! Der erste Termin ist heute Nachmittag! Zwei Stunden zum Kennenlernen. Im Wesentlichen werdet ihr zusammen was Basteln, Und spielen. Mehr nicht!” Hab ich eine Wahl? “Klar!” Ne, hab ich nicht. Ich weiß, dass das was Gutes ist. Aber hab keine Ahnung, was auf mich zukommt. Ich mach’s aber. “Gut”, beendete Onkel Phil das Thema. “Ich hab gewusst, dass du ein kluger Kerl bist. Manchmal!”
Also ich nach dem Frühstück ziemlich dringend Pinkeln musste und es so grade eben noch auf die Toilette schaffte, war ich erstmal froh, dass ich den Overall noch nicht wieder angezogen hatte. Das hätte ins Auge gehen können. Oder in die Hose. So langsam nervte mich dieser Blasenscheiß. Außerdem rumorte mein Magen. Erstmal nicht weiter schlimm. Aber vielleicht war das Riesenfrühstück mit Riesen-Kakao doch keine ganz so glänzende Idee. Egal. Ich wollte jetzt zu den Bunkern. Ein paar Minuten später zogen wir weiter durch den kalten, aber klaren Herbstwind. Die frische Luft tat gut, durch die Bewegung schien sich auch mein Magen wieder zu beruhigen. Na bitte, geht doch. Keine halbe Stunde später blieb Onkel Phil vor einer kleinen Düne stehen. “Wir sind da!” Bitte was? Wie jetzt? Wo ist denn hier bitte ein Bunker? “Wart’s ab!” Wir gingen hinter die Düne und da war tatsächlich ein sorgfältig ausgeschachteter Einstieg. Sehr eng, sehr dunkel. Aber sehr cool. Ein Hinweisschild wies darauf hin, dass das Betreten auf eigene Gefahr und nur mit geeigneter Ausrüstung erlaubt sei. Es sei verboten, die mit Leuchtfarbe markierten Bereiche im Bunker zu verlassen! Alles klar. Begriffen. Die passende Ausrüstung hatte Onkel Phil im Rucksack. Helme und starke Taschenlampen. “Wir steigen hier ein. Nach der ersten Biegung kommen wir auf der rechten Seite in einen großen Raum, der relativ gut erhalten und als Aufenthaltsbereich markiert ist. Da ziehen wir dann die wasserdichten Overalls an.” Alles klar. Onkel Phil kroch voraus. Eine Minute später gab er mir mit der Taschenlampe das Zeichen, nachzukommen. Mein Herz schlug bis zum Hals, als ich erst meinen Rucksack und dann mich selbst durch den engen Einstieg schon. Ungefähr bei der Hälfte kam die Panik hoch. Bis auf das kleine Licht der Taschenlampe vor mir war es stockdüster. Es roch muffig, nach abgestandener Luft, Feuchtigkeit und Verderben. Ich war kurz davor, abzubrechen. Was tat ich hier eigentlich? Ich musste doch bitte nicht den Helden spielen! 30 Sekunden später war alles vorbei. Onkel Phils starke Hand zog mich in einen erstaunlich hohen Durchgang und stellte mich auf die wackligen Beine. “Atmen, Paul! Respekt, dass du nicht aufgegeben hast. Der enge Durchgang hat schon viele Erwachsene zur Kapitulation gezwungen!” Oh, echt jetzt? Sofort kam ein Teil meiner Neugier zurück. Ein ein bisschen Selbstbewusstsein. Ich knipste meine Stirn- und die Taschenlampe an und folgte Onkel Phil um die erste Biegung. Krass. Ein gigantischer Betonkeller. Voller Graffiti, eingeritzten Symbolen und diversen Anweisungen, die noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammten. Gruselig. Nach dem Rechtsknick öffnete sich ein großer Raum, dessen Eingang tatsächlich mit fluoreszierender Farbe markiert war. “Bunker-Basis”, stand in Großbuchstaben über dem zwei Meter dicken Türsturz. In den massiven Angeln hing eine mindestens so dicke Stahltür, die sich wahrscheinlich nie wieder auch nur einen Millimeter bewegen würde. Die “Basis” war in der Tat nur ein großer Raum, die gesamte “Ausstattung” bestand aus Sitzbänken, ein paar Metalltischen und Metallschränken, die mit Vorhängeschlössern verschlossen werden konnten. Aus einer Alu-Box nahm Onkel Phil ein schwarzes Heft heraus, in das er unsere Namen, Datum und Uhrzeit eintrug. “Das Bunker-Buch muss von jedem ausgefüllt werden, der hier reinkommt. Reine Sicherheitsmaßnahme. Abends wird überprüft, ob alle, die sich eingetragen, sich auch wieder ausgetragen haben!” Gar nicht mal so doof, dachte ich mir. Anschließend schälte sich Onkel Phil aus zwei Schichten Thermoklamotten und streifte einen gelben wasserdichten Overall über. Hier unten war es verhältnismäßig warm. Da war es kein Problem, ein wenig vom Wärmepanzer abzulegen. Ich braucht natürlich wieder eine gefühlte Ewigkeit, bis ich aus dem Thermooverall raus war. Aber immerhin klappte es ohne Hilfe. Mein Regenoverall war leuchtend Rot. Man würde uns beide also auf keinen Fall übersehen können.
Der Rest war das coolste, was ich in meinem gesamten Leben mitgemacht hatte. Wir gingen, kletterten, krabbelten, krochen und wateten durch ein nie enden wollendes Gewirr aus Gängen, Räumen und Spalten. Ohne die Markierungen hätte ich bereits nach der zweiten Abzweigung völlig die Orientierung verloren. Ich redete wie ein Wasserfall. Stellte Fragen zur Bewaffnung der Tunnel, dem Verlauf des Krieges, dem Leben unter der Erde und so ziemlich allem, was man eben nicht im Geschichtsunterricht lernt. Onkel Phil geb geduldig Auskunft. Als er mit einem Blick auf seine Uhr dann verkündete, dass wir uns jetzt auf den Rückweg machen würden, wurde ich fast schon sauer! Jetzt schon? Gerade wo’s Spaß macht! “Wir sind seit etwas mehr als zwei Stunden hier drin. Bis wir raus sind, wird es Mittag sein!” Oh, echt? Krass, wie die Zeit vergeht. Also Rückweg. Ich war inzwischen Bunker-Profi und hatte keine Scheu mehr, mich durch enge Lücken zu zwängen oder ins Dunkel zu greifen. Zurück in der “Bunker-Basis” ließ die Anspannung langsam nach. Das Adrenalin in meinem Körper wurde abgebaut. Und schlagartig meldete sich meine Blase. Scheiße. Bitte nicht jetzt! Onkel Phil, ich muss dringend Pinkeln, rief ich panisch. “Im Nebenraum gibt’s zwei Camping-Toiletten. Rein mit dir!” Er zeigt durch einen niedrige Tür. Ich fummelte am Reißverschluss des Overalls herum, sprintete los und blieb noch in der Tür wie angewurzelt stehen. “Was ist, war’s doch nicht so dringend?”, frage Onkel Phil, der gerade aus seinem ziemlich dreckigen gelben Überzug stieg? Mein “Nein” ging in einem Schluchzer unter. Es war zu spät. In dieser Sekunde pinkelte ich mir in die Hose. Ich presste meine Hand gegen den Schritt und wollte, dass es aufhört. Es war ein jämmerlicher Versuch, der natürlich scheiterte. Ich konnte es einfach nicht stoppen. 30 Sekunden später sank ich auf die Knie. Tränen suchten lautlos ihren Weg über mein Gesicht und tropften auf den roten Overall, wo sie schmutzige Schlieren zogen. Onkel Phil war sofort bei mir. Wie immer, stellte er nicht viele Fragen. Er schob mich zu einer der Sitzbänke und schälte mich erstmal aus dem Overall. Der war nass. Außen und innen. Ich hatte ganze Arbeit geleistet. Shirt und Pullover hatte ich in die Strumpfhose gesteckt. Mit dem Ergebnis, dass jetzt alles nass war. Routinert zog Onkel Phil mir erst die Schuhe, dann die Strumpfhose aus und stellte mich dann auf ein Handtuch, dass er neben mich auf die Bank gelegt hatte. “Phil, du musst aus den Sachen raus! So warm ist es hier unten auch wieder nicht! Zieh jetzt bitte den Pulli und den Rolli aus. Ich hole die Ersatzkleidung!” Ich funktionierte wie ein Roboter. Ferngesteuert. Schließlich stand ich nur noch in der nassen Unterhose da. Mr. Bauarbeiter budelte immernoch. Langzeit-Baustelle. Als Onkel Phil mit der Latzhose, dem grünen Kapuzenpulli, einem weißen Langarm-Shirt, blauem Slipboxer-Set, meiner gelben Strumpfhose und den Feuchttüchern zurückkam, legte er die trockenen Sachen neben mich und begann, die eingesauten Klamotten in einen blauen Müllsack zu stopfen, in dem sich bereits sein Overall befand. “Ich gehe jetzt kurz nach hinten, damit du dich mit den Feuchttüchern grob saubermachen und frische Unterwäsche anziehen kannst! Soll ich dir beim Rest helfen?” Ich nickte. Wenige Augenlicke später war er zurück. Ich hockte auf der Bank. In frischer Unterwäsche und mit der gelben Strumpfhose in der Hand. Verzweiflung in den Augen. Die coole Funktionsunterwäsche. Alles versaut. Warum passiert mir das? Warum denn jetzt auch am Tag? Onkel Phil arbeitete strukturiert das Programm ab. T-Shirt und Pulli anziehen. Dann die Strumpfhose. Statt der Latzhose steckte er mich wieder in den Thermooverall. Zum Schluss Schuhe an, Rotz aus dem Gesicht putzen und das restliche Chaos beseitigen. Insgesamt hatte das ganze Drama keine 15 Minuten gedauert. Für mich fühlte es sich an wie eine Ewigkeit. “Paul, komm jetzt bitte wieder runter. Dr. Eisemann hat gesagt, dass genau das passieren kann. Jetzt ist es passiert. Und es ist echt keine Riesen-Sache. Aus genau diesem Grund hat man Wechselklamotten dabei! Mach dich jetzt fertig, wir machen uns jetzt auf den Weg zurück an die Oberfläche!”
Die frische Luft und der kalte Wind brachten wieder etwas Ordnung in das Chaos in meinem Kopf. Onkel Phil verordnete uns vor dem Eingang eine kurze Snack-Pause. Müsliriegel und Gummibärchen. Zucker macht glücklich. Mal sehen, ob’s klappt. Tat es. Zumindest ein bisschen. Wasser und Tee rührte ich nicht an. Und kassierte dafür auch postwendend einen Rüffel. “Doc Eisenmann hat betont, wie wichtig es ist, dass du viel trinkst. Du hast die Wahl: nichts mehr Trinken und die Entzündung nie los werden, oder Vernunft annehmen, trinken und eventuell den einen oder anderen Unfall zu riskieren!” Er hatte ja Recht. Das wusste ich. “Du warst heute super-mutig, Paul! Du bist durch einen Bunker gekrochen, in den sich viele Erwachsene im Leben nicht reintrauen würden! Und das Malheur zum Schluss haben wir doch super in den Griff bekommen, oder? Also für mich war das ein durch und durch erfolgreicher Nachmittag!” Und wieder hatte er Recht. Alleine die Bunker-Story würde locker fünf Seiten im Tagesbericht füllen. Das war so krass! Und trinken musste ich jetzt eh etwas. Die nächste Medikamenten-Ration stand an. Eine Flasche Wasser später hatten wir bereits die Hälfte der Strecke zum Aquarium hinter uns gebracht. Mein Magen fühlte sich nach wie vor nicht ganz gesund an. Kein Wunder. Erst das Frühstück, dann die Aufregung im Bunker. Egal. Im Aquarium würden wir die erste Hälfte des Tages entspannt ausklingen lassen. Nach der nächsten Biegung kamen dann auch das Ziel unserer Tour in Sicht. Das Aquarium des Meeresbiologischen Instituts. Ein eigentlich unscheinbarer Betonbau, der aus der Düne zu wachsen schien. Bunte Fahnen flatterten im Wind. Auf dem Parkplatz standen nur wenige Autos. Noch gut 200 Meter. Ich legte einen Schritt zu. Der Magen. Ich wollte vor dem Rundgang auf jeden Fall noch aufs Klo. Nein, ich wollte nicht, ich musste. Soweit aber noch alles im Grünen Bereich. Das Problem. Der Eingang lag auf der anderen Seite. Man kam nur über den Strand ins Museum. Jetzt wurde es aber langsam dringend. Geschafft. Während Onkel Phil die Tickets löste, folgte ich einem Leuchtschild zu den Toiletten im Keller. So lange ich in Bewegung blieb, war alles kein Problem. Pobacken zusammenkneifen, dann wir das schon klappen.Tat es nicht. Als ich unten ankam, trennten mich nur noch die letzte Stufe und wenige Schritte von der rettenden Toilette. Letzte wurde mir zum Verhängnis. Schritt zu kurz. Kein Halt mehr. Zu viel Schwung. Meine linke Hand griff suchend ins Leere. Ich knallte mit einem leisen “Uff” der Länge nach hin, schrammte mit dem Kinn über den Boden. Stille. Im Kopf. Und im Keller. Offensichtlich nicht viel passiert. Auf ein paar blaue Flecken hin oder her kam es jetzt auch nicht mehr an. Ich wollte mich gerade aufrappeln und verlagerte das letzte bisschen Konzentration auf einen einigermaßen würdevollen Bewegungsablauf. Ganz großer Fehler. Die Konzentration fehlte nämlich jetzt an anderer Stelle. Noch während ich dies realisierte, verschwand sämtliche Farbe aus meinem Gesicht. Ich hatte mich gerade auf den Knien aufgerichtet, das explodierte mein Darm. Mit einem Schmatzen, das man wahrscheinlich bis nach New York gehört haben musste, suchte sich mein mühsam im Zaum gehaltener Darminhalt einen Weg nach draußen. Es gab nichts mehr, was ich tun konnte. Durchfall allererster Güte. Die weiche, teileweise dünnflüssige Massen verteilte sich schlagartig. Nur Augenblicke später spürte ich, wie sich Teile davon der Schwerkraft folgend ihren Weg an meinen Oberschenkeln herunter suchten. Ich zitterte am ganzen Körper. Die totale Erniedrigung. Schock, Ekel, Scham, Hass. Auf mein Leben. Auf mich selbst. Auf Ben. Ohne diese Arschgeige wäre das alles nicht passiert. Dann Panik. So konnte ich hier nicht bleiben. Das durfte niemand mitbekommen. Ich sprang auf. Dadurch verteilte sich die Masse noch schneller. Ich wimmerte. Onkel Phil, bitte hilf mir. Bitte!
Er fand mich wenige Minuten später. Ich kauerte neben einem Getränkeautomaten, der in einer Kellernische vor sich hinbrummte. Von der Treppe aus war ich fast unsichtbar, konnte aber meinerseits ziemlich gut sehen, wer da runterkam. Zwei Jungs waren vor Onkel Phil nach unten marschiert. Sie hatten mich nicht entdeckt. Als ich Onkel Phils Stiefel auf der Treppe erkannte, reichte ein kurzes “hier”, um ihn auf mich aufmerksam zu machen. Aber wahrscheinlich hätte er mich auch so gefunden. Der Geruch, der mich umgab, war eindeutig. Und wegweisend. “Wie schlimm ist es?”, fragte er, als er sich zu mir herunterbeugte. Mein leerer Blick war Antwort genug. “Scheiße. Bleib hier und beweg’ dich so wenig wie möglich. Ich finde eine Lösung. Hörst du! Wir kriegen das hin!” Und er bekam es hin.
Fünf Minuten später stand er mit einem Schlüssel zurück, an dem ein Korkanhänger mit einem Rollstuhl-Emblem baumelte. “Das Museum hat einen gut ausgestattetes Badezimmer für Rollstuhlfahrer und Menschen mit Behinderung. Das trifft zwar auf dich nicht zu, aber das hier ist ja wohl ein Notfall, oder? Wir müssen aber wieder nach oben! Schaffst du das?” Ich nickte. Laufen ging ja noch. Und meine Klamotten würden wir eh komplett verbrennen müssen. Zwei Stockwerke höher führte Onkel Phil mich in das riesige Badezimmer, in dem sich neben einer tiefen Toilette mit diversen Haltgriffen noch ein höhenverstellbares Waschbecken und ein großer Tisch befand, der mit einer großen weichen Gummiauflage bespannt war. “Wickeltisch”, beantwortete Onkel Phil die Frage, die ich gar nicht gestellt hatte. So groß? “Paul, es gibt genügend Menschen, die aus medizinischen Gründen auf Windeln oder Einlagen angewiesen sind. Die müssen sich ja irgendwo umziehen!” Beim Satz mit den “medizinischen Gründen” viel bei mir der Groschen. Ich traf eine Entscheidung. Aber vorher musste ich aus den versauten Kleidern raus.
Das erste Mal hatte Onkel Phil keinen kompletten Plan. “Lass mich kurz überlegen, wie wir das so elegant wie möglich hinbekommen…”. Am Waschbecken fand er eine Packung mit Einweg-Handschuhen. Die konnte er sehr gut gebrauchen. “Erstmal, den Overall aus. Vielleicht ist der noch zu retten”. War er tatsächlich. Auch wenn das Teil sicher zwei Vollwaschgänge brauchen würde. Der Löwenanteil hing wirklich in der gelben Strumpfhose. Und auch die Slipboxer hatte viel weggesteckt. Beide waren jetzt aber endgültig nicht mehr zu retten. Schlimm war, dass ich mich neben den Getränkeautomaten gesetzt hatte. Dabei war ein Teil der Masse Richtung Rücken gedrückt worden. Also waren auch Shirt und Kapuzenpulli reif für die Tonne. Onkel Phil war großartig. Strumpf- und Unterhose bekam er ziemlich gut von mir runter. Er war so einiges gewohnt, aber hier musste selbst er immer wieder würgen. Shirt, Pulli und Unterhemdn waren eine echte Herausforderung. Über den Kopf ziehen? Ausgeschlossen. “Sorry Paul, das geht jetzt nicht anders” Aus seinem Rucksack zauberte er eine Schere und schnitt Schicht für Schicht an der Seite auf. So konnte ich alles wie eine Jacke ausziehen, ohne die Masse weiter zu verteilen. Bis auf den Overall wanderte alles in einen leeren Müllsack und dann weiter in einen großen Mülleimer mit Deckel, der neben dem Tisch stand. Darin lagen zwei ziemlich große Windeln. “Scheint gut besucht zu sein, der Raum”, versuchte Onkel Phil die Situation aufzuheitern. Blieb die Unterhose. “Ich weiß, dass du dich schämst. Ich werde dir deshalb nur helfen, wenn du einverstanden bist!” Natürlich war ich das. Und so trat Onkel Phil hinter mich und Schnitt mit der Schere erst die eine Seite der Slipboxer auf, dann die andere. So konnte er das Stück Stoff wie eine Windel hinter mir rausziehen. Was zurückblieb, bot ein schlimmes Bild. Und es gab hier keine Dusche. Also musste es mit Feuchttüchern gehen. Zum Glück hatten wir die ganze Packung mitgenommen. Und die brauchten wir bis zum letzten Tuch. Ich war wirklich wieder sauber. Fühlte sich fast an, wie frisch geduscht.Ich roch ein bisschen nach Babylotion, aber das war jetzt auch egal. Onkel Phil legte kurz darauf das letzte Set Klamotten auf den Wickeltisch: Gelbe Unterwäsche, die rote Notfall-Strumpfhose, das braune T-Shirt, den gelben Pullover und die Latzhose, die wir im Bunker nicht gebraucht hatten. “Kuck, wir haben zur Not immer noch eine Hose übrig” meinte er, während ich mich anzog und er den Raum wieder auf Vordermann brachte. Sehr witzig. Was hier gerade passiert war, roch ein Blinder mit Krückstock. Aber sehen konnte man es eben nicht. Ich war sogar wieder absolut vorzeigbar und roch richtig gut. Cool war anders, aber vorzeigbar. Ich war am absoluten Tiefpunkt angekommen. Aber ich hatte eine Entscheidung getroffen und wusste, dass ich mich immer auf Onkel Phil verlassen konnte. Und auch wenn es sehr abgedreht klingt, ich fühlte mich gar nicht mal so schlecht. Ab jetzt konnte es nur besser werden. Ich fiel ihm um den Hals. Okay, ich umarmte seine Hüfte. Größenunterschied, und so. Er streichelte mir über den Rücken und wunderte sich nicht wirklich, dass ich keine große Lust mehr aufs Aquarium hatte. Außerdem musste ich ja noch was erledigen.
Autor: Whisperer (eingesandt via E-Mail)
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