Das was bleibt (3)
Dieser Eintrag ist Teil 3 von 3 der Serie Das was bleibt Windelgeschichten.org präsentiert: Das was bleibt (3)
KAPITEL III
# Die erste Nacht
Diese Geschichte ist für all die, die nur ein bisschen träumen. Oder die nicht besonders oft träumen. Oder die sich nicht mehr so recht erinnern können, wie sich Träume anfühlen. Eigentlich ist es für uns alle hier.
Denn wir alle glauben immer noch, dass das Träumen nichts für uns ist.
So geht es Jule und auch Anne, die beiden ungleichen, mutigen Heldinnen, die weder sich selbst noch ihre momentane Lebensphase so richtig leiden können.
Sie ist für uns alle, denen es nicht gefällt, sich so schlecht zu fühlen.
Jule und Anne lernen das in dieser Geschichte durch eine zufällige, wundersame Begegnung. So belebend wundersam, dass sie selbst kaum daran glauben können.
Eine Erzählung über Umwege und eigene Wege. Und über das Suchen, Finden und Werden. Aber vielleicht lest ihr selbst und allen viel Spass dabei. ………..Soe
*****************************
Mit großen Dank an
Windelspiel
und meiner Omi, die dieses
Kapitel besser nicht lesen sollte.
Kapitel III
Donnerstag. 01.04.82
# Die erste Nacht
Und dann begann der erste gemeinsame Abend, und ganz sicher konnte sich keiner von uns schon da vorstellen, dass wir weinen würden, wenn ich nach den Ferien wieder abreisen würde.
Pünktlich um 18:00 Uhr klingelte es an Annes Haustür. Jutta sprang direkt auf und übernahm den Empfang für Anne.
Die Lautstärke und Stimmengewirr im Flur wurden deutlich höher. Jutta kam mit zwei weiteren Frauen im Schlepptau zurück. Jutta rief Anne unüberhörbar aus dem Flur zu: „Erika und Anita sind schon da!“ „Hallo ihr beiden, ich komme gleich, setzt euch doch schon mal, ich mache nur noch schnell die Kleine fertig!“
„Jutta könntest du dich bitte um die Getränke kümmern?“, rief ihr Anne zu. „Bin schon dabei erwiderte Jutta!“
Ich war immer noch nicht wirklich angezogen und fertig. Ich stehe mit meiner, rosa Mädchen-Pampers extra, den bunt gesäumten Stoffwindelneinlagen, dem alten Septa-Gummihöschen und meiner geliebten türkisblauen Unterwäsche vor Anne auf der Wickelinsel und warte auf ihre Anweisung.
„Setz dich bitte Maus, damit ich dir die Strumpfhose und das Höschen anziehen kann.“ Schnell hatte Anne die Strumpfhose und den Bloomer mir über den Po gezogen. „Deine Ärmchen bitte und winken Schatz“ , das passende grüne Hängerchen, mit den gelben Röschchenranken, zog sie mir schnell über den Kopf. „So, bitte noch mal drehen, damit ich dir die Knöpfe schließen kann.“
„Du bist fertig, Maus. „Lass dich mal ansehen.“ , sagte Anne noch.
„Das steht dir so gut, dieses grüne Hängerchen“ ,schwärmte mich Anne mit strahlenden Augen an. Mit einem Kuss auf die Stirn wollte sie mich ins Esszimmer schieben.
„Halt, halt, ich brauche meine Selma noch!“, protestierte ich.
„Wo ist sie denn nur“, fragte ich panisch?
„Ich habe sie eben auf das Kissen gesetzt“, hauchte Anne mir zu.
„Schau, da ist sie doch!“
Anne reichte mir Selma, die ich direkt fest an mich drückte, so als könnte sie mich vor allen Aufdringlichen und Bösen beschützen. Meine Angst wuchs mit jedem Schritt in Richtung Esszimmer, weil ich überhaupt nicht abschätzen konnte, was mich jetzt erwarten würde. In meinen Gedanken und Überlegungen fand ich keinen Ansatz dafür, was ich jetzt zu tun hatte. Anne bemerkte meine zunehmende Unsicherheit, strich mir über den Arm und rückte näher an meinen Rücken heran. Mit leiser Stimme sprach Anne zu mir, „ich bin doch auch noch da!“
Meine Gedanken liefen im Kreis und ich konnte sie nicht wirklich aufhalten. So lange hatte ich von einer ähnlichen Situation geträumt und gewartet und jetzt, wo ich mich wirklich in einer solchen, von mir herbeigesehnten Situation befand, fühlte ich mich nur noch falsch und albern.
Ein Junge in einer niedlichen, kurzen Mädchenkombination, der vor einer Handvoll erwachsener, strickender Frauen stand.
Kurz hatte ich die Idee einfach alles auszuziehen und mich zu erklären. Aber was dann? Ich wusste ganz genau, dass diese Gedanken, Gefühle und Träume nicht wirklich aufhören würden. Ich würde mich immer wieder in Sie flüchten und es würde vermutlich wieder das Bedürfnis in mir wachsen, alles auszuleben, obwohl ich noch nicht wusste, wie es sich wohl in der Realität anfühlen würde.
Aber dann war da auch immer die große Hoffnung in mir. Was, wenn sich mein aktueller Zwiespalt und meine Einstellung durch die Osterferien bei Anne ändern würde, hin zu dem, was ich wirklich in mir spürte und fühlte? Dass es nach einer Weile und etwas Übung und Gewöhnung vielleicht doch noch so wird wie in meinem Kopf.
Darüber und über mein ganzes Dilemma wurden meine Wangen rosa und mir liefen plötzlich die Tränen. Mit trüben Augen schaute ich mich panisch nach Anne um, die immer noch hinter mir stand und ihre warmen, zarten Hände mit ihren roten Fingernägeln um meine Hüften legte. Hatte Anne die Scham und Unentschlossenheit in mir gespürt und wie würde Sie mir jetzt helfen, diese neue Situation zu überwinden und auf welche Weise reagierten ihre Freundinnen auf mich?
Als mich Anne kurzerhand auf den Arm nahm, fühlte es sich so vertraut und sicher an. Sofort vergrub ich meine Nase in ihrer Halsfalte und es ging mir dann auch sofort sehr viel besser. Dabei streichelte Anne die ganze Zeit meinen Rücken und tätschelte beruhigend meinen Windelpo. Die Zweifel und die kreisenden Gedanken waren so ziemlich schnell verschwunden und ich fühlte mich schon deutlich besser.
Nur ein wichtiger Gedanke stieg nun dabei langsam in mir hoch – welches Alter sollte und konnte ich jetzt nur glaubhaft spielen und einbringen. Mir rutschte bei dem Gedanken das Herz in die frischen Windeln, als sie mich zurück auf die Füße stellte. Anne nahm meine Hand und ich hatte Selma in der Anderen.
So ganz allein wollte ich nicht zu den noch fremden Freundinnen von Anne gehen.
Erika hatte bleistiftschmale Lippen. Durch ihre rundliche, kleine Figur konnte man vermuten, dass sie sich ungern mit sportlichen Hobbys umgab. Selbst Anne war fast einen ganzen Kopf größer und um viele Zentimeter schlanker als Erika. Ihr blaues Baumwollkleid trug sie wie einen Kaftan, weit und weniger Figurbetont. Die kurzen, schwarzen Haare trug sie als Meckischnitt und ihre Lesebrille baumelte ähnlich wie mein Geldbeutel vor ihrem Bauch. An ihren Ohrläppchen hingen dicke, knopfgroße, schwarze Steine.
Anne sprach mir noch leise in mein Ohr: „Ich hoffe, deine Angst und Bedenken legen sich schon bald!“ Mein Herz schlug mir dennoch gerade bis hoch zum Hals. Jetzt konnte ich mich leider nicht mehr hinter Anne verstecken.
Anne schob mich einfach vor den Tisch und ich blieb steif wie ein Brett stehen. Ich wollte sofort unsichtbar werden, hatte aber real in Wirklichkeit keine andere Wahl als mich im Rampenlicht zu zeigen.
Ich mochte es noch nie, wenn mich viele Augen anstarrten. Die Blicke waren aber nur neugierig und freundlich. Eine blonde Frau; Anita, wie sich später herausstellt, stand sofort auf und kam auf mich zu. „Ich bin Anita!“ sagte sie und hielt mir direkt ihre ausgestreckte, hagere Hand hin.
Jetzt musste ich meinen Mund aufmachen.
„Ich…ich bin Jule.“ Dabei machte ich einen ordentlichen, tiefen Knicks.
Anita riss ihre grasgrünen Augen weit auf, „hui, hui….das ist ja eine wirklich süße Begrüßung. Willkommen in Adersloh“, dabei zwinkerte sie mir zu.
Komm ruhig näher, wir beißen nicht, sprach Erika schmunzelnd, vertieft in ihre Stricknadeln und blieb wie angewurzelt sitzen. Sie hatte schon zwei Nadeln in der Hand und klackerte sehr schnell damit. Drei unterschiedliche blaue Wollfäden zappelten über ihre Finger und verschwanden in einer runden Schlauch. Meine Augen müssen ziemlich neugierig auf sie gewirkt haben.
„Das wird ein Röckchen für meine sechsjährige Enkeltochter“, sagte Erika mit ihrer sehr rauen Stimme, ohne dass ich eine Frage gestellt hatte. Mit ausgestreckten, langen Armen hob sie ihr Ergebnis, freudestrahlend in die Luft. „Ich habe erst um 14:00 Uhr damit angefangen und werde bestimmt heute auch noch damit fertig.“
„Dann kannst du ja zaubern, plapperte ich einfach los.“
„Ich möchte meiner Selma auch gerne bald etwas schönes stricken.“
„Gugg, ihr Kleid ist schon voll oft geflickt und ganz, ganz alt.“
Dabei hielt ich ihr Selma mit ausgestreckten Armen fast bis unter ihre kleine Nase.
„Ja, das Kleidchen sieht ja ziemlich ramponiert aus, da muss bald mal was Neues her – vielleicht sogar im Partnerlook- du und Selma in den gleichen Kleidchen?“, schmunzeln mir ihre offenen, schmalen roten Lippen entgegen. Meine Augen leuchten dabei vor Freude und ich fragte sofort, „kannst du mir das vielleicht dann mal zeigen, wie man sowas strickt. Das ist ja voll viel Arbeit,“ lasse ich die Frauen noch vorlaut wissen.
Ich hielt Selma die ganze Zeit fest, als wäre Sie mein einziger Besitz.
„Wie alt muss ich denn sein, damit ich das Stricken auch lernen kann?“, fragte ich völlig naiv und überdreht.
Erika verschluckte sich fast und schüttelte sich vor Lachen. Nach ihrem Hustenanfall sagte sie: „Stricken kann man fast immer lernen, da braucht man kein spezielles Alter! Du musst nur zählen und die Nadeln halten können. „So einfach ist das!“
„Mehr nicht?“, und ich dachte, das ist ja voll schwierig und anstrengend.
„Alles was man gerne macht, ist total einfach!“……erklärte mir Erika.
Ich fasste noch einmal meinen ganzen Mut zusammen und fragte Erika: „Aber wie kommen Dir denn die ganzen Zahlen, tollen Farben und Muster in den Kopf?“
„Ist das gerade echt passiert,?“ fragte ich mich im Gedanken. Ohne große Angst und Schüchternheit, hatte ich einfach angefangen zu plappern. Ich war von mir selbst überrascht.
Verschrocken verstecke ich mich trotzdem hinter Selma und Anne, um ihre Strickfreundinnen aus der Entfernung zu beobachten. „Wir können sofort beginnen“, sagte die rundliche Erika, „ich zeige dir noch welche anderen Farben ich für dich noch habe!“ Ich spüre wie sich meine Gedanken die Farben Lila, Flieder und Rosa wünschen, dabei bemerke ich wie mir vor Aufregung die Wärme zwischen meine Schenkel läuft.
Dann zieht Erika mit ihren kurzen Armen ein Knäuel Sonnengelb und je ein Knäuel Tannengrün und ein leuchtendes Grasgrün aus ihrem Weidekörbchen hervor, und hält es vor sich hoch. Im Anschluss sagt sie – „tolle Farben für Minis, wirklich sehr süß!“ „Na, was meinst du dazu Jule?“ Ich spüre, wie mir der Hals trocken wird und fange an zu stottern. Gerade als ich antworten möchte, tritt Anne an meine Seite und übernimmt für mich – „das wird bestimmt ein sehr hübsches Duo, aber lasst uns damit bitte bis nach dem Essen warten!“
Enttäuscht schaue ich zu Anne hoch, nicke aber sofort zustimmend. Erika kneift nur die Augen zusammen und nickt auch.
Ich versuchte, dass sich meine Stimme kindlich, aber nicht zu quietschig anhörte. ….. Durch die angeborene Unterfunktion meiner Schilddrüse klang meine Stimme sowieso schon immer sehr dünn, hoch und piepsig. Die Jungs in meiner früheren Klasse mochten meine hohe Stimme nicht und meinten immer, du gehörst nicht zu uns. „Mach dich einfach rüber zu den Mädchen, wo du Bambi hingehörst!“
Und die Mädchen glaubten immer, dass ich wegen meiner sehr hohen, hellen Stimme und geringen Größe noch viel zu kindisch war.
Bettina, eine andere gute Freundin von Anne, klingelte etwas später und hatte zwei riesengroße Taschen mit Kindersachen dabei. Stöhnend stellte sie ihre vollen Taschen direkt am Eingang vom Esszimmer ab.
„Das so ein Zeug auch immer so schwer sein muss!“ „Gut daran ist, dass ich jetzt wieder viel mehr freien Platz in meinen Schränken habe und dir etwas Gutes tun kann, Anne!“
Sie blieb stehen und musterte mich freundlich: „Du bist also Annes Ferienkind, stimmt´s? „Da freust du dich doch sicher?“, fragte sie und reichte mir ihre Hand. Schüchtern nahm ich diese und bekam eine hochroten Kopf. Ich machte einen besonders tollen Knicks und wollte mich eigentlich direkt wieder umdrehen.
Sie weiß es, dachte ich mir nur, sie weiß, warum ich Ferien bei Anne mache. Mein Herz sank mir in die Windeln, als Anne nickte. Na klar wussten diese Frauen alle Bescheid! Das war zumindest mein Eindruck, auch wenn es bis hierher noch keinen wirklichen Beweis für meine Vermutungen gab.
Sie wandte sich lächelnd an Anne: „Besser als Ferien auf Bullerbü. „Da gibt es ja nur Steine, Wasser und Fische – scherzte sie fröhlich, hier gibt es wenigstens noch echtes familiäres Dorfleben!“ , dabei kicherte sie herzlichst.
„Anne, ich habe dir auch Lätzchen mitgebracht und alles, was ich sonst noch von Esther gefunden habe, was nicht mehr gebraucht wird.“
„Das ist schön und Danke, Bettina!“ „Kein Thema. Such dir einfach raus, was du für die – Kleine gebrauchen kannst. „Das hat Esther alles so in den Größen zwischen 116 und 140 getragen. Mit knapp acht Jahren braucht sie inzwischen fast immer schon Größe 152. „Die wächst wie Unkraut!“ Dabei zwinkerte sie mir zu. “Nur gut, dass du noch nicht ganz so weit bist wie Esther, meinte Bettina in meine Richtung und sah nervös zwischen ihnen hin und her. Ich hatte plötzlich sehr viele Fragen, blieb aber erst einmal stumm. Bettina hüpfte von einem auf das andere Bein. „Anne, ich muss mal schnell woanders hin, bin gleich wieder zurück!“
„Beeil dich BITTE, sonst verpasst du noch das Essen!“, rief ihr Anne hinterher.
Zuhause war leider keine Zeit mehr, „Entschuldigung!“. Schnell war sie im Flur und in der Gästetoilette verschwunden. Als sie kurz darauf zurück war, suchte sie die Taschen durch und winkte mich zu sich. Sie drückte mir einige Lätzchen in die Hand und meinte: “Die sind bestimmt für dich Maus. Bring die doch bitte mal schnell zu Anne in die Küche!“
Ich nickte brav und wackelte direkt in die Küche zu Anne.
„Apropos Essen, Anne, was bekommen wir denn heute schönes aufgetischt, fragte Bettina?“
„Für uns habe ich zuerst eine Kartoffelsuppe mit Katenschinken von Meiers, danach Züricher Geschnetzeltes mit Walnuss-Spätzle und rote Beete-Salat. Als Dessert dachte ich an gefüllte Orangen-Quark-Pfannkuchen überbacken.“
„Wow“, kam sofort der Kommentar von Jutta und Erika sagte nur, „dann wird es heute ja nicht so viel mit dem Stricken!“ Anita fügte hinzu, dann brauche ich bald ne 42 Größe und Bernd feixt wieder, dass ich neue Klamotten brauche. „Jetzt übertreib mal nicht Anita“, kam die Antwort aus der Küche von Anne.
„Ich brauche noch gut 10 Minuten, also Stricksachen schon mal weglegen. „Damit ihr mich richtig versteht“, kam es deutlich und unmissverständlich aus der Küche von Anne.
Kurz darauf kam Anne schon mit einem Tablett und fünf gefüllten Tassen aus der Küche. „Jutta, könntest du die bitte verteilen, ich muss noch schnell den Hochstuhl für Jule aus der Küche holen.“ „Gerne“, war die kurze Antwort. „Noch jemand ohne Wein oder Getränke,“ wollte Jutta wissen?
Den Hochstuhl stellte Anne neben sich, hievte mich hoch und setzte mich dann darin ab.
„Euch allen wünsche ich einen guten Appetit.“ „Und du Maus bist danach dran, okay.“ „Ach wie, bekommt die Maus noch immer extra gekocht?“, fragte Anita erstaunt nach:
Anne legte ihre Stirn in Falten, schaute überrascht zu Anita und sagte: „Du weißt doch ebenso gut wie ich, dass das keine gute Idee wäre, Sie mitessen zu lassen. Außerdem habe ich viel zu stark gewürzt und deshalb auch ein schlechtes Gewissen, dass es Jules Geschmacksnerven nicht gut tut. Für die ersten Tage möchte ich vorerst einfach auf Nummer sicher gehen. „Vor dem Schlafen ist so etwas Üppiges auch nicht gerade förderlich.“
Lächelnd hebt Anita abwehrend ihre Hand, „schon gut, schon gut, ich weiß doch, dass du alles für die Kleine gerne machst!“
Anne lächelte mich an. „Und du, du möchtest doch auch viel lieber meine ganze Aufmerksamkeit und nicht nur so am Rande mitessen!“
Diese Worte – mit denen sie mich als ihr abhängiges Mündel akzeptierte – treffen mich mitten ins Herz. Es war nur ein einfacher Satz, aber aus ihrem Mund bedeutet er mir unendlich viel.
Löffel klapperten auf und in weißem Geschirr. Hauptgang und Dessert waren dann auch schnell serviert und noch sehr viel schneller verschwunden.
Zwischendurch wurde über das Dorf, die Saisoneröffnung vom Seerosenteich, dem großen Osterfeuer und anderen tollen Dorfaktionen gesprochen. Ich verstand natürlich von allem fast nichts und langweilte mich im Hochstuhl. Anne gab sich aber die ganze Zeit sehr viel Mühe mich bei Laune zu halten, und gab mir genug Aufmerksamkeit, nur damit ich nicht das Nörgeln anfing. Vor mir lag ein Buch mit Ausmalbildern, dicke Buntstifte und drei Bauernhoftiere – Kuh, Schwein und Pferd. Selma lag direkt neben mir im Tripp-Trapp. Meine bunte Tasse war immer gefüllt und wenn die Großen mit dem Essen fertig wären, bekäme ich auch mein Essen.
Bettina versuchte Anne zwischen Kartoffelsuppe und Geschnetzeltem noch zu erklären ,was sie alles noch von Esther aussortiert in die Taschen gepackt hatte. „Anne du musst da gleich unbedingt mal zusammen mit der Kleinen reinschauen. “Die wirkliche kleine Zeit mit Esther war viel zu schnell vorbei, so dass vieles davon noch fast ganz neu ist, oder sie wollte es einfach nicht anziehen, diese kleine Zicke. Ich hoffe, Jule hat noch Spaß daran. Die eigenen Enkel und Kinder wachsen ja immer sehr viel schneller, als die fremden, anderen Kinder.“ Dabei musterte mich Bettina sehr aufmerksam.
Ich fragte erst Anita und dann Bettina ob sie mir stricken, häkeln und nähen beibringen konnten.
„Anita formte ihre kirschroten Lippen zu einem ohhhh ohh…., gleich alles auf einmal Maus?“ Ja, ich möchte doch später Tierärztin werden und da muss ich doch auch Wunden zunähen können, erzählte ich völlig überzeugend. Wenn ich dann gut stricken, häkeln und nähen kann, ist das doch wirklich eine tolle, wichtige Übung für mich und die armen Tiere, die so krank sind.
Mein Gestammel amüsierten nicht nur Erika, sondern auch Anita und Jutta und die Vorstellung, dass ich mich um kranke Tiere mit Nadel und Faden kümmern wollte, noch mehr. Ihr Prusten und Staunen konnten alle genauso wenig unterdrücken wie das herzhafte Lachen, das darauf folgte.
Jutta, Anita und Bettina halfen, wie flinke Wiesel auf- und abzutragen, nur Erika blieb stur auf ihrem Stuhl sitzen und hatte auch sofort ihre beiden Nadeln zwischen den Fingern. Gerade als die massige Uhr drei Mal aufstöhnte, war auch der letzte Teller leer und wieder vom Tisch verschwunden.
Kurz vor acht hielt Anita fest, das war richtig, richtig gut und alle nickten und stimmten ihr zu.
„Nur gut, dass du nicht meine Mutter bist und in meinem Haus wohnst, sonst müsste ich wöchentlich meine Konfektionsgröße erhöhen,“ versuchte Bettina, ein großes Lob an Anne loszuwerden.
„Du übertreibst mal wieder, Bettina!“, meinte Anne. „Mit 40zig hätte ich auch gerne noch eine Konfektionsgröße 38 getragen.“ Die anderen Frauen nickten nur und waren sich auch einig, dass Bettina maßlos übertrieb.
Bettina arbeitete in der Gärtnerei ihrer Eltern. Im Moment war sehr viel los und sie hatte mächtig viel Arbeit. Ostern stand vor der Tür und die Frühlingspflanzen und Blumen mussten alle eingepflanzt und versorgt werden. Bernd (ihr Ehemann) war den ganzen Tag draußen auf den Feldern unterwegs, säen, spritzen und die Erntehelfer anleiten, dass sie die jungen, frischen Salate und Gemüsesorten pünktlichst beim Großhandel abladen konnten. Lena´s Bruder Paul durfte wenigstens schon mit den großen und kleineren Traktoren, auf den blanken Äckern arbeiten, oder er war mit seinen Jungs auf dem Fußballplatz, zum Trainieren oder bei den Meisterschaftsspielen an den Wochenenden zu finden.
Für Lena blieb also wenig Zeit in den Osterferien übrig. Bettina hatte einfach ein sehr schlechtes Gewissen Lena gegenüber und erzählte ausgiebig darüber.
Auch beim Lob über Annes Menü waren sich alle Strickerinnen schnell einig. Damit könntest du bestimmt auch das englische Königshaus beköstigen und beglücken. Anne war das Lob in jedem Fall unangenehm, was ich aus ihrer Haltung sehen konnte. „Ich kümmer mich jetzt um das Essen für Jule – änderte Anne das Thema, sonst wird das heute nichts mehr mit ihrem Schlaf.“ „Bettzeit ist ja eigentlich für 19:00 Uhr gedacht!“
„Und das klappt?“, fragte Bettina sofort nach. „Das kann ich dir in den nächsten Tagen sagen, heute ist wegen des ersten Ferientages bei Jule noch einmal eine große Ausnahme!“
„Lena und auch Paul waren nie davon begeistert, weder als Kitakind noch als Schulkind so früh ins Bett zu gehen.“ Jetzt mit 13 und 15 liegen sie schon oft ab 18:00 Uhr auf dem Bett und wollen sich nicht mal mehr zum Essen nach unten bewegen.
„Da bin ich ja mal gespannt“ , „ob Jule das auch so toll findet.“, meinte Bettina sofort und lachte laut. „Ich denke du bist schon fast kontrollsüchtig.“ Anne schob nur ihre Brauen zusammen und ließ die Worte an sich vorbeiziehen. Erika seufze hörbar laut und schwenkte verlegen ihre Schultern; ein sehr schwieriges Thema und vor allem gibt es keine generellen Regeln. Was bei dem Einen richtig ist, wird bei der Nächsten zum Chaos. Ich habe immer darauf gesetzt, dass Elmar und Elvira selbst einsehen, wann die richtige Schlafenszeit für sie ist. Ich musste wirklich nur zwischen dem letzten Kitajahr und am Anfang der zweiten Klasse für Ordnung sorgen. Jetzt mit 26 und 28 Jahren haben sie selbst Nachwuchs, und ich werde mich sicherlich da nicht einmischen oder Empfehlungen abgeben.
„Überfürsorglich.“, warf Jutta sofort ein und konzentrierte sich wieder auf ihre Stricknadeln und ihre offene grau-melierte Strickjacke, die bestimmt gut zu ihrem engen, schwarzen Leinenkleid passen würde, wenn sie dann mal damit fertig wurde.
„Das war aber schon bei Sophie und Marie so sehr bei Anne ausgeprägt, und das hat ihnen echt gut getan, wenn du heute siehst, wie toll sie sich geben.“
Juttas Kopf mit ihren silbergrauen Locken und der dominanten schwarzen Hornbrille wippte zum Takt der Stricknadeln. Ihre silbern, hängenden Tropfen-Ohrringe schaukelten unter dem akkuraten
Bobschnitt, unkoordiniert und gegen den Takt. Man konnte schon an ihrem äußerlich erkennen, dass Jutta sicherlich in ihrem weißen Kittel und hinter dem Apothekertresen einen seriösen und vertrauenswürdigen Eindruck machte. Ihr steifes öffentliches Bild stand im Kontrast zu ihrem warmen, herzlichen Charakter und den inneren ausgeglichenen Gemütszustand.
„Wenn du das auch bei Jule hinbekommst, bist du echt zu beneiden!“ ,warf Anita neidvoll weiter in die strickende Runde.
Einen guten und richtigen Rat für einen vernünftigen Schlafrhythmus und die gesamte Schlafzeit ist doch immer auch vom einzelnen Kind abhängig, war der nächste Beitrag von Jutta.
Wir saßen so noch eine Weile zusammen, bis Anne bemerkte, dass es schon auf halb zehn zuging.
„Maus, es wird höchste Zeit fürs Bett und für eine frische Nachtwindel!“
„Ich fasste meinen ganzen Mut zusammen und murmelte: „Kann ich nicht doch noch ein paar Minuten bei Anita zuschauen, ich habe doch gerade erst angefangen, das Stricken zu üben und ich habe Angst, dass mich der kleine „Olmen Geist“, im Schlaf beklaut! Ich kann auch ganz ruhig und brav sein, bitte, bitte.“, versuchte ich mit erhobenen Kopf und weit aufgerissenen Augen Anne´s starre Reglung aufzuweichen.
Anne sah mich an und schüttelte den Kopf, dabei streckten sich ihre Arme nach mir aus, um mich einzufangen. Ich quietschte albern und versteckte mich sofort hinter dem Stuhl von Anita.
Nach dem dritten Anlauf hatte mich Anne dann endlich zu fassen bekommen.
„Das hatten wir doch schon besprochen, Jule. Du gehst zwischen sieben und halb Acht ins Bett Schatz, es sei denn ich entscheide etwas anders. Zeit fürs Bett, Maus. Aber jetzt ist erst einmal Nachtwindel Zeit und Schlafen angesagt.“
Ich nickte und kaute auf meiner Lippe, war erschöpft, und mir tränten auch schon meine Augen. Ich ergab mich gerne dem Schicksal, auch weil ich diese persönlichen Momente mit Anne sehr mochte und ich runter kam.
Anne küsste mich und trug mich auf der Hüfte, während wir zur Wickelinsel gingen. „Hey Maus, du schläfst ja fast schon ein. Mir scheint, meine kleine Maus braucht sehr viel mehr Schlaf und etwas weniger Spielzeit!“ „Nein, nein“, protestierte ich – jawohl, du kleine Meckerziege!“
Die Ausdauer der strickenden Frauen kannte keine Pause und auch kein Ende, weil ich das monotone Geklapper der Strick- und Häkelnadeln bis zur Wickelinsel hören konnte.
Ehe ich mich versah, war der Strickabend für mich schon vorbei. Ich hatte noch versucht, etwas Zeit zu erbetteln, damit ich noch etwas lauschen konnte. „Manchmal braucht man auch eine Auszeit von den Erwachsenen.“ , sagte Anne und flüsterte mir ins Ohr, „So wie du jetzt, Spatz.“
Anne machte mich schnell fürs Bett fertig und tauschte mein moosgrünes Hängerchen gegen das grüne Sarah-Kay-Nachthemd aus. Sie redete dabei bewusst sehr wenig, weil mir immer wieder die schweren Augen zufielen.
Anne begann mich zu wickeln, und ihre Art war so angenehm und ruhig, dass es sich anfühlte, als würde sie mich in eine schönere Welt tragen. Es war ein ungewohnt schönes Gefühl, aber es war auch irgendwie aufregend. Ihre Hände bewegten sich langsam und beruhigend, als wollte sie mir ohne Worte sagen, dass sie alles im Griff hatte.
Anne zog mir meine Bloomer und Strumpfhose herunter und öffnete die Seiten der Windel. Ich spürte nur kurz einen kühlen Luftzug auf meiner Haut, aber Anne war so schnell und vorsichtig, dass ich nur kurz Gänsehaut hatte. Anne wischte mich sanft und vorsichtig sauber. Es war seltsam, aber es ging auch alles so schnell, dass nur aus dem Augenwinkel sah, wie Sie meine eingenässte, alte Windel direkt neben der Insel in einen Eimer verschwinden ließ.
Dann legte sie mir das vorbereitete neue Nachtsysteme unter den Po. Es war wieder eine Mädchen-Pampers mit Klebestreifen, in die Anne noch zwei „Pelzi“ Einlagen gelegt hatte. Zusätzlich fixierte Anne meine Nachtwindel noch mit einem Moltontuch, damit alles enger und besser saß.
Die Art, wie Anne mich dabei ansah – voller Wärme und Zuneigung, aber auch mit der notwendigen Kraft ganz ohne Eile, machte es mir noch leichter, mich so hinzugeben. Ich wusste, dass sie mir ja nur helfen wollte.
Für mich war es gar nicht so einfach mit diesem Gefühle-Durcheinander, was ich gerade intensiv hintereinander erlebte, klar zu kommen. Ich war noch total in meiner Gedankenwelt, als ich hörte, wie Anne die Septa knöpfte.
Alles um mich herum verschwamm dann sofort wieder in einem dumpfen Nebel. Ich hörte die Worte drüben vom Esstisch nicht mehr genau, nur noch das leichte klacken der Stricknadeln, das sich zusammen anhörte wie ein kleines Nachtkonzert.
Nach dem Wickeln stemmte mich Anne auf ihre rechte Hüfte und wir machten noch eine Abschiedsrunde bei ihren Freundinnen, dabei verteilte ich einige Handküsse an Bettina, Anita und Co., die laut vor Vergnügen quietschten.
Ich hörte beim Rausgehen nur noch einige verklingende Wortfetzen – was für eine zauberhafte kleine Fee und gemeinsames „Gekicher“ und flüchtiges „Gelächter“, aus der Frauenrunde……….
Ich schloss lächelnd die Augen und murmelte: „Anne, der Abend heute mit deinen ganzen Freundinnen war sooo schön!“
Wir tratschen unten noch etwas und dann komme ich später schnell zu dir, Jule. „Schlaf fein“, und während die Spieluhr schon spielte, streicht Sie noch schnell die alte Kinderdecke von Marie glatt.
Bevor Anne wieder die Treppe herunter geht, steckt sie noch ein Nachtlicht in die Steckdose und zieht die Tür bis auf einen kleinen Spalt hinter sich zu.
Irgendwie fühlte sich Anne anders als die Monate zuvor. Besser. Tief atmet Sie hinter der Tür durch. Sie horcht noch ein letztes Mal in das Schlafzimmer, ob Sie etwas Ungewöhnliches hört.
Alles bleibt still. Sie seufzt, als Sie sich zur Treppe dreht und geht.
Ich kuschelte mich unter die fremd riechende Bettwäsche in den Schlaf………
Autor: Soe Lückel | Eingesandt via Formular
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Hallo Soe, danke für dieses Kapitel. Ich war wie auf Nadeln, jeden Tag schaute ich nach der Fortsetzung, und sie ist gekommen. Wieder sehr einfühlsam. Wie wird Jule die Nacht verbringen? Wie geht es Anne in der Nacht? Ein sehr schöner Start für die gemeinsamen Tage, ich bin gespannt. Liebe Grüsse Petra
Danke Petra,
dass du mich weiter mit deiner Kritik so gut unterstützt. Dafür bekommst du von mir heimlich einen kleinen, versteckten Handkuss. 😉
Ich freue mich immer wie „Bolle“, wenn ich gerade Stammleser*Innen mit einem weiteren Kapitel mitnehmen und begeistern kann.
Es ist immer ein wenig schade, nicht zu wissen, was andere Leser*Innen über den Inhalt und den Weg denken. „Vielleicht gäbe es dann hier ein paar mehr ehrliche Geschichten, die abholen und mitnehmen“!
Lieben, lieben Dank und viel Spass an den nächsten Kapiteln
Soe
Ich weiß nicht wie ich es sagen soll aber es ist immer wieder schön Geschichten von dir zu lesen es ist die geschichte und die andere geschichte wo ich mich immer wieder drin verliere und ich mich rein versetzen kann so wie als wäre ich dabei
Danke einfach ein großes Dankeschön ❤️
Zu gern lese ich deine Kritik „Jessica“ – und na klar versuche ich Dir Tür und Tor zu öffnen, damit du den Eingang zu den neuen Kapiteln immer gut findest.
Wenn man schon keinen Prinzen finden kann, möchte man doch zu gern wenigstens über Prinzessinnen schreiben oder lesen dürfen!
😉
Und mal ehrlich, es ist einfach viel zu schön, sich das alles aus dem Kopf schreiben zu dürfen, auch weil ich dir und anderen etwas mit in den Tag geben darf……………<3
Bin auch schon wieder unterwegs im nächsten Kapitel. „Sehen wir uns auch da?!
Bis dann und danke
Soe
Hallo Jessica, es geht mir genauso. Ich kann mitfühlen, bildlich kann ich mir die Szenen vorstellen. Auch ich lese Soe’s Geschichten sehr gerne. Petra
So langsam werde ich wieder etwas ungeduldig was den nächsten Teil betrifft ich brauch wieder was sehr schönes zum lesen 😔👉👈