Das erste richtige Halloween
Erschöpft schlurfte Louis den Gehweg entlang. Die Gegend war ruhig und außer dem
Geräusch seiner eigenen Schuhe, die bei jedem seiner Schritte über den Boden schliffen,
war nichts mehr zu hören. Alle anderen Kinder waren längst in andere Richtungen des
Vorortes abgebogen. Er war fast zuhause. Der Weg unter seinen Füßen war bedeckt von
herbstlich bunten Blättern, ähnlich wie ihre Kunstprojekte, die im Klassenzimmer an der
Wand hingen. Sie waren neben den Fenstern das Einzige, was der Grundschüler in der
letzten Schulstunde beachtet hatte. Er hatte nicht einmal wirklich Ahnung, was überhaupt
das Thema gewesen war. Natürlich war das nicht gut, aber jetzt waren ja ohnehin erst
einmal Ferien. Außerdem hatte er wirklich einen miesen Tag gehabt… Betrübt kickte er
eine faulige Kastanie beiseite. Elias, dieser Blödmann, hatte ihn wieder die ganze Zeit
geärgert…
Sie hatten im Sportunterricht Fußball gespielt. Es gab kein Spiel in Sport, das Louis mehr
hasste! Einige seiner Klassenkameraden kickten den Ball immer so stark, dass er richtig
durch die Luft flog. Da ging er eben lieber in Deckung. Meistens blieb er einfach in einer
Ecke stehen und hoffte, dass der Ball nicht zu ihm kommt. Und wenn doch, dann lief er
möglichst schnell woanders hin. Nur irgendwie war er da der Einzige in seiner Klasse, dem
es so ging. Und weil seine Angst vor Bällen so lustig war, entschied sich Elias irgendwann
dazu, absichtlich auf ihn zu schießen. Nicht einfach in seine Richtung. Er wollte ihn treffen!
„Vorsicht, Louis! Der Ball kommt!“, hatte er gelacht und mit voller Kraft auf ihn geschossen.
Zum Glück war der frischgebackene Viertklässler gut im Ausweichen. Den Spruch fand
sein Klassenkamerad aber so lustig, dass er ihn selbst in der Pause noch damit
aufgezogen hatte. Dabei hatte Elias da nicht einmal mehr einen Ball gehabt! Trotzdem
hatten es die beiden Freunde, die er dabei hatte, super lustig gefunden…
Vergeblich hatte Louis wieder einmal versucht ihm zu sagen, dass er ihn in Ruhe lassen
sollte. Als er daraufhin einfach weglaufen wollte, hatte Elias ihm sogar noch ein Bein
gestellt, sodass er volle Kanne hingeflogen war… Für einen Moment hatte er nicht einmal
richtig Luft bekommen. Seine Handflächen waren aufgeschürft und brannten. Mit aller
Kraft hatte er dagegen angekämpft, loszuheulen. Stattdessen hatte er sich einfach in die
hinterste Ecke des Pausenhofs zurückgezogen. Und als er dann am Ende der Pause noch
schnell auf die Toilette wollte, waren alle Kabinen besetzt gewesen, sodass er auch noch
zu spät zur letzten Stunde gekommen war.
„Louis! Ganz schön spät!“, hatte seine Lehrerin ihn getadelt.
„Tschuldigung…“, war alles, was er murmelnd hervorgebracht hatte. Aber was hätte er
denn machen sollen? Er konnte doch nichts dafür! Und trotzdem hatte er ein schlechtes
Gewissen…
Nur noch wenige Meter, dann hätte er es geschafft. Er könnte rennen, doch dafür fehlte
ihm die Energie. Er war müde und seine Beine fühlten sich schwer an. Er hatte letzte
Nacht nicht besonders gut geschlafen. Seine Albträume häuften sich in letzter Zeit.
Meistens handelten sie von seiner verstorbenen Mutter. Da war immer noch diese leise
Stimme in ihm, die sich die Schuld für ihren Tod bei seiner Geburt gab.
Louis kramte seinen Schlüssel aus dem Schulranzen und öffnete die Haustür. Kaum hatte
er sie wieder geschlossen, warf er lustlos sein Sportzeug in die Ecke.
„Na, Hase? Wie war die Schule?“, hörte er eine sehr vertraute weibliche Stimme aus der
Küche. Es war unverkennbar Lena, die Freundin seines großen Bruders und häufig seine
Babysitterin. Eigentlich war sie für ihn inzwischen viel mehr als das. Normalerweise würde
er jetzt fröhlich zu ihr laufen und sich freuen, dass sie da war. Aber nicht heute…
„Scheiße…“, antwortete er. Ein Wort, das eigentlich gar nicht zu seinem Wortschatz
gehörte und die junge Frau in der Küche sofort hellhörig werden ließ. Der Junge hatte
gerade seine Schuhe ausgezogen, da stand sie auch schon bei ihm im Gang.
„Schätzchen, was ist denn passiert?“, fragte sie besorgt. Doch statt etwas zu erwidern,
ging Louis einfach zu ihr und ließ sich in dem Arm nehmen. Dann begann er leise zu
wimmern. Alles, was er die letzten Stunden zurückgehalten hatte, brach mit einem Mal aus
ihm heraus. Sofort spürte er, wie Lena ihn ein wenig fester drückte, während er irgendwas
von seinem Klassenkamerad und einem Ball stammelte. Sanft griff sie nach seiner Hand
und führte ihn zum Esstisch, wo sie ihn auf den Schoß nahm.
„Shhh… Jetzt beruhig dich erstmal ein bisschen und dann erzähl mir in Ruhe, was los
war“, versuchte sie ihn zu besänftigen, was auch ziemlich schnell Wirkung zeigte. Louis
schluchzte noch ein wenig, bevor er noch einmal von vorne anfing zu erzählen. Dabei
streichelte sie ihm sanft über den Rücken und strich ihm hin und wieder durchs Haar. Er
mochte es, wenn sie das tat. Seit den letzten Sommerferien, in denen sie sich so intensiv
um ihn gekümmert hatte, war sie wie eine richtige Mami für ihn. Zumindest fühlte es sich
für ihn so an. Und niemand außer ihnen wusste, was jetzt gleich passieren würde, damit er
sich wieder besser fühlte.
Louis wischte sich die restlichen Tränen aus dem Gesicht murmelte dann: „Könntest du
vielleicht…“ Mehr sagte er nicht und das musste er auch nicht, damit Lena verstand, was
er meinte und liebevoll lächelte.
„Natürlich, mein Schatz“, entgegnete sie beinahe flüsternd, als wäre es selbstverständlich.
„Jetzt gleich, oder willst du erst etwas essen?“
„Jetzt gleich…“, antwortete Louis, ohne auch nur einen Moment überlegen zu müssen. Die
junge Frau nahm ihn an die Hand und gemeinsam gingen sie in sein Zimmer. Dort legte er
sich auf sein Bett, während Lena noch einmal verschwand und kurz darauf mit einer
kleinen Kiste sowie einer offenen Packung Pampers wiederkam. Louis wusste natürlich,
dass er eigentlich schon zu alt dafür war. Schließlich war er vor kurzem schon zehn
geworden! Für ihn war klar, dass sie irgendwann wieder damit aufhören mussten. Aber
nicht heute. Gerade sehnte er sich einfach nur nach diesem Gefühl von Geborgenheit und
Sicherheit, wenn sich Lena um ihn kümmerte. Dieses Gefühl, als wäre alles gut und als
könnte ihm nichts passieren. Erschöpft schloss er die Augen und genoss einfach den
Moment. Vorsichtig griff Lena nach seiner Jeans und zog sie ihm aus. Dann seine
Boxershorts. Auch für sie war es schön zu sehen, wie ruhig ihr kleiner Schützling auf
einmal wieder war. Als könnte er alles Böse an diesem Tag einfach vergessen.
Aus der offenen Kiste holte sie eine Creme heraus. Sie bewahrte die Sachen inzwischen
in ihrem Schlafzimmer auf, damit es sicher niemand, der zu Besuch war, finden konnte.
Oder viel mehr im Schlafzimmer ihres Freundes, das sie sich teilten. Am Auszug aus ihrer
Wohnung arbeitete sie noch.
Louis spürte, wie sie die Creme sanft in seinem Intimbereich verteilte. Kurz darauf folgte
die Windel. Sie fühlte sich wie immer flauschig weich und inzwischen auch vertraut an.
Fast eine Woche war es her, dass sie ihn zuletzt gewickelt hatte. Behutsam verschloss
Lena die Klebestreifen an den Seiten und half ihm anschließend auf. Müde öffnete der
Junge die Augen und blickte sie zufrieden an. Auf einmal war alles wieder gut.
Lena lachte leicht: „Vielleicht willst du dich nach dem Essen ein wenig hinlegen, du kannst
ja kaum die Augen offen halten.“
Da hatte sie nicht ganz unrecht… Aber Mittagsschlaf? Auf keinen Fall! Andererseits war er
wirklich müde nach der letzten Nacht…
„Aber nur, wenn du mir vorliest…“, sagte er. Dabei hatte er wieder diesen unbewusst
unschuldigen Welpenblick, dem sie keine Bitte ausschlagen konnte.
„Natürlich les ich dir vor!“, versprach sie und wuschelte ihm durchs Haar. Dann griff sie
noch einmal in die Kiste und holte einen anderen kleinen dunkelblauen Gegenstand
hervor, den er sofort wiedererkannte. Sein Schnulli! Den hatten sie ihm auch in den
Sommerferien gekauft. „Willst du den auch?“, fragte sie liebevoll.
Louis überlegte einen Moment, aber schüttelte dann den Kopf. Wenig überrascht legte
Lena den Beruhigungssauger zurück in die Kiste. Den wollte er schon eine ganze Weile
nicht mehr, obwohl er immer wieder sichtlich darüber nachdachte. Was der Grund dafür
war, wusste sie jedoch nicht.
Ja, das mit seinem Schnulli war ein bisschen kompliziert… Eigentlich wollte er Felix, der
seit den Sommerferien sein bester Freund war, irgendwann alles erzählen, nachdem er
von dem Schnuller erfahren hatte. Aber dazu kam es nicht! Eher das Gegenteil war der
Fall. Als Felix ihn noch einmal darauf angesprochen hatte, hatte er ihn einfach belogen,
dass er den sonst wirklich nie benutzte! Irgendwie war es doch zu peinlich und er bereute
es ein wenig, damit so leichtsinnig umgegangen zu sein, als Felix in den Ferien bei ihm
übernachtet hatte. Nur hatte er seitdem ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken,
seinen Schnulli zu benutzen. Solange er es nicht tat, war es ja nicht wirklich eine Lüge
gewesen, oder? Jetzt durfte er ihn nur ganz einfach nie wieder verwenden! Nie wieder…
„Können wir das in den Ferien wieder öfter machen…?“, fragte Louis schüchtern. Ja, er
wollte schon ein großer Junge sein. Aber irgendwie brauchte er das einfach noch eine
Weile. Und selbstverständlich war das für Lena kein Problem. Die junge Frau holte eine
neue Hose aus dem Schrank, die weiter war als seine Jeans und brachte sie ihm.
„Da du jetzt Ferien hast, sehe ich damit kein Problem. Ich versuche so viel Zeit wie
möglich hier zu sein, ja?“, entgegnete sie mit einem warmen Lächeln. Glücklich nickte
Louis und wirkte inzwischen wieder richtig gut gelaunt. Auch wenn man ihm die Müdigkeit
immer noch ansah.
Zum Mittagessen gab es Reis mit Würstchen und Ketchup. Sein großer Bruder war heute
offenbar arbeiten. Dass Jack und Lena mittags beide zuhause waren, war unter der
Woche in letzter Zeit eigentlich nie vorgekommen. Aber Louis konnte ja schlecht den
ganzen Tag allein zuhause sein. Also, könnte er schon, wenn es nach Jack ginge. Aber
der Zehnjährige mochte es überhaupt nicht, allein zu sein, weshalb Lena sehr darauf
achtete, dass in der Regel zumindest einer von ihnen für ihn da war. Und Louis war sehr
dankbar dafür, dass sie heute hier war. Dank ihr war sein Tag nun zumindest nicht mehr
ganz so schlimm.
Nach dem Essen legte sich der Junge dann tatsächlich ein wenig ins Bett und sie las ihm
wie versprochen vor. Und für einen Moment fühlte es sich genau so an, wie in den letzten
Ferien, ehe sein Blick verschwamm und er ins Reich der Träume eintrat.
Als Louis wieder aufwachte, war der Nachmittag bereits fortgeschritten. Verschlafen rieb er
sich die Augen. Irgendwie fühlte sich sein Kopf immer noch schwer an, aber er war ja auch
gerade erst wach geworden. Er stand auf und bemerkte direkt, dass er pullern musste.
Aber das war auch kein Wunder. Schließlich war er seit der großen Pause in der Schule
nicht mehr auf dem Klo gewesen. Ohne groß darüber nachzudenken, ließ er es einfach
laufen. Das klappte inzwischen echt ganz ohne Probleme, als wäre es das normalste der
Welt. Die Windel quoll ein wenig auf und fühlte sich nun angenehm warm an. Langsam
ging er die Treppe hinunter, während er allmählich wieder richtig wach wurde.
„Hey, Hase! Gut geschlafen?“, fragte Lena sofort, als sie ihn erblickte. Stillschweigendes
Nicken. Reden war noch zu anstrengend. Louis war ohnehin kein Kind vieler Worte. Die
junge Frau saß auf der Couch und las ein Buch. Offensichtlich irgendein Krimi. Heute also
leider kein Manga, was ein bisschen schade war. Er mochte die ganzen Zeichnungen
darin immer. Der Zehnjährige kroch schweigsam auf die Couch und kuschelte sich an sie.
Sofort legte sie einen Arm um ihn und streichelte dabei ein wenig seinen Kopf. Vielleicht
konnten sie gleich etwas spielen, sobald er wieder die Energie dazu hatte. Aber gerade
wollte er einfach nur ihre Nähe genießen und einfach mal nichts tun.
„Felix hat vorher angerufen. Er meinte, du sollst ihn zurückrufen sobald du wach bist“,
sagte Lena. Das änderte seine Pläne natürlich ein bisschen. Louis stand auf, holte das
Telefon und begann die Nummer seines besten Freundes zu wählen. Dann lehnte er sich
direkt wieder an sie. Inzwischen hatte er auch keine Angst mehr, dass die Mutter von Felix
ranging. Dafür telefonierten die beiden Jungs zu häufig. Und die Frau, die Louis
tatsächlich noch nie persönlich gesehen hatte, ging ran. Seltsam, dass sie die angezeigte
Nummer inzwischen nicht schon erkannte und direkt ihren Sohn rief.
„Hallo, hier ist Louis. Ist Felix da?“, sagte er ganz automatisch, als hätte er es auswendig
gelernt. Natürlich war er da! Er wartete ja schließlich auf seinen Anruf.
„Na, du Schlafmütze? Auch mal wach!?“, kicherte Felix, kaum hatte er das Telefon in der
Hand. „Also ich bin nächste Woche drei Tage bei meiner Oma, da können wir uns treffen!“
„Nur drei Tage…?“, entgegnete Louis merklich enttäuscht. Gut, die Ferien dauerten nur
eine Woche, aber er hatte zumindest mit fünf Tagen oder so gerechnet. Immerhin konnte
er seinen einzigen Freund aufgrund der Distanz sonst nicht oft sehen. Nur in den Ferien.
Sein Geburtstag vor kurzem war noch eine Ausnahme gewesen, aber der war ja auch nur
einmal im Jahr.
„Naja…“, erklärte Felix: „Ich fahr Donnerstag schon wieder heim wegen Halloween, damit
ich mit ein paar Freunden Süßigkeiten sammeln kann.“
„Oh… Ok“, antwortete der Zehnjährige knapp. Das verstand er natürlich. Felix hatte ja
noch andere Freunde außer ihm.
„Was machst du an Halloween? Ziehst du auch los?“, fragte sein Freund unbeirrt weiter.
„Ne… Nicht allein“, erwiderte Louis. „Ich stell es mir auch voll komisch vor, einfach bei
fremden Leuten zu klingeln.“ Dafür war er definitiv zu schüchtern!
„Warte…“, sagte Felix und realisierte wohl gerade das Offensichtliche: „Willst du damit
sagen, du bist noch nie auf Süßes oder Saures gegangen!?“
Naja, ganz ausschließen konnte man es ja nicht. Aber früher, als er noch lebte, meinte
sein Vater immer, er wäre noch zu jung. Hauptsächlich weil er keine Zeit hatte. Und sein
großer Bruder hatte auch bereits keine Lust mehr auf diesen „Kinderkram“ gehabt, wie er
es nannte. Der hatte sich als Teenager zu cool gefühlt, um mit Louis um die Häuser zu
ziehen.
„Weißt du was!?“, meinte der gut gelaunte Neunjährige plötzlich aufgeregt: „Vergiss, was
ich gesagt hab! Ich sag meiner Mama, ich zieh mit dir los!“
„Was?“, brachte Louis nur hervor und verspürte plötzlich sehr gemischte Gefühle. Ein Teil
von ihm freute sich über die Idee und darüber, mehr Zeit mit seinem Freund verbringen zu
können. Aber ob er sich das traute? Allerdings ließ Felix ihm wohl ohnehin keine Wahl. Der
schien plötzlich wild entschlossen zu sein und würde sich wohl kaum von seiner Idee
abbringen lassen! Im Hintergrund hörte er, wie er nach seine Mutter rief. Dann seine
Schritte und ein paar Wortfetzen. Wahrscheinlich war es auch gut so, dass sein
Fluchtreflex nicht direkt ablehnen konnte. Denn eigentlich klang es doch echt toll! Er wollte
ja schließlich schon immer mal Süßigkeiten sammeln gehen an Halloween. Und mit Felix
zusammen brauchte er sich wohl keine Gedanken über fremde Leute machen. Der wusste
ja, was er tat und würde schon auf ihn aufpassen. Klar würde er nervös sein. Aber so
langsam gewann doch seine Vorfreude die Oberhand.
Direkt am Wochenende besorgten Jack und Lena ihm noch ein Kostüm. Es war
tatsächlich gar nicht so leicht gewesen, etwas zu finden, das Louis gefiel. Schlussendlich
entschied er sich dazu, als Ninja zu gehen. Die waren schließlich cool und nicht so
gruselig wie die ganzen Monster. Natürlich verbrachten die beiden Freunde auch die
anderen Tage viel Zeit miteinander, doch auf diesen Tag freuten sie sich besonders.
Außerdem verdrängte die Euphorie von Felix die Nervosität des Zehnjährigen immer mehr.
Sein Freund würde gegen Abend bei ihm vorbeikommen und dann würden sie gemeinsam
losziehen. Und anschließend durfte Felix sogar noch bei ihm übernachten!
Aufgeregt ließ Louis am entsprechenden Tag seine Füße von Stuhl baumeln, während
Lena ihm gekonnt ein paar blutige Kratzer zu schminkte. Natürlich hatte sein Kostüm auch
eine Maske, aber es ging ums Prinzip! Außerdem war der Junge bekanntlich kein großer
Freund von Kopfbedeckungen, weshalb er die sicher irgendwann abziehen würde.
Während sie ihr Werk vollendete, hielt er plötzlich inne und schien für einen Moment wie
eingefroren, als wäre seine Aufmerksamkeit ganz woanders. Louis hatte gerade
beschlossen, einfach währenddessen in seine Windel zu pullern. Normalerweise wickelte
Lena ihn immer nur abends, bevor er ins Bett ging. Aber da das heute nicht möglich war,
hatten sie das ausnahmsweise vorgezogen, sodass er sie tagsüber anhatte. Aus diesem
Grund fehlte der untere Teil seines Kostüms auch noch. Ob Lena wohl bemerkte, was er
da gerade tat? Vorsichtig sah er sie wieder an. Sie war gerade fertig geworden und
lächelte liebevoll.
„Die Windel müssen wir gleich noch ausziehen“, erinnerte sie ihn. Ertappt senkte Louis
seinen Blick und nickte. Wahrscheinlich kein Zufall, dass ihr das gerade jetzt einfiel. Sie
hatte es bemerkt! So sehr er ihr vertraute, das war trotzdem ein bisschen peinlich… Dann
klingelte es plötzlich. Überrascht sahen beide auf und Lena schaute geschockt auf die Uhr.
Es war gerade mal kurz nach 17Uhr. Ob das schon die ersten Kinder waren, die
Süßigkeiten wollten? Gut möglich, dass das Felix war. Der wäre mindestens eine
Viertelstunde zu früh!
Kurzerhand schickte sie Louis nach oben. Sofort rannte der Junge los, um sich die Windel
auszuziehen. Sein Freund durfte auf keinen Fall etwas davon mitbekommen! Dann öffnete
sie die Tür.
„Hi!“, begrüßte sie ein kleiner Vampir aufgeregt, der noch sehr farbig für einen Untoten
aussah. Auch die Zähne fehlten definitiv noch, wie man an dem fröhlichen Grinsen
unschwer erkennen konnte. Felix war mal wieder überpünktlich und konnte es wohl kaum
erwarten loszuziehen. Da Lena als berufliche Künstlerin ein Händchen dafür hatte, hatte
sie eingewilligt, auch ihn zu schminken.
„Wo ist Louis?“, fragte er direkt, noch bevor er seine Schuhe ausgezogen hatte.
„Der ist oben und zieht sein Kostüm an“, erklärte sie. War ja auch irgendwo die Wahrheit.
„Setz dich schon mal hin. Ich sag ihm kurz Bescheid, dass du da bist.“
Als sie zu dem Jungen ins Bad kam, war dieser gerade dabei sich ein wenig unbeholfen
mit Feuchttüchern sauber zu machen.
„Warte, ich helf dir“, versuchte sie ihn zu beruhigen. Ihr kleiner Schützling war sichtlich
nervös, jetzt wo sein Freund hier war. Dieses Geheimnis durfte ja auf keinen Fall
auffliegen! Zügig aber sorgfältig reinigte sie seinen Intimbereich. Sie wusste genau, was
sie tat. Auf Lena war echt immer Verlass! „Gut, dann zieh dir mal dein Kostüm fertig an“,
meinte sie, kaum war sie fertig. Währenddessen konnte sie sich nun in Ruhe um Felix
kümmern. Louis warf noch einen Blick in den Spiegel. Lena hatte die Kratzer ziemlich gut
hinbekommen. Im Dunkeln würde man sicher kaum erkennen, dass die nicht echt waren.
Er sah echt cool aus, fand er!
Als er kurz darauf wieder nach unten kam, sah Felix bereits deutlich blasser aus als
normalerweise. Er begrüße ihn kurz und setzte sich dann einfach zu ihnen an den Tisch,
um das Ganze zu beobachten.
„Kannst du mir noch Blut an die Lippen machen!?“, fragte sein lebhafter Freund
energiegeladen, schaffte es aber für seine Verhältnisse überraschend gut, still sitzen zu
bleiben. Natürlich konnte sie! Das war nun wirklich kein Problem. In dem Moment kam
auch Jack die Treppe hinunter.
„Oh nein, der kleinste Vampir der Welt…“, kommentierte er die Situation beiläufig, während
er zum Wasserkocher lief, um sich einen Tee zu machen. Außerdem wollte er mal sehen,
ob seine Freundin hier alles unter Kontrolle hatte oder ein wenig Unterstützung brauchte.
Doch sie schien wie erwartet alles im Griff zu haben.
„Sei vorsichtig, sonst beiß ich dich heute Nacht!“, konterte Felix amüsiert. So leicht ließ er
sich nicht aufziehen! „Ich hätte auch als Zombie gehen können, aber dann würden wir
vermutlich nicht weit kommen, bei dem Tempo…“, kicherte er.
„Streng genommen ist ein Vampir auch ein Zombie“, meinte der junge Mann
unbeeindruckt.
„Nö!“, erwiderte Felix überzeugt und klang dabei eher, als hätte er das gerade so
beschlossen. Zu gerne würde er die Vorlage für einen offensichtlichen Deine-Mudda-Witz
nutzen, aber das würde Louis sicher gar nicht gefallen… Außerdem machte er es Lena
gerade absolut nicht leicht, seinen Mund zu schminken, wenn er die ganze Zeit redete.
Geduldig setzte sie zum dritten Mal an und komplettierte diesmal das Gesamtbild des
kleinen Untoten. Natürlich sprang er sofort auf, um sich im Spiegel zu sehen.
Eigentlich mochte Jack den Kleinen und seinen frechen Humor inzwischen echt gern. Gut,
seine Witze waren echt mies, aber seine unbeschwert fröhliche Art hatte etwas, das einen
irgendwie zum Lächeln brachte. Außerdem tat er seinem kleinen Bruder wirklich gut, das
merkte man.
„Schau mal, ich hab voll die coolen Zähne!“, rief Felix aufgeregt und holte zwei
Vampirzähne aus einer kleinen Plastikbox hervor, die er seinem Freund zeigte.
„Hä, wie halten die?“, fragte Louis verwirrt. Er konnte nichts erkennen, wie man die
befestigen könnte.
„Ganz einfach!“, begann Felix zu erklären, während er sie sich ansteckte. Seine nächsten
Worte waren dementsprechend zunächst ein wenig undeutlicher: „Wir haben die genau an
meine Zähne angepasst! Das geht mit irgendso einem Kunststoff, der dann fest wird. Das
war aber voll kompliziert und hat ewig gedauert!“
„Cool!“, befand Louis knapp. Aber seinem Freund reichte das als Anerkennung.
Wenige Minuten später waren sie dann auch schon bereit aufzubrechen. Jetzt kamen sie
sogar noch vor 18Uhr los! Doch davor schnappte sich Lena jedoch noch ihr Handy und
machte ein paar Fotos von ihnen.
„Also, viel Spaß!“, verabschiedete Jack die beiden, bevor sie in die Dämmerung
hinauszogen. Kein Kommentar darüber, dass das Kinderkram war. Seit den Sommerferien
war er wirklich viel netter zu Louis geworden. Aber im Vergleich dazu, dass er ihn
inzwischen sogar einfach so Windeln tragen ließ, war das eigentlich gar nichts.
„Und denkt dran, um acht seid ihr wieder zurück!“, erinnerte sie Lena, gefolgt von einem
synchronen: „Jaa!“, der beiden Jungs. Damit ging es los!
Ein wenig nervös war Louis nun doch. Die beiden liefen ein paar Häuser weiter, bis zu
einem, vor dem ein geschnitzter Kürbis stand. Der sah deutlich besser aus als der, den sie
vorgestern gemacht hatten. Das hatte sich auch als gar nicht so leicht herausgestellt. Man
brauchte ganz schön viel Kraft dafür! Aber dafür sah ihrer lustiger aus! Erst wollten sie
einen ganz normalen Kürbis schnitzen, aber nachdem Felix abgerutscht war, hatten sie
beschlossen, ihn absichtlich zu entstellen. Jetzt hatte er zwei hässliche Grimassen! Vor
allem Felix hatte seinen Spaß daran, den armen Kürbis zu verunstalten. Louis hatte sich
mehr über die Kürbissuppe gefreut, die Lena aus dem Inneren gemacht hatte. Er liebte
Kürbissuppe! Schade, dass es die nur ein- bis zweimal im Jahr gab…
„Willst du da jetzt echt einfach klingeln…?“, fragte der Zehnjährige ein wenig unsicher.
Felix grinste frech und kicherte: „Nö! Ich dachte, wir brechen da ein und klauen die
Süßigkeiten, weißt du?“ Damit betätigte er die Klingel. Louis hatte keine Ahnung, wer da
überhaupt wohnte und spürte wie sein Herz begann, schneller zu schlagen. Aber gut, der
Text war ja nicht schwer… Dann öffnete sich die Tür und eine Frau kam zum Vorschein.
„Süßes oder Saures!“, rief zumindest einer von ihnen, der den anderen lautstark
übertönte. Die fremde Frau lachte freundlich und hielt bereits eine Schüssel voller
Schokolade in der Hand.
„Aha, ein junger Ninja und ein kleiner Vampir! Heute Abend ist aber was los hier!“, meinte
sie und reichte ihnen die Schüssel: „Dann nehmt euch mal eine Sache, die euch anlacht!“
Das ließen sich die beiden Kinder nicht zweimal sagen! Sie schnappten sich einen kleinen
Schokoriegel ihrer Wahl und bedankten sich. Danach verabschiedete die Frau sie und
schloss die Tür wieder. Das war weniger unangenehm gewesen, als Louis gedacht hatte.
Eigentlich war sie voll nett gewesen! Und er musste nicht einmal wirklich etwas sagen. Es
klang, als wären bereits andere Kinder hier gewesen. Ob die wohl gleich bei Jack und
Lena klingeln würden? Und ob die wohl auch ein wenig nervös waren? Dabei musste man
bei Lena ja wirklich nicht nervös sein. Vielleicht sollte er sich nicht so viele Gedanken
machen… Schließlich war heute der eine Tag im Jahr, an dem man Süßigkeiten von
Fremden annehmen durfte.
Gemeinsam zogen die beiden Freunde weiter und klingelten bei allen möglichen Häusern
und mit jedem Mal war Louis weniger nervös. Eigentlich machte es ihm sogar wirklich
Spaß! Die meisten Leute waren echt freundlich. Manchmal öffnete aber auch gar niemand.
Die coolsten Häuser waren die, in denen sich die Erwachsenen auch verkleidet hatten. Da
war zum Beispiel ein Mann, der sich ebenfalls als Vampir verkleidet hatte. Der hatte zuerst
gruselig gewirkt, war aber eigentlich lustig gewesen, als er so getan hatte, als wäre er mit
Felix verwandt. Nur zu der Idee seines Freundes, sich nach dem Klingeln zu verstecken
und die Leute zu erschrecken, ließ er sich nicht überreden. Das traute er sich dann doch
nicht…
Knapp eine Stunde sammelten sie nun bereits Süßigkeiten und die beiden Stofftaschen,
die sie dabei hatten, füllten sich Stück für Stück. Nur bemerkte Louis allmählich ein
Problem. Die ganze Aufregung und Nervosität schlug ihm doch auf die Blase und er
müsste eigentlich mal pullern. Dabei war er doch kurz bevor sie losgezogen waren sogar
noch einmal auf der Toilette gewesen! Also, nicht wirklich… Aber er hatte seine Blase
entleert!
Natürlich könnten sie jetzt einfach kurz heimlaufen. Vermutlich auch direkt wieder
losziehen. Aber das würde doch einige Minuten Zeit kosten und Felix schien gerade so viel
Spaß zu haben. Und selbst hatte er eigentlich auch keine Lust auf den Umweg… Er würde
schon noch eine Weile durchhalten!
Beim nächsten Haus gab es wieder zum Anlass passende Gummibärchen. Diesmal
Fledermäuse. Skeptisch betrachtete Louis das Päckchen.
„Ist das Lakritze?“, fragte er wenig begeistert, kaum war die Haustür vor ihnen wieder
geschlossen. Für seinen Freund war es unverkennbar herauszuhören, dass er die wohl
nicht mochte. Konnte er verstehen.
„Ich mag die auch nicht so. Aber so in Gummibärchen geht’s. Wenn du willst, können wir
nachher tauschen!“, meinte er. Der Zehnjährige würde sich vermutlich besser dabei fühlen,
wenn er ihm nicht gerade gesagt hätte, dass er die auch nicht so gern mochte. Ihm dafür
etwas Leckeres wegzunehmen erschien ihm ein bisschen gemein. Aber vielleicht gab es ja
auch etwas, das Felix gar nicht mochte. Also war es eigentlich eine gute Idee. Hauptsache
sie hatten am Ende beide etwas davon. In der Hinsicht hatte Louis doch einen sehr
ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.
Mit voranschreitender Zeit nahm die Anzahl der Häuser, bei denen niemand die Tür
öffnete, immer mehr zu. Und nicht nur das. Auch der Druck auf Louis‘ Blase stieg mit jeder
Minute weiter an. Aber sie mussten ohnehin in einer halben Stunde wieder zuhause sein.
Es war sogar schon dunkel, was auch ein bisschen unheimlich war.
„Ähm… Felix?“, hielt er seinen inzwischen auch nicht mehr ganz so energischen Freund
auf. „Können wir langsam zurück? Ich müsste mal aufs Klo…“, gestand er schüchtern.
Felix stoppte und wandte sich ihm zu. Dann überlegte er. Die nächste Straße lag auf dem
Weg und sah eigentlich noch vielversprechend aus.
„Mmmh… Also, ich glaub, in der Straße hier kriegen wir noch was und die führt eh zurück.
Hältst du’s noch ein bisschen aus?“, fragte er schließlich. Nein! Sein Gefühl sagte ihm,
dass er das eigentlich ziemlich sicher nicht tat!
„Ja, glaub schon…“, antwortete Louis trotzdem. Er wollte nicht, dass sein Freund dann
enttäuscht war. Ein paar Häuser würden schon noch gehen…
Felix‘ Gefühl bestätigte sich. Es war eine gute Straße! Direkt die ersten beiden Türen
wurden geöffnet und bereicherten sie mit mehr Süßigkeiten! Das dritte Haus war dunkel,
daran konnten sie direkt vorbeilaufen. Dann folgte ein Haus mit schaurig dekoriertem
Vorgarten. Neben dem klassischen leuchtenden Kürbis standen noch ein paar künstliche
Grabsteine herum. An einem Bäumchen neben der Tür hing ein Skelett mit dunklem
Gewand und mehrere kleinere Plastikfledermäuse hingen vom Vordach herab. Wer auch
immer hier wohnte, mochte Halloween offensichtlich. Das war perfekt!
Als sie sich jedoch der Tür näherten, begann das Skelett auf einmal zu lachen und
erschreckte die beiden. Louis schrie sogar kurz auf, während Felix sofort lachen musste.
Das hatte wohl einen eingebauten Bewegungsmelder. Voll cool! Nur beiläufig, als er sich
zu Louis umdrehte, bemerkte er, wie sein Freund immer noch geschockt das Skelett
anstarrte und für einen Moment seine Hand zwischen seine Beine drückte.
„Alles gut?“, fragte er, obwohl er sich natürlich denken konnte, was los war. Der
Angesprochene nickte und brauchte noch einen Moment, um seinen Blick wieder von dem
gruseligen Ding abzuwenden. Tatsächlich hatte er sich so erschrocken, dass ihm eben ein
kleiner Spritzer in die Unterhose gegangen war. Er hatte es aber schnell geschafft, wieder
einzuhalten. Unauffällig sah er an sich nach unten, während Felix klingelte. Da war
selbstverständlich nichts zu sehen. Es hatte ja nur seine Unterhose erwischt. Außerdem
war es ja auch immer noch dunkel und er trug ein schwarzes Kostüm.
Die Tür wurde von einer alten Dame geöffnet, die sich als Hexe verkleidet hatte. Es folgte
der übliche Ablauf, die beiden erhielten ihre Süßigkeiten und bedankten sich.
„Kann mein Freund schnell bei Ihnen auf die Toilette?“, fragte Felix plötzlich und Louis
spürte, wie ihm schlagartig warm wurde. Wie peinlich war das denn bitte!?
„Natürlich, kein Problem! Das Klo ist gleich hier neben der Tür. Aber setz dich bitte hin,
ja?“, antwortete die alte Dame freundlich. Eine andere Wahl, als bei der fremden Frau aufs
Klo zu gehen, hatte er jetzt wohl nicht. Also nickte Louis und verschwand ohne sie
anzusehen in dem kleinen Gästebad. Er sperrte die Tür ab und atmete erstmal durch. Das
war vermutlich besser als nochmal erschreckt zu werden und in die Hose zu machen…
Zumindest wäre dieses Problem damit erledigt. Aber man, Felix! Ernsthaft!?
Als er fertig war, wusch er sich brav die Hände und verließ das Badezimmer wieder. Felix
hatte in der Zeit noch mehr Süßigkeiten für sie bekommen, da die Hexe noch recht viele
übrig hatte.
„Danke…“, murmelte Louis noch einmal, während er mit gesenktem Blick an ihr vorbei und
wieder nach draußen lief. Kaum hatte sie dir Tür hinter ihnen geschlossen, wandte er sich
seinem besten Freund zu: „Wieso hast du das gemacht…? Das war voll unangenehm!“
Felix blieb stehen, griff nach seinem Arm und drehte ihn zu sich. Sein Blick wirkte
irgendwie ernst. Kein Lachen oder breites Grinsen, wie sonst immer.
„War ja wohl besser so, oder? Wieso hast du nicht gesagt, wie dringend es ist!?“, fragte er.
Er sprach leise, aber klang trotzdem vorwurfsvoll. Louis wandte eingeschüchtert den Blick
ab.
„Weil…“, murmelte er und bemühte sich, die richtigen Worte zu finden: „Ich wollte dir nicht
den Spaß verderben…“
Felix verzog ein wenig das Gesicht: „Das versteh ich. Aber schwindeln ist keine Option! Ich
will nicht, dass du mich anlügst!“
Louis senkte schuldbewusst den Kopf und sah zu Boden. Sein Freund war offensichtlich
sauer und das wohl zurecht. Und trotzdem hatte er ihm gerade sogar noch geholfen.
„Tut mir leid, dass ich gelogen hab…“, murmelte er und erinnerte sich gleichzeitig wieder
daran, dass er ihn ja eigentlich schon öfter belogen hatte. Dann herrschte Schweigen.
Einige Sekunden vergingen, die sich für den Zehnjährigen unerträglich lang anfühlten.
Felix seufzte: „Schon gut. Mach das einfach nicht nochmal.“ Er wollte bereits weiterlaufen,
da hielt Louis ihn noch einmal auf.
„Was… wenn ich dich schon mal belogen hab?“, fragte er unsicher. Felix blieb erneut
stehen, sah ihn einen Moment an und setzte sich dann auf den Rand des Bürgersteigs.
Ein bisschen taten ihm inzwischen die Füße weh vom Laufen.
„Wann?“, fragte er. Zaghaft setzte sich Louis neben ihn, zog die Beine dabei eng an sich
und umschlang sie mit seinen Armen.
„Mehrfach…“, gestand er leise. „Weil ich voll das große Geheimnis vor dir hab…“
„Was für ein Geheimnis?“, wollte Felix wissen.
„Naja… Das kann ich nicht sagen“, antwortete Louis.
„Peinlicher als deine Schnuller-Aktion kann es wohl kaum sein“, kicherte sein Freund und
versuchte ihn damit wohl zu überzeugen. Er konnte ja nicht wissen, dass er gerade damit
eher das Gegenteil bewirkte. Louis wandte wieder seinen Blick ab und starrte betrübt auf
die Straße. Offensichtlich war sein Geheimnis schlimmer und Felix merkte, wie schwer ihm
das fiel.
„Dann…“, meinte er nachdenklich: „Dann will ich es nicht wissen!“ Louis sah ihn ein wenig
überrascht an. „Es ist okay, wenn du Geheimnisse hast. Du musst mir nicht alles sagen“,
erklärte er. „Umso mehr bedeutet es mir, wenn du es mir irgendwann anvertraust.“
Louis wollte es ihm ja anvertrauen. Er vertraute ihm. Wirklich! Aber er konnte es nicht… Er
war einfach noch nicht bereit dazu. Doch es half, zu wissen, dass das für Felix okay war.
Also lächelte er schwach und nickte. Der Neunjährige stand auf und reichte ihm die Hand,
um ihm aufzuhelfen.
„Lass uns zurückgehen, ich hab Hunger!“, meinte er. Erst jetzt fiel Louis auf, dass sie
heute Abend ja noch gar nichts gegessen hatten. Er selbst hatte auch Hunger, wie er jetzt
erst bemerkte. Lena wollte Spaghetti Bolognese kochen, während sie unterwegs waren. Er
hatte ihr erzählt, dass das Felix‘ Lieblingsessen war. Vermutlich war das ein guter
Zeitpunkt, um nach Hause zu gehen. Also machten sie sich gemeinsam auf den Heimweg.
Louis warf einen letzten Blick zu dem Skelett im Vorgarten der Hexe. Er war sich nicht
sicher, ob es bei ihnen für einen Streit gesorgt hatte, oder ob es dafür verantwortlich war,
dass sie sich jetzt noch ein kleines bisschen näher standen. Er wusste auch nicht, ob er
irgendwann bereit dazu wäre, Felix sein großes Geheimnis anzuvertrauen. Aber eines
wusste er sicher. Er hatte heute Abend eine Menge Spaß gehabt und er würde sein erstes
richtiges Halloween nie vergessen!
Autor: Lucas2242
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