Bahnhof Friedrichstraße (2)
Windelgeschichten. präsentiert: Bahnhof Friedrichstraße (2)
Kapitel 2
Die fünfzehnminütige Fahrt zum Bahnhof Friedrichstraße erwies sich für einen Neunjährigen wie mich zunächst als sehr eintönig. Dunkle Tunnelabschnitte die mich an der Sinnhaftigkeit von Fenstern in Ubahnzügen zweifeln ließen wechselten sich ab mit grün oder ockergelb gekachelten Bahnstationen, in denen wir jeweils kurz anhielten und Leute zusteigen ließen – oder aussteigen. Der Zug leerte sich mehr, als dass er sich füllte. Onkel Riccardo und meine Mama redeten über früher, ich hörte nur halb zu und hatte bald den Faden verloren. Stattdessen stellte ich mir Paris vor, die berühmte Stadt, noch berühmter und so viel größer als Berlin, in der wir morgen Mittag ankommen würden. Erst als plötzlich die Wand vor meinem Fenster weg war und eine weitere, merkwürdig aussehende Haltestelle zu sehen war, passte ich wieder auf. Der Bahnsteig war nur schummrig beleuchtet und völlig leer, bis auf einen in Militärgrün gekleideten Mann mit … mit Maschinenpistole! Er hatte eine ungewöhnliche Mütze an und sah, so fand ich damals, gar nicht aus wie ein echter Soldat. Unsere Bahn wurde langsamer, doch hielt gar nicht an. Verwundert drehte ich mich um, um den Mann mit der Pistole länger anschauen zu können
„Das ist einer der sogenannten Geisterbahnhöfe“, erklärte mir Onkel Riccardo, ohne dass ich gefragt hatte.
„Geisterbahnhöfe?“, wunderte ich mich. Das klang wie etwas aus einem Enid Blyton-Roman! Erst vor kurzem hatte ich ,Fünf Freunde im Zeltlager‘ auf Europa-Kassette gehört, eine Geschichte, in der die Detektivbande es mit einem unbekannten Zug auf einer Strecke, die es eigentlich gar nicht geben sollte zu tun hatten. Aber uns gab es, wir waren eine ganz normale U-Bahn!
Onkel Riccardo lächelte mich an, vermutlich hatte er Sorge, ich würde sonst Angst bekommen. Dabei war das völlig unbegründet, ich war immerhin schon Neun Jahre Alt: „Über uns ist jetzt Ostberlin“, erklärte er leise: „Doch die U6 ist eine Westberliner U-Bahn, sonst würden wir hier ja auch von den Grenzern kontrolliert. Die U6 fährt einfach unter Ostberlin durch ohne zu halten, also außer in Friedrichstraße. Und am anderen Ende kommt sie wieder bei uns im Westen raus! Wir werden jetzt durch mehrere Haltestellen fahren, die es noch von früher gibt, bevor es die Mauer gab, die aber heute verboten sind!“, erklärte er.
Ich staunte. Sofort schwirrten mir die verschiedensten Fragen im Kopf herum: „Glaubst du … warum war da der bewaffnete Soldat?“, fragte ich als erstes.
„Das war kein Soldat, sondern einer der DDR-Grenzer …“, antwortete mir Onkel Riccardo.
„Warum hat er eine Maschinenpistole?“, wunderte ich mich: „Gibt es hier so viele Räuber??“
Onkel Riccardo schüttelte mit dem Kopf und überlegte kurz, bevor er mir antwortete: „Der Grenzer passt nicht auf Räuber auf. Sondern darauf, dass keiner aus Ostberlin in diesen Zug steigen kann!“
Ich staunte mit offenem Mund, aber verstand natürlich. In den letzten Tagen hatte ich einiges über die DDR und Ostberlin erfahren, zum Beispiel als wir an der Mauer waren und die Grenzanlagen angeschaut hatten. Eine endgültig aussehende, riesige Mauer mit Wachtürmen und Patroullienfahrzeugen, so etwas hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen. Ich wusste auch, dass wir nicht einfach so in den Osten durften, dafür hätten wir erst irgendwas beantragen müssen. Aber vor allem wusste ich, dass es Menschen in Ostberlin und in dem ganzen Land, dass Westberlin auf allen Seiten umgab, absolut verboten war, auf unsere Seite der Mauer zu kommen.
„Onkel Riccardo?“, fragte ich nachdem ich eine Weile lang nachgedacht hatte: „Was glaubst du, wird die Mauer irgendwann wieder weg sein?“
„Also so viel wie die wieder gebaut haben, am Brandenburger Tor aber auch unten im Westend …“, verlor sich Onkel Riccardo in Details, redete über den ganzen Beton, der nötig war um eine so riesige Mauer zu bauen und wie es bemerkenswert war, wie gut der Bau der Mauer und die Instandhaltung lief, nicht nur in Berlin, sondern im ganzen Land – er war eben Bauarbeiter durch und durch gewesen, sein ganzes Leben lang. Doch irgendwann stockte er mitten im Satz und besann sich zurück auf meine Frage: „Flori, vielleicht erleben wir das eines Tages einmal. Dass es keine Mauer mehr gibt und Berlin einfach eine normale Stadt in Europa ist, so wie Paris. Und wenn es mich dann nicht mehr gibt, dann denkst du an diesen Augenblick an mich!“
Diese Aussage stellte mich nicht wirklich zufrieden, hatte ich mir doch eine konkretere Auskunft von meinem Onkel, der auf Großbaustellen in Gesamt-Westberlin arbeitete, erhofft. Ich nickte schnell und sah wieder aus dem Fenster, wo wir in diesem Moment einen weitere Geisterbahnhof passierten. Wieder zwei grüne Grenzer mit großen Schirmmützen. „Norbahnhof“, konnte ich auf einem großen, verblichenen Schriftzug an der Wand lesen. Ich beugte mich, immer noch auf meinem Sitz kniend, nach vorne und presste meine Hände gegen die Scheibe, um mein Sichtfeld vor der Reflektion der Lampen in unserem Waggon abzuschirmen und sah hinaus. Nach vorne gebeugt und noch dazu kniend spürte ich ein weiteres Mal, dass ich pieseln musste. Nicht dringend, aber wozu lohnte es sich jetzt noch, einzuhalten? Ich ließ einfach laufen, und es wurde wieder warm in meinem Schritt.
Die Grenzer sahen ernst aus. Einer sah direkt auf unsere Bahn. Ich nahm eine Hand von der Scheibe und winkte ihm zu, doch er zeigte keine Regung.
„Flori, nicht!“, ermahnte meine Mama mich.
„Warum nicht, Mama?“, fragte ich, während unsere Bahn wieder im Tunnel verschwand und mein Pipi langsam nach unten zwischen meine Beine lief.
„Weil man das nicht macht!“, lautete die wenig erklärende Antwort von meiner Mutter: „Gleich im Bahnhof Friedrichstraße Winkst du auch keinem, sondern bleibst an meiner Hand, in Ordnung?“, versicherte sie sich.
Ich nickte, auch wenn ich mir ein bisschen bevormundet vorkam. Da Mutter und ich viel reisten seitdem Papa weg war, waren wir schon in allerlei Bahnhöfen gewesen und ich hatte das System aus nummerierten Bahnsteigen und alphabetisierten Abschnitten, das es überall gab, gut verinnerlicht.
„So, wir sollten gleich da sein!“, verkündete Onkel Riccardo kurz danach mit Blick auf seine Armbanduhr, nahm einen der beiden Koffer und überlies Mutter und mir wieder den Zweiten.
Am U-Bahn-Gleis war gar nicht so viel los. Die Zeiger der Bahnsteiguhr zeigten kurz vor Acht Uhr Abends und Onkel Riccardo ging zielstrebig voran. Ortskundig führte er uns durch ein regelrechtes Ganglabyrinth und ich verstand, warum er uns bis zum Bahnsteig begleitete. Dadurch, dass Mama und ich einen unserer Koffer trugen, konnte ich zwar nicht ihre Hand halten, aber ansonsten hätte ich es sicher getan. Anstatt Treppen nach oben zu nehmen, liefen wir durch einen einen schier endlos wirkenden, schmalen Gang. An dessen Ende gelangten wir zu einem weiteren unteridischen Bahnsteig, den wir entlangliefen, nur um dort in der Mitte eine Treppe zu erklimmen. Hier gab es weder Rolltreppe noch Fahrstuhl, sodass ich meinem Onkel doch noch meine Stärke demonstrieren konnte. Erst danach erreichten wir die mir gewohnte Ebene zwischen unterirdischen U-Bahnsteigen und den über uns befindlichen Eisenbahngleisen, die so gut wie jeder Großstadtbahnhof den ich kannte, hatte.
Doch auch hier was es eng und es gab kaum Geschäfte, so wie ich es kannte.
„So“, stellte Onkel Riccardo seinen Koffer ab: „Euer Zug fährt in etwas mehr als einer Stunde hier, von Bahnsteig A ab. Ich gehe noch schnell in den Intershop und nehme dann meine Bahn wieder nach drüben. Flori, willst du mitkommen?“
Er deutete auf einen der wenigen Läden. Ein weißes, hinterleuchtetes Schild mit rotem Siebzigerjahre-Schriftzug prangte darüber: ,intershop‘, klein geschrieben und mit untereinander verbundenen Buchstaben, etwa so wie auf den Bussen von Kässbohrer, die bei uns im Ort fuhren.
Gespannt nickte ich, schließlich gab es an diesem Bahnhof ja sonst nichts zu tun! Wir ließen meine Mutter mitsamt Koffern zurück und gingen in den kleinen Laden.
„Du darfst dir auch etwas aussuchen“, zwinkerte Onkel Riccardo mir zu, während er sich ein paar Zigarettenpackungen nahm.
Ich war begeistert: „Oah, was denn?“
„Naja, was du halt findest …“, antwortete er und so sah ich mich in dem kleinen Laden um. Es gab Bücher, deren Namen mir nichts sagten, Kaffee und Alkohol. Ich war ein bisschen ernüchtert: „Gibt es hier noch andere Läden?“, fragte ich meinen Onkel.
Der schüttelte stumm mit dem Kopf.
Schließlich entschied ich mich für eine Tafel Schokolade sowie eine Flasche Cola. Keine Coca-Cola, stattdessen klebte ein simples gelbes Etikett auf der Flasche, auf dem ,Vita Cola‘ stand. Aber das war mir egal. Cola durfte ich sonst nur zu besonderen Anlässen trinken, aber jetzt kaufte Onkel Riccardo sie mir, sodass Mama kaum etwas dagegen sagen konnte.
„Riccardo, so eine große Cola? Es ist doch schon halb Neun!“, störte sie sich dennoch daran, als wir aus dem Laden zurückkamen und wohl Beide etwas verlegen ausgesehen haben mussten, Riccardo bepackt mit Zigarettenschachteln und ich mit Cola und Schokolade.
„Ach Helga …“, verteidigte mein Onkel uns: „Heute hat Flori doch eh einen langen Tag, da schadet’s bestimmt nicht, wenn er ein bisschen länger wach bleibt … außerdem … müssen wir doch unseren Abschied feiern, sozusagen …“
Mir hätte Mama diese Ausrede niemals abgenommen. Doch ihren Bruder lachte sie an und nickte. Ich, der die kalte Cola mit seinen Armen umklammerte wie einen Schatz, konnte aufatmen. Onkel Riccardo half uns noch, unsere Koffer bis hoch zum Gleis zu tragen – immerhin konnte ich nun nicht mehr mit anpacken, da ich ja nun meine Flasche zu tragen hatte – bevor wir uns verabschiedeten. Zum Abschied hob mich mein Onkel hoch als wäre ich noch ein kleiner Junge und drehte mich im Kreis umher, woraufhin ich lauthals lachen musste.
Als Mama und ich anschließend allein auf dem auch ansonsten sehr leeren Bahnsteig standen, ließen wir uns auf der nächsten Wartebank nieder. Das meiste, was ich auf unseren Reisen über Bahnhöfe gelernt hatte, galt hier nicht. Es gab keinen Wagenstandsanzeiger, dem wir entnehmen könnten, wo am Bahnsteig unser Schlafwagen halten würde. Nein, der Bahnsteig hatte ja nichtmal eine Nummer, sondern hieß auf beiden Seiten „Bahnsteig A“ – obwohl es links und rechts jeweils ein Gleis gab. Der weiße Strich, hinter dem man sich aufhalten musste wenn der Zug noch nicht angehalten hatte war viel breiter als ich das sonst kannte und ein wirklich sehr großes Schild wies darauf hin, dass man die weiße Linie erst nach einer ,Aufforderung‘ übertreten durfte.
Wenigstens eine Zuganzeige hing von der Decke herab so wie ich es kannte. Unser Zug stand schon ausgeschrieben, mit Ankunftszeit um 21:15. Wir mussten also nur noch eine gute halbe Stunde warten, stellte ich erfreut wie erleichtert fest. Trotz des reichhaltigen Abendessens, dass wir bei meiner Tante gegessen hatten, verdrückte ich die Schokoladentafel in weltraumtauglicher Lichtgeschwindigkeit und sehnte den Moment herbei, an dem der internationale Nachtzug auf unserem Bahnsteig rollen würde.
Gierig griff ich nach der Colaflasche, die ich vor meinen Beinen abgestellt hatte und nahm einen großen Schluck. Verwundert stellte ich fest, dass diese Cola anders schmeckte als die, welche ich kannte. Also nicht ein bisschen merkwürdig wie Pepsi, sondern wirklich ganz anders! Nach Zitrone. Aber das war trotzdem lecker.
Angesichts der Warterei schaukelte ich mit meinen Füßen hin und her, trank einen weiteren Schluck Cola und dann den nächsten, während meine Mutter in ihrem Roman las. Mein Buch hatte ich leider schon auf der Hinfahrt zu Ende gelesen, sodass mir zusehends langweiliger wurde. Ich sah mich um in diesem merkwürdigen Bahnhof, der über ein Glasdach verfügte, wie ich es aus den modernen Bahnkathedrahlen in Köln, Hamburg und München kannte, war aber sehr klein. Nur vier Gleise gab es hier, wobei ich, wenn ich nach draußen sah, sehen konnte, das zwei weitere Schienenpaare abzweigten, die in einer zweiten Bahnhofshalle hinter unserer endeten. Doch der Blick dahin wurde durch eine große, glänzende Metallwand versperrt.
Nur ein paar alte Leute saßen an unserem Bahnsteig, ein Mann mit großem Rucksack, langem Bart und eine Frau, die etwa so alt wie Mama war. Keine anderen Kinder, mit denen ich spielen konnte. Am Bahnsteig gegenüber war gar niemand, auch wenn ich mich alleine nicht rüber getraut hätte.
Stattdessen ging ich, mit der Cola in der Hand an unserem Bahnsteig spazieren. Je weiter ich den Bahnsteig entlang ging, desto stärker wehte mir eine kalte Brise in meinen damals noch strohblonden Haaren. Nach etwa fünfzig Metern war die Bahnhofshalle vorbei, doch der Bahnsteig ging weiter. Direkt unter der Brücke, auf der sich der gesamte Bahnhof befand, war nun die Spree. Auf der linken Bahnsteigseite war in naher Entfernung die Mauer zu sehen, die an diesem Ort in Form von zwei Betonmauern mit Fahrbahn dazwischen daherkam. Ein Jeep fuhr den Weg entlang und die Scheinwerfer, die an den Aussichtstürmen und an den Mästen angebracht waren, punkteten grelles Licht in die Nacht. Und dahinter, auf unserer Seite der Mauer, thronte der Reichstag hell erleuchtet in der Nacht, so als wolle er den Grenzsoldaten, den Mauerleuten und den DDR-Chefs zeigen, was es auf der anderen Seite der Mauer zu sehen gab! Es mag merkwürdig, vielleicht auch unangebracht erscheinen, aber ich habe mich in meinem Leben kaum je wieder so frei gefühlt wie in diesem Moment. Ich nippte an einer Cola, die ich eigentlich gar nicht hätte trinken dürfen, sah aus einem Staat, in den ich gar nicht reindurfte hinaus auf mein Heimatland und wusste, dass ich noch eine ganze Woche Herbstferien mitsamt vier Tagen in Paris vor mir hatte und freute mich auf unser Abteil im Schlafwagen!
Eine Weile lang beobachtete ich die Soldatenautos, die an der Mauer entlangfuhren während ich wieder etwas Pipi in meine feuchtwarme Windel tröpfeln lies. Jetzt, wo ich stand, anstatt zu sitzen, ronn der heiße Urin gradewegs zwischen meine Beine, sodass es nun auch dort schön warm wurde. Ich muss zugeben, dass ich dieses Gefühl angenehm, geradezu beruhigend fand. Auch das Brandenburger Tor entdeckte ich, diesmal von der anderen Seite als von der Aussichtsplattform, die wir gestern noch besucht hatten – wobei es natürlich von beiden Seiten gleich aussah und entsprechend unspektakulär. Die Asphaltfläche dahinter, die man nur aus dieser Richtung aussehen konnte, erinnerte mich hingegen an den Verkehrsübungsplatz, auf dem wir vor kurzem mit der Schulklasse gewesen waren und auf dem ich meinen Fahrradführerschein gemacht hatte. Kurz stellte ich mir vor, wie es wohl wäre, mit meinem Fahrrad dort entlangzufahren, doch dann lies mich das Rumpeln eines Zuges aufschrecken. War das schon unserer Nachtzug? Eilig sprintete ich zurück in die Bahnhofshalle, spürte dabei meine dicke Pampers an meinen Oberschenkeln reiben und sah, noch bevor ich wieder drinnen angekommen war, dass das Rumpeln wohl von einer S-Bahn kommen musste, die aus dem durch die Metallmauer abgetrennten Bereich weiter in Richtung Osten reinfuhr.
Als ich auf die großen Zeiger der Bahnhofsuhr blickte, musste ich trotzdem erstaunt feststellen, dass es bereits zehn nach Neun war, unser Zug also jeden Moment einfahren würde.
„Mama, der Zug kommt gleich!“, verkündete ich aufgeregt, als ich wieder zurück zu meiner Mutter gelaufen war. Ich griff schon nach dem Henkel des Koffers, doch meine Mutter klappte ihr Buch noch nicht zu. Sie hob ihren Kopf und lächelte mich beruhigend an: „Möppel, unser Zug hält doch eine ganze Viertelstunde hier, die müssen doch erstmal schauen, dass sich niemand drinnen versteckt ist der nicht weiterfahren darf. Wir haben schon genug Zeit einzusteigen, keine Sorge. Setz dich doch erstmal!“
Doch nach sitzen war mit in diesem Moment eigentlich nicht zu Mute, vielleicht wegen den Unmengen von Cola, die ich in der letzten halben Stunde getrunken hatte. Den Koffer stellte ich trotzdem ab und lief stattdessen den Bahnsteig auf und ab, blieb aber in der Nähe der Bank auf der meiner Mutter, immerhin konnte jeden Moment unser Zug einfahren.
Doch der Zug kam nicht.
„Mama, der hat Verspätung!“, verkündete ich um zwanzig nach Neun.
Um halb Zehn wurden auch die anderen Fahrgäste unruhig. Mama klappte ihr Buch zu und sah zum Zuganzeiger, auf dem unser Zug immer noch wie vorher ausgeschrieben stand, obwohl er jede Minute würde abfahren müssen und noch nichtmal eingefahren war.
Zehn Minuten später, um fast viertel vor Zehn stand Mama auf und wir gingen zusammen zu dem Schalter in der Mitte des Bahnsteiges in dem ein einsamer, junger Reichsbahner seinen Dienst tat und nicht mehr zu wissen schien als wir. Er bestätigte uns, dass wir am richtigen Gleis waren und ja, der D240 müsse eigentlich längst eingefahren sein.
Doch auch als es zehn Uhr schlug, hatte sich die Lage kaum verändert. Meine Colaflasche war jetzt leer und ich musste, oh Wunder, mittlerweile dolle pullern, doch dafür war ich grade zu angespannt und hielt stattdessen lieber ein. Unser Zug ließ weiter auf sich warten und Informationen ebenso.
„Komm“, nahm mich Mama an der Hand: „Wir gehen jetzt nochmal zum Schalter. Wenn der Bursche da nicht mehr weiß, dann soll er eben wen anders ranhohlen!“
Eine alte Dame schien sich vor uns die Zähne an dem Beamten ausgebissen zu haben und schüttelte nur resigniert den Kopf, als sie uns entgegen kam.
„Entschuldigung?“, bat meine Mama und ich stellte mich neben ihr auf Zehenspitzen, sodass ich grade so in das innere der kleinen Barracke schauen konnte. Der Reichsbahner saß an einem olivgrünen Telefon, schien jemandem zuzuhören und nickte.
„Enntschuldigung??“, wiederholte meine Mutter erneut und erst jetzt wirkte der Mann so, als hätte er uns überhaupt bemerkt. Er nickte uns zu doch das war alles, was er in den nächsten zwei Minuten tat. Ich legte meine Arme gelanweilt auf die Fensterbank des Bahnschalters und verschränkte meine Beine um meinem drängenden Harndrang entgegen zu wirken. Schließlich wollte ich doch einhalten, bis wir endlich im Zug waren!
„Was kann ich für sie tun?“, fragte der Reichsbahner, nachdem er sein Telefonat endlich beendet hatte und zu uns ans Fenster vorgegangen war.
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„Mein kleiner Sohn und ich …“, Mama legte ihren Arm und meine Schultern: „ … wir warten auf den D240 und uns ist schon ganz kalt! Können sie irgendetwas sagen, was …“
Der Reichbahner ging etwas näher ans Fenster und sah nach links und nach rechts: „Von wo kommen sie?“, fragte er Mama.
„Aus dem Rheinland“, antwortete meine Mutter: „Wir sind hier nur auf der Durchreise.“
Merkwürdigerweise schien diese Antwort den Beamten zu beruhigen. Er lehnte sich zu uns nach vorne und raunte: „Nu, wie sie sich sicher denken können, liegt das an den heutigen Ereignissen, dass der D240 …“
„Mama, welche Ereignisse denn??“, rief ich dazwischen, obwohl ich eigentlich wusste, dass ich in diesem Moment den Mund halten müsste. Aber was war passiert? Irgendetwas schlimmes? Mein Herz klopfte.
„Ja?“, schien auch meine Mutter ahnungslos: „Was denn für …“
„Na haben sie noch nichts von der Rede vom Genossen Schabowski gehört?“, wunderte sich der Mann und blickte in das ahnungslose Gesicht meiner Mutter: „Von wem??“
„Nu, ist ja … naja, für sie ist das ja auch gar nicht so wichtig“, realisierte der junge Mann und kratzte sich an seinen Bartstoppeln: „Uns hier an der Grenze lässt man jedenfalls alleine. Niemand weiß auch nur irgendwas“, regte er sich auf: „Was soll ich ihnen sagen? Nu …“, stockte er und sah in unsere gespannten Gesichter: „Also, wenn der D240 kommt, dann auf jeden Fall hier. Es gibt keine anderen Gleise die in den Westen führen außer die beiden an diesem Bahnsteig. Un der Zug? Aktuell steht’er noch am Hauptbahnhof und darf nicht ausfahren, weil da drüber auch niemand weiß, wer denn nun mitfahren darf und wer nicht. Am besten setzen sie erstmal wieder hin, wenn der Zug einfährt bekommen wir das schon mit. Und der braucht hier eh mindestens ne Viertelstunde am Bahnsteig, egal wie spät er ankommt.“
Meine Mutter war nicht grade begeistert. „Ich weiß doch auch nicht mehr!“, bekräftigte der junge Beamte Anfang zwanzig beinahe verzweifelt: „Wollen sie einen Tee, gegen die Kälte??“
Ohne auf die Antwort meiner Mutter zu warten drehte sich der Mann um und griff zwei Tassen aus einem schiefen Wandregal, goss Tee aus einer Kanne hinein und stellte ihn zu uns auf die Fensterbank.
Meine Mutter seufzte: „Danke.“
„Danke“, sagte auch ich Pflichtschuldig, doch rührte meine Tasse nicht an. Nach der ganzen Flasche Cola hatte ich jetzt natürlich keinen Durst mehr. Meine Mutter nahm einen vorsichtigen Schluck aus der Tasse, bevor sie an das Gespräch mit dem Reichsbahner fortführte, doch da hatte ich schon nicht mehr zugehört. Vielleicht hatten sie über belangloses gesprochen, das Wetter oder so. Vielleicht aber hatte der Reichsbahner ihr auch von der Pressekonferenz vor zwei Stunden erzählt, die in die Geschichte eingehen sollte.
Für meinen Geschmack tat sich am Bahnschalter jedenfalls zu wenig, daher lief ich wieder den Bahnsteig hinter nach draußen vor das Ende der Bahnhofshalle. Auch, weil ich in Ruhe pieseln wollte. Nicht, dass ich das, dank dicker Windel, nicht auch vorne am Schalter hätte tun können, aber ich wollte nunmal etwas mehr Privatsphäre.
Als ich draußen ankam, musste ich mir schon eine Hand zwischen die Beine drücken. Aber hier war ich wenigstens allein. Am Bahnsteigkopf hockte ich mich hin, seufzte und lies endlich locker. Meine Augen wurden wässrig und ein wohliger Schauer überkam mich, während ich mein Pipi endlich laufen lies. Ich schloss die Augen und entspannte mich. Ein kräftiger Strahl schoss in meine Pampers und machte Vorne alles frisch warm – Nass war es ja die ganze Zeit schon. Doch es lief und lief. Zuerst hielt ich die Luft an, wie ich das oft machte beim pullern, aber diesmal dauerte es zu lange dafür. Mein ganzer Popo fühlte sich schon an als würde ich in einer Pfütze sitzen, da musste ich wieder Luft hohlen.
Und es lief weiter. Das Pipi sammelte sich zwischen meinen Beinen wie in einem See und kroch an meinem Po gleichzeitig langsam nach oben.
Erst als ich fertig gepinkelt hatte, öffnete ich meine Augen wieder. Zwischen meinen Beinen fühlte ich mich jetzt wie in einer Badewanne, alles war vollkommen durchnässt und ich wusste, dass ich jetzt erst einmal stillhalten musste, sodass die Pampers alles langsam aufsaugen konnte.
Doch das was ich sah als ich die Augen öffnete, lies mich meine Windelsituation augenblicklich völlig vergessen. Ich blinzelte zweimal und glaubte, meiner eigenen Wahrnehmung nicht trauen zu können. Doch dann war ich mir sicher!
Ich sprang auf und rannte, so schnell es meine pralle Windel zulies wieder nach drinnen um meiner Mutter zu berichten, was ich draußen gesehen hatte! Es war so unfassbar, dass ich schon befürchtete, dass sie mir nicht glauben würde.
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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Bitte die Geschichte fortsetzen.
Das mache ich auf jeden Fall, keine Sorge! 🙂
Oh nein, dieser Cliffhanger!
Spannend, oder? Was glaubst du denn, was hat Florian gesehen? 🙂
Tolle Geschichte ich freue mich schon auf Teil 3