Bahnhof Friedrichstraße (3)
Windelgeschichten. präsentiert: Bahnhof Friedrichstraße (3)
Kapitel 3
So schnell mich meine pelikanblauen Turnschuhe trugen rannte ich zu meiner Mutter zurück. Der kalte Wind wehte durch meine Haare und aus der Bahnhofshalle kroch mir der Geruch von Schmierfett, Öl und warmem Eisen entgegen. Bei jedem Schritt spürte ich meine Oberschenkel an der deutlich herabgesackten, klitschnassen Windel reiben. Auch an meinem Po war die Pampers mittlerweile fühlbar schwer geworden und wackelte bei jedem Laufschritt leicht nach links und rechts. Das nahm ich aber nur im Hinterkopf war, zu unglaublich war das, was ich grade gesehen hatte.
„Mamaaaa!“, rief ich, als ich noch etwa zwanzig Meter von dem kleinen Bahnschalter entfernt war an dem meine Mutter sich immer noch mit einem Reichsbahner unterhielt und dabei Tee trank: „Da draußen … das musst du gesehen haben!“
Ohne anzuhalten rannte ich gradewegs in ihre Arme und die Distanz, die im letzten Jahr zwischen uns aufgekommen war, seitdem Papa nicht mehr da war, war plötzlich weggeblasen. Niemand hatte Schuld und wir beide lebten nur in diesem Moment. Ich umarmte meine Mama und sah begeistert hoch zu ihr.
„Möppel, was hast du denn?“, wunderte sie sich leicht verlegen und wuschelte mir durch mein strohblondes Haar.
„Auf der Mauer, am …“, setzte ich an, doch wechselte noch im Satz meine Strategie: „Das musst du gesehen haben, komm mit!“, sagte ich, denn selbst als Neunjähriger wusste ich, dass mir niemand glauben würde, wenn ich sagen würde was ich soeben gesehen hatte. Ich konnte es ja selbst kaum.
Ich nahm meine Mama an der Hand und zerrte sie förmlich nach draußen an das Bahnsteigende. Überrumpelt hatte sie unsere Koffer am Schalter stehen gelassen, aber auf diesem menschenleeren Bahnsteig war das natürlich kein Problem.
„Guck!“, sagte ich stolz und aufgeregt und deutete nach links, wo sich hinter dem asphaltierten Platz das Brandenburger Tor in der Dunkelheit hell erhob.
Sechs Personen in bunten Jacken standen auf der Berliner Mauer direkt hinter dem Brandenburger Tor. Sie schienen nicht auf der Flucht zu sein sondern standen seelenruhig auf der massiven Grenze als hätten sie alle Zeit der Welt. Sie winkten in die DDR hinein und schienen gradezu euphorisch.
„Oh Gott!“, war die erste Reaktion meiner Mutter. Ein entsetztes Staunen. Ich sah wie ein DDR-Militärlkw hinter auf dem großen Asphaltplatz hielt, etwa dort wo heute das Adlon steht. Einer dieser altmodischen Lastwagen mit runden Motorhauben und schmalen Reifen, die es bei uns im Westen längst nicht mehr gab.
Dann wurde es dunkel vor meinen Augen: „Schau nicht hin, Schatz“, flüsterte meine Mutter sorgenvoll und hielt mir die Augen zu: „Die schießen bestimmt jeden Moment!“
„Mamaaa!“, wehrte ich mich genervt während meine Mutter ihren freien Arm schützend um meinen Oberkörper legte, auch wenn uns Beiden natürlich keine Gefahr drohte in diesem Moment. Wir waren ganz still. Ich lauschte in die Nacht hinein und erwarte Maschinengewehrsalven, wie ich sie aus Actionfilmen kannte. Doch es passierte nichts.
Ich spürte den sicheren Griff meiner Mutter, meinen warmen doch kratzigen Anorak und die schwere, durchnässte Windel an meinem Po. In meinen Ohren hörte ich nur den Wind und den aufgeregten Herzschlag meiner Mutter.
Dann nahm Mama ihre Hand wieder von meinen Augen: „Flori, es ist alles gut“, flüsterte sie beruhigend: „Sieh nur, sie steigen von selbst von der Mauer!“, zeigte sie mir. Und tatsächlich. Putzmunter und weiterhin gut gelaunt stieg die Menschengruppe von der Mauer runter in den Westen.
„Was machen denn die ganzen Menschen da unten?“, wunderte sich Mama jetzt, wo die Situation auf der Mauer ohne Gewalt entschärft worden war. Und tatsächlich, es war mir bislang gar nicht aufgefallen, aber auf der anderen Seite des Brandenburger Tors, am Ende des Pariser Platzes, wo der Schlagbaum die DDR-Sperrzone markierte, tummelte sich ein aufgebrachter Pulk von Menschen. Doch die Menschen waren nicht wütend, sondern wirkten fröhlich, so als würden sie vor dem Fußballstadion anstehen, oder vor dem Freibad. Doch ich hatte schon die nächste ungewöhnliche Menschenansammlung entdeckt: „Mama, schau mal, unten am Bahnhof sind auch ganz viele von Denen!“
Und tatsächlich, um einen gläsernen Anbau am Bahnhof drängten sich die Menschen als wäre dort Kirmes. Jahrzehnte später erfuhr ich, dass man diesen Anbau damals ,Tränenpalast‘ genannt hatte, da sich dort drin die Grenzabfertigung für den Bahnhof Friedrichstraße befand, in dem fast dreißig Jahre lang Familien getrennt und andere vereint worden waren. Hier hatten Menschen ihr Heimatland zum letzten Mal gesehen, oder ihre Verwandten. Und heute Abend schienen plötzlich Alle auf einmal wegzuwollen.
„Mama, was passiert hier? Ist die DDR jetzt ganz kaputt?“, fragte ich verstört.
Meine Mutter blickte fast so ratlos wie ich zwischen dem Brandenburger Tor und dem Tränenpalast hin und her: „Ich weiß es nicht … das muss mit dem, was Rheinhold erzählt hat, zu tun haben!“
„Wer ist Rheinhold?“, fragte ich verwundert.
„Der Mann im Bahnschalter“, klärte mich meine Mutter auf: „Komm mit, ich muss ihn nochmal fragen.“
Sie nahm mich an der Hand und erst nachdem wir losgelaufen waren, bot sie mir an: „Oder willst du lieber hierbleiben und zuschauen?“
Meine Antwort war eindeutig: „Nein Mama, ich bleib bei dir!“
„Rheinhold!“, rief meine Mutter aufgeregt, kaum waren wir wieder am Schalter. Unsere zwei Teetassen dampften noch auf der Auslage und auch unsere Koffer standen dort, wo wir sie stehengelassen hatten.
„Was hatten sie gesagt, was wurde heute verkündet?“, fragte Mama während ich an meiner Teetasse nippte.
„Die Ausreise aus der DDR! Die Grenze soll offen sein, geöffnet werden, sofort, unverzüglich!“, fasste der Reichsbahner knapp zusammen: „So hieß es im Radio vorhin.“
Ausführlich fasste Rheinhold die medialen Ereignisse des Abends aus Sicht eines treuen DDR-Radiohörers zusammen. Ich schlürfte derweil den immer noch heißen Tee in mich hinein und hörte den Erwachsenen zu. Ich hatte zwar überhaupt keinen Durst, doch die wärme des Tees fühlte sich wunderbar an in meinem Bauch. Erst jetzt bemerkte ich, wie kalt mir war.
„Und? Ist die Grenze jetzt offen?“, fragte meine Mutter schließlich verwirrt von den widersprüchlichen Informationen, die Rheinhold von sich gab.
„Nu … also hier jedenfalls nicht. Im Radio sagen’s auch nichts mehr“, antwortete der Beamte.
„Haben Sie mal auf SFB geschaltet? Die Berichten doch sicherlich!“, schlug meine Mutter vor, doch Rheinhold bekam nur große Augen: „Westfunk? Nein! Doch nicht im Dienst!?“
Mutter nickte und seufzte: „Klar …“
Doch dann dachte sie nach: „Was, wenn ich einen anderen Sender in ihrem Radio einschalte? Sie lassen mich und meinen kleinen Sohn nur rein in ihr Häuschen, weil uns so kalt ist und als sie auf dem Bahnsteig waren, haben wir halt den Sender umgestellt …“
Rheinhold dachte nach und sah sich nervös um. Er blickte auf sein Telefon und lehnte sich argwöhnisch aus dem Häuschen hinaus. Dann sprang er plötzlich auf, ging zur Tür und drehte das Schloss um: „Kommen sie rein!“
Mitsamt unserer Koffer drängten wir uns in den kleinen Bahnschalter. Es war nicht wirklich warm hierdrin, aber immerhin nicht so kalt wie draußen auf dem Bahnsteig. Ich rieb meine Hände aneinander um mich aufzuwärmen, während meine Mutter keine Zeit verlor und sofort am Radio rumdrehte. Die Musik wechselte auf moderne Popmusik. „She Drives me Crazy“ von den Dire Straits begann grade auf dem Sender, auf den Mama umgestellt hatte.
„Mist …“, bemerkte sie: „Möppel, weißt du noch, wo SFB 2 liegt?“, fragte sie mich, ihren technikbegeisterten Sohn.
„Auf 92 Megahertz!“, wusste ich aus dem Kopf, doch gab meiner Mama nicht die Gelegenheit, selbst am Frequenzregler rumzudrehen. Mit einem präzisen Dreher nach links bewegte ich die rote Anzeigenadel hinunter auf die 92 auf der UKW-Skala und dann, als da nichts kam, ganz langsam und gefühlvoll wieder leicht nach rechts bis wir Empfang bekamen. „Looking for Freedom“ von David Hasselhoff tönte aus dem simplen, knarzigen Lautsprecher und enttäuschte selbst mich.
„Mist“, ärgerte sich meine Mutter: „Wie können die jetzt so ein Gedudel spielen?!“
Zögerlich und leise mischte sich der Reichsbahnbeamte ein: „Man könnte RIAS versuchen, auf 94 …“
Kaum hatte Rheinhold die Frequenz ausgesprochen, hatte ich das Radio schon darauf eingestellt.
„… circa einer Stunde sind die Grenzen offen, im wahrsten Sinne des Wortes gestürmt worden, ja!“, nuschelte ein Reporter undeutlich ins Mikrofon. Dann ertönte eine weitere Stimme, scheinbar von einem Augenzeugen: „Vorhin ham‘ se noch einzeln durchjelassen, dann ham‘ se das Tor aufgemacht! Und jetzt konnten wir alle ohne Vorzeigen, ohne alles, gehen, ohne jede, ohne …“ Es mischten sich verschiedene Stimmen in der undeutlichen Liveübertragung: „… Ohne jede Kontrolle!“, riefen sie aufgeregt im Chor. „Nix, janüscht!“, rief eine Frau ungläubig ins Mikrofon. Dann lachten alle euphorisch und der Reporter kam zuerst gar nicht dazu, eine weitere Frage zu stellen.
„Mama, warum weinst du?“, fragte ich, während die Übertragung weiterging. Rheinhold und meine Mutter starrten sich an als wäre etwas Unglaubliches passiert. Im Radio fasste der Reporter die Ereignisse noch einmal zusammen und berichtete klar und deutlich, dass der Grenzübergang Bornholmer Straße ,komplett, sperranjelweit‘ offen stand. Sogar mit Trabbis würden die Leute über die Grenze fahren jetzt.
Mutter und Rheinhold, obwohl sie sich nicht kannten und eben erst getroffen hatten, umarmten sich aufgelöst.
„Das kann doch nicht war sein !!“, murmelte Rheinhold und ich war mir nicht ganz sicher, ob das für ihn jetzt etwas schlimmes oder etwas ganz tolles war. Jedenfalls weinte er.
Ohne ein Wort zu sagen lauschten wir ungläubig der Sondersendung, die von der Situation an den Grenzübergängen berichtete. Mit klopfendem Herzen hockte ich mich neben dem Radio auf dem Boden, pinkelte noch mehr Pipi in meine volle Windel und wusste gar nicht, ob das immer noch von der Cola kam, oder schon von dem Tee, den ich eben getrunken hatte. Meine Pampers wurde jedenfalls noch schwerer und an meinen Oberschenkeln spürte ich warme Nässe, die nicht mehr vollständig in der Windel zurückgehalten wurde. Die Pfütze an meinem Po wurde auch immer größer, aber gleichzeitig wenigstens schön warm. Grade angesichts der Temperaturen war es eigentlich wirklich angenehm, sich die Windel mit heißem Pipi vollzupinkeln.
Doch dann spürte ich die andere Art von Druck. Plötzlich aber umso dringlicher kündigte sich mein großes Geschäft an. Vielleicht war die Kombination aus Tante Ursels Kohlrouladen, der Schokoladentafel und der Cola keine gute Idee gewesen. Schnell kniff ich meine Pobacken zusammen und tat so als wäre nichts, denn um nichts in der Welt wollte ich grade weg vom Radio.
Als die anderen Reisenden am Bahnsteig auf uns Aufmerksam wurden, sammelten sich rasch weitere Menschen um das kleine Schalterhäuschen und Rheinhold drehte das Radio erst lauter und gab dann ganz auf und stellte es nach draußen auf die Fensterbank. Keiner konnte glauben was wir hörten, doch die Rufe und Laute, die vom Bahnhofsvorplatz mittlerweile bis zu uns auf die Bahnsteige drangen, sprachen eine eindeutige Sprache und ließen wenig Raum für Zweifel. Auch Rheinhold war in Feierlaune, verteilte seinen Tee restlos an alle Reisenden und war ergriffen von dem, was an diesem Abend in dieser Stadt passierte.
Dann schrillte irgendwann sein Telefon. Ein paar Mal musste es klingeln, bis er es überhaupt bemerkte und sofort den Hörer von der Gabel abnahm.
Er nickte. Dann hörte er einen Moment lang nur zu. Überrascht zog er die Augenbrauen hoch: „Auf Gleis B?“, fragte er irgendwann ins Telefon.
„Verstanden“, erwiderte er nach einer weiteren kurzen Pause und legte wieder auf.
Der Reichsbahner, der damals schon mit kaum Dreißig sicherlich den beeindruckendsten Tag seiner gesamten Karriere erlebte ging kopfschüttelnd vom Telefon nach vorne zum Fenster.
Er holte kurz Luft, straffte seine Schultern und wendete sich zu dem knappen duzend Menschen, die wie wir eigentlich auf den Ost-West-Express nach Paris warteten: „Mein Vorgesetzter hat mich grade informiert, dass wir den Bahnhof in Kürze mit den Menschen, die unten am Grenzübergang warten fluten werden. Wenn sie mich fragen, wird der D240 heute Abend nicht mehr hier ankommen. Aber in einer Viertelstunde fährt von Gleis B für Jedermann eine S-Bahn nach … nach … nach Westberlin, zum Lehrter Bahnhof und weiter nach … nach …“, Rheinhold schaffte es nicht, den Satz zu vollenden, sondern brach in Tränen aus.
Unruhe brach zwischen den Reisenden aus. Natürlich konnten alle Wartenden um uns herum genau wie wir jederzeit vom Bahnsteig runter zu den unterirdischen S- und U-Bahngleisen gehen und dort einen beliebigen Zug wieder zurück nach Westberlin nehmen ohne dass man uns auch nur kontrollieren würde. Die meisten Reisenden um uns herum kamen wie wir aus dem Westen oder durften ohnehin ungehindert ausreisen. Doch es hielt kaum einen von uns an der Position vor dem Bahnschalter. Auch meine Mutter griff nach meiner Hand: „Komm Möppel, das wirst du den Rest deines Lebens nicht mehr vergessen, was hier heute Nacht passiert!“
Das hatte ich dann auch nicht. Auch wenn ich den Mauerfall immer mit dem Gefühl einer durchnässten, matschigen Pampers an meinem Po verband.
Zuerst ging unsere gemischte Gruppe, bestehend aus Rentnern, zwei Paaren, einigen Geschäftsreisenden und meiner Mutter und mir zaghaft die Treppe in den Bahnhofskorridor herunter, doch kaum waren wir in der Zwischenebene unter den Bahnsteigen, sahen wir den Pulk von Menschen, der sich vor einem viel zu engen Grenzabfertigungsschalter stauten und noch von grünen Grenzern zurückgehalten wurden. Das waren alles Menschen, die in dieselbe S-Bahn wollten wie wir! Ein älterer Offizieller, gekleidet wie ein Soldat in Paradeuniform und mit übergroßem Hut auf dem Kopf betrat den Bahnhofskorridor durch eine Seitentür und ging auf die Menge zu. Zwei Grenzer drehten sich zu ihm um als würden sie eine Anweisung erwarten.
„Die werden jeden Moment durchgelassen“, mutmaßte eine ältere Frau neben uns und legte einen Zahn zu, auch der Rest unserer Gruppe beschleunigte den Gang. Doch ich blieb mitten im Gang stehen, sodass meine Mutter sich zu mir umdrehen musste; „Mama, ich muss aufs Klo … Dolle!“, sagte ich bemüht leise und zeigte auf das WC-Piktogramm über uns, das in Richtung der Grenzanlagen deutete
Meine Mutter machte den für sie so charakteristischen, genervten Seufzer: „Möppel, wirklich, jetzt?? Hier?? Du hast doch deine Pampers um …“
Ich machte den Mund auf, doch wusste nicht, wie ich meiner Mutter mein Problem mitteilen sollte.
„Du bist doch eh längst nicht mehr trocken, oder?“, vermutete sie, woraufhin ich schuldbewusst und beschämt rot anlief. Ohne auf meine Antwort zu warten drückte sie mit der flachen Hand gegen meinen dicken, schwer gewordenen Windelhintern.
„Na guck“, sagte sie, während sie das matschig-heiße Saugfließ gegen meinen Po presste: „Da kommts doch auf einmal mehr oder weniger auch nicht mehr drauf an.“
„Mama, neeein, es …“, setzte ich an. Links und rechts von uns drängten Menschen vorbei in Richtung Gleis B. Ich traute mich kaum, meiner Mutter zu widersprechen, immerhin wusste ich, wie zwecklos und zugleich nachteilig sich Widerworte in solch einer Situation für mich erweisen würden. Doch Mama war grade anders als sonst. Sie kniete sich vor mir hin und sah mir in die Augen: „Flori, guck doch mal. Die Toiletten sind da hinten irgendwo an der Grenzübertrittsstelle, da ist jetzt schon der Bär los. Keine Ahnung, ob wir da überhaupt durchkommen. Und wir sollten wirklich zum Gleis, sonst passen wir nachher vielleicht nicht mehr in die Bahn …“
Ich nickte, denn ich verstand die Argumente meiner Mutter und noch viel mehr schätzte ich, dass sie sich Zeit nahm, sie mir zu erläutern.
„Außerdem pullerst du doch den ganzen Abend lang schon da rein, Großer. Versprochen Möppel, ich bin dir heute nicht böse deswegen. Egal, wie viel noch in deine Pampers geht. Heute ist eine Ausnahme!“
„Aber …“, traute ich mich zu sagen: „Aber ich muss nicht Pipi, sondern …“, doch ich wurde unterbrochen. Der Menschenstrom hatte schlagartig zugenommen und Leute drängelten sich zwischen Mama und mir durch und ich wurde weggeschoben. Plötzlich sah ich meine Mutter nicht mehr und wurde von den Menschenmassen einfach mitgeschoben. Ockerfarbene und dunkelgrüne Winterjacken waren alles was ich sehen konnte: „Mamaaa!“, rieg ich voller Angst. Ich wusste nicht einmal, wohin wir uns bewegten. Doch dann ergriff mich eine Hand, zog mich seitlich nach draußen und Ich war heilfroh, als ich meine Mutter wiedersah. Doch sofort wusste ich auch, dass der kurze Moment der Gelassenheit, den meine Mutter eben an den Tag gelegt hatte, vorbei war. Eine Sorgenfalte lag auf ihrer Stirn und mit ihren Pupillen sprangen zwischen der Treppe, dem Grenzübergang und den Menschen neben uns umher.
„Florian, Schluss jetzt. Mach in deine Pampers, wir müssen jetzt da hoch!“, war ihre knappe Feststellung, mit der sie aus heutiger Sicht betrachtet nicht ganz unrecht hatte. Damals sah ich das natürlich anders, doch meine Mutter lies nicht mit sich reden. Sie packte mich an meiner Hand und ich hatte keine andere Wahl als ihr nach oben auf den Bahnsteig zu folgen. Kaum waren wir in Bewegung fiel es mir zum Glück sofort wieder leichter, meinen drückenden Haufen zurückzuhalten. Am Bahnsteig entschied meine Mutter schnell und klug: Sie zog mich an dem Pulk, der sich oberhalb der Treppe gebildet hatte vorbei und wir beide rannten zum vorderen Ende des Zuges, wo sich weit weniger Menschen stauten. An der letzten Tür vor dem Führerstand stiegen wir in den rotgelben Triebwagen ein und wurden sofort von den nächsten Personen in Richtung der gegenüberliegenden Tür geschoben. Aber immerhin waren wir drin. Mama und ich griffen nach derselben Haltestange und standen endlich in einem beheizten Zug. Ich verschnaufte, löste den Reisverschluss meines Anoraks, doch sofort spürte ich wieder meinen Haufen drücken. So stark ich konnte drückte ich mit der freien Hand, die nicht die Haltestange umklammerte gegen meinen Po, doch meine Hand versank im aufgedunsenen, triefnassen Windelfließ ohne dass es viel nützte. Während sich die Zugtüren von einem schrillen Summen begleitet schlossen, überkreuzte ich meine Beine und ging leicht in die Knie, doch es hatte kaum einen Effekt.
„Schau Flori, da gibt es sogar einen Sitzplatz!“, sagte meine Mutter und vermutlich war das meine Rettung. Ohne Rücksicht auf meine vollgepinkelte Windel zu nehmen setzte ich mich auf den harten roten Plastiksitz und schaffte es endlich wieder einzuhalten. Erst jetzt merkte ich, dass ich grade die Luft angehalten hatte und verschnaufte. Ich musste leicht breitbeinig sitzen, denn meine randvolle Windel nahm viel Raum zwischen meinen Beinen ein. Dick wölbte sie sich in meinem Schritt und ich versuchte, meine Jacke darüber zu ziehen, damit die anderen Passagiere nichts davon sahen. Doch es interessierte sich ohnehin niemand für mich, nichtmal Mama. Der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt, grade fuhren wir am Ausfahrsignal des Bahnhofes vorbei und unterhalb der Eisenbahnbrücke konnte ich neben der Spree die Menschenmassen sehen, die sich noch immer auf den Bahnhofsvorplatz zuströmten. Wir waren kaum aus dem Bahnhof raus, da überquerten wir die Mauer, auf der anderen Spreeseite der Reichstag, viel Näher als wir ihn auf der Führung gesehen hatten. Und das Brandenburger Tor. Doch die lagen beide auf der anderen Bahnseite sodass ich sie aus der hell erleuchteten S-Bahn gar nicht richtig erkennen konnte und kaum hatte ich die beiden Wahrzeichen hinter dem Fenster ausgemacht, wurden sie auch schon von Häuserblocks verdeckt.
Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten, doch es reichte, damit Mama und ich kurz durchschnaufen konnten und damit mein Körper – und auch mein Kopf – vergaß, dass ich eben noch dringend groß gemusst hatte.
Andererseits waren da auch so viele Eindrücke die auf mich einprasselten. Kaum hielten wir am Lehrter Bahnhof auf der anderen Mauerseite – dort wo heute der neue Berliner Hauptbahnhof steht – verließen sämtliche Passagiere und auch wir den Zug und strömten in das nächtliche Westberlin. Es herrschte eine Stimmung wie an Karneval, nur ohne geworfene Süßigkeiten. Fremde Menschen lagen sich in den Armen und erwachsene Männer weinten. Ziellos folgten wir den Menschen, überquerten die Spreebrücke unterhalb des Bahnhofes und bald erkannte ich Orte wieder, die ich vor ein paar Tagen auf einer ganz normalen Stadtführung gesehen hatte: Den Tiergarten, das sowjetische Ehrenmal und dann waren wir auf der Straße des 17. Juni. Und gingen auf das Brandenburger Tor zu. Das wusste ich von der Rundfahrt mit dem Touristenbus, ansonsten wäre ich orientierungslos gewesen, vor mir waren zu viele Erwachsene, als das ich weiter als nur ein paar Meter nach vorne hätte sehen können.
„Flori, das glaubst du nicht!!“, rief meine Mutter dann.
„Was, Mama, Was ???“, fragte ich aufgeregt.
„Die stehen auf der Mauer!“
„Wer?“, fragte ich überrascht und dachte an die Szene, die ich vor mehr als zwei Stunden vom Bahnsteig aus beobachtet hatte. Doch es waren viel mehr Menschen als eben und ehe wir es uns versahen, reichten Fremde Menschen auch mir und meiner Mama ihre Hände um uns auf die Berliner Mauer rauszuziehen. Am Brandenburger Tor war die Mauer Meterdick aber nicht besonders hoch, sodass man oben bequem drauf stehen konnte.
Mama wurde zuerst nach oben gezogen. Ich streckte meinen Arm so weit nach oben aus wie es ging, doch es reichte nicht. „Komm Flori!“, motivierte mich meine Mutter, doch ich schaffte es nur noch oben, weil irgendjemand mich an den Beinen packte und hochhob. Ich griff die Hand eines Fremden, von unten drückte jemand gegen meinen Po, kurz flog ich regelrecht durch die Luft und dann stand ich … auf der Mauer. Das, auf was wir von hier blicken konnten war im Grunde genommen nicht mehr die DDR. Auch wenn es diesen Staat noch mehr als ein Jahr gegeben hat nach dieser denkwürdigen, in der Menschheitsgeschichte beinahe einmaligen Nacht. Aber es war nicht mehr der interessante und zugleich schaurige Staat über den man in den Nachrichten hörte und über den wir in der Schule gelernt hatten. Dieser Staat hatte mit einem Mal all seine Bedrohlichkeit verloren und jedem der Anwesenden auf diesem Platz war klar, dass er fortan nur noch eine leere Hülle darstellen würde. Der ehemals kahle Asphaltplatz vor dem Brandenburger Tor war nun voller Menschen. Ein grün uniformierter Grenzsoldat schob einen Zivilisten im Rollstuhl zwischen den Säulen des Brandenburger Tor hindurch. Ansonsten sah man kaum einen Soldaten, keine grünen Lkws, keine Panzer, nicht einmal die Plastikautos der Volkspolizei.
„Mama, da will ich auch hin!“, rief ich und sprang von der Berliner Mauer als wäre es die Backsteinmauer in unserem Garten zu Hause, hinter der es aufs Feld hinaus ging. Einfach eine ganz gewöhnliche Mauer.
Ich rannte über den Asphalt zu der Säule in der Mitte, die pralle Pampers in meiner Hose wackelte bei jedem Schritt. Meine Finger berührten den schmutzigen, trockenen Sandstein: „Mama, komm! Komm schnell!“, rief ich begeistert zu meiner Mutter. Auch sie stieg grade von der Mauer herunter, lachte mich an und hatte Tränen in den Augen, wie so viele Erwachsene, die sofort die historische Tragweite dieses Momentes begriffen.
Doch kaum stand ich still, rumorte es wieder in meinem Bauch. Das ganze laufen hatte mich den Druck vergessen lassen, aber jetzt wo ich stand, war er plötzlich wieder da. Viel stärker als zuvor, mein Bauch tat jetzt ganz weh, sodass ich meinen Oberkörper krümmte und mir die Hände vor den Bauch hielt.
Wieder versuchte ich, einen Kampf zu gewinnen der so ausweglos war wie der der Grenzer gegen die Menschenmassen an den Grenzübergängen vor ein paar Stunden und drückte mit einer Hand gegen meinen Po.
„Oh Gott“, entfuhr es Mama, kaum war sie neben mir angekommen: „Flori, musst du groß??“
Ich sah hoch zu meiner Mutter und Tränen schossen mir in die Augen. Weil mein Bauch wehtat, weil ich so dringend drücken musste, schon halb dabei war und weil das so unglaublich Peinlich war für einen so großen Jungen wie mich.
„Oh nein, hattest du mir DAS versucht zu sagen, eben??“, verstand Mama.
„Mmmhhhhnnnngh“, fing ich an zu antworten, doch ging dabei nahtlos in ein unfreiwilliges Pressen über – mein Körper hatte übernommen und machte ganz und gar nicht das, was ich von ihm wollte. Zuerst fing es ganz harmlos an, ich spürte, wie mein Haufen langsam aus meinem Po herausquoll und meine Pobacken auseinander drückte. Ich wollte grade abstoppen, sodass wenigstens nur ein bisschen in meiner Windel landen würde, da ging plötzlich alles ganz schnell. Der Stinker stieß gegen die Windelinnenseite, kurz ging es nicht weiter, doch weil auf der anderen Seite langsam immer mehr Kaka rauskam knickte er plötzlich ab und glitt im glitschigen Windelflies nach unten. Plötzlich war jeglicher Gegendruck weg und innerhalb von Sekunden quoll ein riesiger Haufen aus mir heraus. Warme, matschige Masse drückte sich zwischen meine Beine bis nach vorne und gleichzeitig hoch bis über meine Pobacken und das schneller als ich darauf reagieren konnte. Keine Ahnung, wie ich darauf überhaupt hätte reagieren sollen. Sofort folgte ein Pipitsunami von vorne und dann das unglaubliche Gefühl vollkommener Erleichterung. Die Front meiner Pampers saugte überhaupt gar nichts mehr auf, alles Pipi floss zwischen meine Beine und von dort weiter zu meinem Po und machte meinen Stinker noch wärmer und weicher. Langsam drang mir mein selbstverursachter Geruch in die Nase. Ich müffelte wie ein Kleinkind, das die Windel voll hatte. Ich schämte mich, aber gleichzeitig fühlte sich mein Körper jetzt so unglaublich gut. So erleichtert, mit einem Mal völlig entspannt und so warm, in Mitten im winterkalten Berlin geborgen und sicher.
Ich blieb noch eine Weile lang hocken und Mama kniete sich neben mich und streichelte mir schuldbewusst den Rücken. Wir sahen zusammen den Menschen auf der Mauer und auf dem Vorplatz zu, bevor wir einfach wieder zurückkletterten – wieder musste ich auf die Mauer gehoben werden – und zurück zu Onkel Riccardo fuhren. Übermüdet wie ich war schlief ich noch im Taxi ein, stinkend und vollgemacht. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht mehr, wie ich in dieser Nacht wieder in dem Gästebett im Zimmer meiner Cousine Melli landete. Nur dass ich am nächsten Morgen eine nur moderat nassgepinkelte Windel trug, das weiß ich noch. Kurz dachte ich, dass ich das alles nur geträumt hatte, aber als mich Melli am Frühstückstisch augenzwinkernd mit „Guten Morgen, kleiner Stinker“ begrüßte, wusste ich, dass alles wirklich so passiert war.
Bis heute weiß hingegen ich nicht, ob unser Nachtzug an diesem neunten November überhaupt irgendwann in den Bahnhof Friedrichstraße eingefahren war. Wir blieben noch drei weitere Tage bei Onkel Riccardos Familie in Berlin und besuchten auch den Osten der Stadt. Zurück nach Hause fuhren wir dann in einem völlig überfüllten Sonderzug, der aus Waggons bestand, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. In einem Sechserabteil saß ich in Ermangelung eines Sitzplatzes trotz meines Alters abwechselnd auf Mamas Schoß oder hockte zwischen den Bänken auf dem Boden und in weiser Voraussicht hatte mich meine Mutter für die Rückfahrt wieder gewickelt – obwohl die gesamte Fahrt tagsüber war. Aber ein Durchkommen zu den Toiletten war kaum möglich. Irgendwann auf der Fahrt musste ein Mädchen in meinem Alter, das mit uns im Waggon saß meine Pampers gesehen haben. Ganz erstaunt fragte sie mich mit sächsischem Dialekt, warum ein so großer Junge wie ich denn eine Windel anhätte. Selbstbewusst antwortete ich: „Was denn? Das ist bei uns im Westen normal!“ Ich glaube, sie hatte mir zumindest für diesen Moment geglaubt.
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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Ich empfand diese Geschichte als sehr interessant und spannend. Mal aus einer anderen Sicht auf die Wende, die viele von uns ja auf ihrer eigene Art erlebt hatten. Schade das Sie nun zu Ende ist.