Kein Zurück (7)
Dieser Eintrag ist Teil 7 von 12 der Serie Kein Zurück Windelgeschichten.org präsentiert: Kein Zurück (7)
Kapitel 7: Chase
Heute war mein großer Tag, das Rennen auf meiner Hausstrecke, wo ich jeden Meter auswendig kannte und das Profil mir perfekt entgegen kam. Start und Ziel war auf dem Rathausplatz meiner Heimatstadt. Leider fand das Rennen am ersten Samstagvormittag in den großen Ferien statt, sodass viele schon auf dem Weg in den Urlaub waren, sonst wären sicherlich mehr Zuschauer gekommen. Unter normalen Umständen wären garantiert auch Sophie, JayJay und Leon da gewesen. Ich sah aber dennoch viele bekannte Gesichter und freute mich besonders, dass Steffi und Anne da waren, um mich anzufeuern. Das Teilnehmerfeld war nicht ganz so groß. Aber viele Gute waren da, vor allem Tom. Tom hätte fast mein Zwilling sein können. Er war nur einen Tick muskulöser, hatte dunklere Haare, einen Tick dunkleren Hauttyp und eine zierlichere Nase. Aber Tom hatte heute keine Chance. Siegessicher war ich nicht einmal besonders nervös.
Die ersten Runden im Feld waren so easy wie lockeres Training. Auf der vorletzten Runde im Anstieg kurz vor Ende der Runde attackierte Tom. Ich setze sofort hinterher, aber kein anderer Fahrer konnte folgen. Ich merkte, dass Tom am Limit fuhr, ich aber noch massig Reserven hatte. Ich hatte Tom genau da, wo ich ihn haben wollte. Die Taktik ab jetzt war einfach: Ich brauchte ab jetzt in der letzten Runde nur an seinem Hinterrad zu lutschen und ihn alleine im Wind arbeiten lassen. Auch wenn das Feld dadurch zurückkommen würde, war mir das egal. Im Schlussanstieg würde ich mich garantiert erneut absetzten können und würde wahrscheinlich nicht einmal um den Sieg sprinten müssen. Ich sah schon das Siegerfoto der Solo-Zieldurchfahrt von mir.
Aber noch war es nicht soweit und wir waren erst in der vorletzten Runde. Nachdem wir gemeinsam über die Kuppe fuhren, ging Tom in der Abfahrt volles Risiko und mir wurde etwas mulmig. Da ich die Strecke gut kannte, konnte ich zwar gerade noch mithalten, aber wohl war mir dabei nicht. Plötzlich passierte es. Im Scheitelpunkt einer Rechtskurve erwischte Tom eine feuchte Stelle und sein Hinterrad rutschte weg und er stürzte. Zum Glück war ich in diesem Moment nicht zu nah an ihm dran und konnte noch rechtzeitig bremsen und ausweichen, aber aus den Augenwinkeln sah ich, wie Tom über die Straße schlitterte und an einem steilen Abhang in der Böschung verschwand. Ich versuchte so schnell wie möglich anzuhalten, sprang vom Rad, lehnte es, unsanfter als mit lieb war, gegen die Leitplanke und rannte zu der Stelle wo Tom verschwunden war. Währenddessen raste das Feld an mir vorbei. Sie hielten mich, wegen meiner Versuche sie mit den Armen fuchtelnd zum Anhalten zu bewegen, für einen durchgeknallten Zuschauer, der an dieser saugefährlichen Stelle stand.
„Arschloch“ und „Verpiss dich!“ vernahm ich, als sie vorbeirauschten.
Als das Gruppetto, also die Fahrer, die dem Feld nicht mehr folgen konnten, kam, sah ich Lukas aus meinem Verein.
„Lukas, Stopp! Hilfe!“, brüllte ich.
Lukas, der das Rennen sowieso schon abgehakt hatte, stoppe an derselben Stelle wie ich und kam angerannt zu mir: „Nico, was ist los?“
„Tom ist gestürzt und den Hang runter. Wir brauchen Hilfe. Halt die Fahrzeuge an!“
Ich schrie: „TOM! TOM! Bist du in Ordnung?“
Keine Antwort.
„Lukas, ich gehe ihn suchen.“
„Stopp Nico, spinnst du! Das ist zu steil mit den Radschuhen…“
In diesem Moment begann ich aber schon den Abstieg. Ich stelle mir vor, wie ich gerade dort unten lag und wie mich die Unsicherheit quälen würde, ob jemand meinen Abflug gesehen hatte und ob ich überhaupt gefunden wurde. Ich musste schnell zu Tom. Zum Glück bestand mein Trainer Maik darauf, dass wir regelmäßig Erste-Hilfe-Kurse machten. Ich hoffte aber, dass ich diese Kenntnisse jetzt nicht brauchen würde. Langsam dämmerte mir jedoch, dass der Abstieg keine gute Idee war, als ich mich ohne Halt rutschend von Busch zu Baum hangelte: „TOM, TOM! WO BIST DU?“
Irgendwann hörte ich ein schwaches: „Hier“.
Ich bewegte mich in die Richtung und sah Tom kurz darauf am Fuße eines Baumes liegen, der ihn aufgefangen hatte. Sein Rad hatte sich von ihm gelöst und war weit und breit nicht zu sehen. Seine Klamotten waren zerfetzt und er war von oben bis unten voller blutiger Schrammen, ein paar großen Schürfwunden und leichenblass.
„Hast du dir was getan? Spürst du deine Beine noch?“
„Ich glaube ich habe mir das Bein und eine Rippe gebrochen. Ja, ich spüre meine Beine, mehr als mir gerade lieb ist.“
„Okay, bleib einfach ruhig liegen. Hilfe kommt gleich.“
Im selben Moment hörte ich rufen von oben: „Seid ihr da unten?“
„Ja!“, brüllte ich zurück: „Tom ist verletzt und kann sich nicht bewegen. Wir brauchen Hilfe.“
„Okay, bleibt ruhig. Wir kommen gleich.“
Ich lotste die Retter zu uns und kurz darauf tauchten zwei Sanitäter auf. Einer wand sich an mich: „Hast du gesehen, ob noch weitere Fahrer gestürzt sind?“, während sich der andere Sanitäter sofort um Tom kümmerte.
„Nein, gestürzt ist ganz sicher nur Tom und ich bin ihn suchen gegangen.“
„So, du Held. Du bleibst jetzt ruhig hier sitzen und wartest bis dich jemand nach oben bringt, nicht dass wir gleich zwei Verletzte haben“, sagte der Sanitäter und schrie nach oben: „Wir brauchen noch zwei Helfer mit guten Schuhen, die einen zweiten unverletzten Jungen hochholen.“ Danach gab der die Situation über Funk durch und forderte einen Notarzt und die Feuerwehr an.
Zwei Männer kamen, packten mich unter den Armen und gemeinsam kämpften wir uns den Hang hinauf.
Oben stand Maik, legte mir meine Jacke um die Schultern und fragte: „Ist dir was passiert? Du bist ja kreidebleich.“
„Nein, mir geht es gut. Ich lag mit Tom vorne. Tom ist gestürzt und den Hang runter. Ich habe ihn nur gesucht.“
„Heldenhaft, aber nicht unbedingt klug mit den Radschuhen. Du hast einen sauberen Schock. Du setzt dich jetzt ins Auto und bewegst dich keinen Millimeter, ohne dass jemand in deiner Nähe ist. Verstanden!“
Lukas saß schon im Auto und reichte mir einen Elektrolytdrink, während Maik unsere Räder auf dem Dachträger verstaute.
Kurz darauf kam Maik und sage: „Okay, wir können hier nichts mehr ausrichten und fahren zum Ziel. Nico, wartet deine Mutter im Ziel auf dich?“
„Nein, die musste heute leider arbeiten und die paar Meter von zu Hause komme ich auch zu Fuß heim.“
„Dann bleibst du im Auto sitzen und ich bringe dich nach Hause.“
„Muss das wirklich sein?“
„Ja. Mit einem Schock ist nicht zu spaßen. Da kann dir ganz plötzlich schwarz vor Augen werden, und wenn du dann wie ein Sack Kartoffeln auf den Boden knallst, holst du dir doch noch eine Verletzung. Das muss echt nicht sein.“
„Maik, ich hab’s schon wieder vergeigt. Das Rennen hatte ich schon in der Tasche. Aber ich musste doch helfen.“
„Hör mal, Nico. Das letztes Mal war ein dummer Fehler. Das heute war ein Rennunfall und natürlich hält man da an und hilft. Wobei helfen auch bedeutet, sich selbst nicht in Gefahr zu bringen. Du hast alles richtig gemacht, bis auf deine halsbrecherische Rettungsaktion. Oder hättest du gewinnen wollen, während Tom verletzt im Hang liegt oder Schlimmeres?“
Nachdem die Rettungsfahrzeuge die Strecke blockierten, wurde das Rennen abgebrochen und so hatte ich zwar nicht gewonnen aber wenigstens auch nicht verloren, da es ja auch keinen anderen Sieger gab. Während wir fuhren, schrieb ich Steffi und Mom eine SMS: ‘rennabbruch nach unfall – keine sorge mir ist nichts passiert‘.
Nachdem alle Jungs zurück an Start-Ziel und auf dem Weg nach Hause waren, brachte Mike mich mit dem Auto nach Hause. Er hielt mich unterm Arm und wich die ganze Zeit keine Millimeter von meiner Seite.
Nachdem ich die Tür aufgesperrt hatte, sage Mike: „So, dann gehen wir jetzt als erstes unter die Dusche.“
„Aber ins Bad darf ich schon alleine?“
„Ich bleibe lieber in deiner Nähe. Du konntest dich nach dem Rennen auch nicht ausfahren. Nicht dass dir jetzt durch das warme Wasser die Venen aufgehen und der Kreislauf absackt. Sicher ist sicher. Und mach‘ nicht so ein Theater. Ich habe schon hunderte Männer beim Duschen gesehen. Die sahen alle mehr oder weniger gleich aus. Die Alternative ist alleine, aber eiskalt duschen.“
„Ich ja schon gut. Du hast mich ertappt. Ich geb’s ja zu. Ich bin ein Warmduscher.“
Ich hasste Gemeinschaftsduschen und versuchte diese so oft es ging zu vermeiden. Vor Maik wollte ich auch nicht nackt sein. Aber Maik machte es mir einfach. Er hielt ein Badetuch immer so, dass er maximal meinen Oberkörper sehen konnte. In der Dusche musste ich mich hinsetzen und in der Zeit drehte er sich demonstrativ weg. Als ich fertig war, rubbelte er mich mit dem Badetuch trocken, so wie Mom das früher immer gemacht hatte, als ich noch kleiner war. Meinen Intimbereich sparte er natürlich aus und ließ mich das selbst machen. Trotzdem fühlte es sich angenehm und gleichzeitig merkwürdig an, mal wieder auf solche Art umsorgt zu werden. Nach der Dusche hatte ich endlich wieder eine normale rosige Gesichtsfarbe. Maik wollte aber trotzdem sicherheitshalber noch kurz warten, bis Mom nach Hausen kam. Zum Glück durfte ich mich aber wieder alleine Anziehen. Sonst hätte ich am Schluss noch Maik erklären müssen, warum ich eine Packung Windeln im Schrank hatte.
Nach dem Anziehen setzte ich mich auf das Sofa im Wohnzimmer und bot Mike an, dass er sich an Kaffee und Getränken bedienen konnte.
Mike war für kurze Zeit als Pro für ein Continental-Team gefahren, hatte aber nie den Sprung ganz nach oben geschafft und hatte jetzt ein Physiotherapiestudio, das anscheinend ziemlich gut lief und war in unserer Kleinstadt als Playboy verschrien, weil er auch einen teuren Sportwagen fuhr und regelmäßig eine andere hübsche Frau an seiner Seite hatte. Also das ganz große Idol für uns Jungs.
„Maik, wie schafft man es eigentlich ein Mädchen rumzukriegen?“ fragte ich verlegen.
Maik musste sich das Lachen verkneifen: „Na ja. Wie beim Radfahren. Ein bisschen Talent und viel Training. Man darf sich nicht von Misserfolgen entmutigen lassen. Mit jedem Mal, wo es klappt gewinnt man an Selbstvertrauen und wird lockerer.“
„Aber hast du kein schlechtes Gewissen, wenn du die Frauen wieder abservierst, nachdem du sie rumgekriegt hast?“
„So, sagt man das so im Dorf, dass ich das mache? Na ja. So ist das nicht. Ich suche mir schon Frauen, die selbst nur auf kurze Abenteuer aus sind. Davon gibt es mehr, als du denkst. In deinem Alter vielleicht noch nicht. Aber, ich verrat’ dir mal was. Es ist viel einfacher eine Frau für ein kurzes Abenteuer zu finden, als die eine, mit der man es länger aushält.“ Unser Gespräch wurde unterbrochen als Mom nach Hause kam.
Ich berichtete Mom von meinen Erlebnissen. Sie bedankte sich bei Maik für seine Fürsorge und ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn Mom und Mike ein Paar wären. Optisch ein Traum, aber vermutlich inkompatibel wie Hund und Katze.
Ich verabschiedete mich von Maik und bat: „Mike, wenn du erfährst, wie es Tom geht, gibst du mir bitte Bescheid.“
„Klar, ich höre mich um. Mach‘s gut, Chase. Ich muss los. Ich will die Grand Depart nicht verpassen.“
Dass Mike sich die Übertragung des Starts der Tour de France ansehen wollte, wunderte mich nicht, aber woher kannte er die Zeichentrickserie für Vorschulkinder?
***
Am nächsten Abend klingelte das Festnetztelefon.
Kurz darauf rief Mom: „Nico, ist für dich.“
Nanu, wer rief mich denn auf dem Festnetz an? Mike, auf dessen Nachricht zu Toms Gesundheitszustand ich wartete, hatte doch meine Handynummer. „Hallo, Nico hier“, meldete ich mich.“
„Hallo Nico. Ich bin Frau Schmalbeck, die Mutter von Tom. Dein Trainer hat mir eure Nummer gegeben. Zunächst einmal wollte ich mich ganz herzlich bei dir dafür bedanken, dass du, wie er mir gesagt hat, dafür verantwortlich bist, dass Tom gefunden wurde. Tom hat sich den Oberschenkel und zwei Rippen gebrochen. Er wurde heute operiert und hat die OP gut überstanden. Er muss ein bis zwei Wochen im Krankenhaus bleiben. Tom hat mich gebeten, dich zu fragen, ob du ihn mal besuchen kommst. Bitte Nico, das wäre sehr wichtig, weil er sonst niemanden zu sich lässt, außer uns.“
„Klar, kann ich machen. Es sind ja jetzt Ferien und Urlaub steht nicht an.“
„Schön, er liegt im Kreiskrankenhaus, Block B, im ersten Stock, Zimmer 1204. Wie gesagt, es wäre sehr wichtig, dass du ihn besuchst. Bitte schiebe das nicht auf die lange Bank. Also noch mal vielen Dank und einen schönen Abend.“
„Ja, schönen Abend.“
„Und?“, wollte Mom wissen.
„Sehr strange. Es war die Mutter von Tom. Er hat sich den Oberschenkel und zwei Rippen gebrochen und wurde heute operiert. Aber seine Mutter ist scheinbar auch nicht ganz sauber. Sie hat mich gedrängt ihn im Krankenhaus zu besuchen. Ausgerechnet mich, wo ich den Typen nicht ausstehen kann. Aber scheinbar lässt er keine anderen Besucher zu sich. Merkwürdig das Ganze.“
„Dann solltest du vielleicht hin. Du hast ja jetzt Ferien. So schlimm wird’s schon nicht werden. Wahrscheinlich will er sich nur persönlich bei dir bedanken.“
„Ja, ich glaube das mache ich morgen, dann habe ich es hinter mir.“
Autor: Hans_Steam | Eingesandt via Mail
Diese Geschichte darf nicht kopiert werden.
Heute war mein großer Tag, das Rennen auf meiner Hausstrecke, wo ich jeden Meter auswendig kannte und das Profil mir perfekt entgegen kam. Start und Ziel war auf dem Rathausplatz meiner Heimatstadt. Leider fand das Rennen am ersten Samstagvormittag in den großen Ferien statt, sodass viele schon auf dem Weg in den Urlaub waren, sonst wären sicherlich mehr Zuschauer gekommen. Unter normalen Umständen wären garantiert auch Sophie, JayJay und Leon da gewesen. Ich sah aber dennoch viele bekannte Gesichter und freute mich besonders, dass Steffi und Anne da waren, um mich anzufeuern. Das Teilnehmerfeld war nicht ganz so groß. Aber viele Gute waren da, vor allem Tom. Tom hätte fast mein Zwilling sein können. Er war nur einen Tick muskulöser, hatte dunklere Haare, einen Tick dunkleren Hauttyp und eine zierlichere Nase. Aber Tom hatte heute keine Chance. Siegessicher war ich nicht einmal besonders nervös.
Die ersten Runden im Feld waren so easy wie lockeres Training. Auf der vorletzten Runde im Anstieg kurz vor Ende der Runde attackierte Tom. Ich setze sofort hinterher, aber kein anderer Fahrer konnte folgen. Ich merkte, dass Tom am Limit fuhr, ich aber noch massig Reserven hatte. Ich hatte Tom genau da, wo ich ihn haben wollte. Die Taktik ab jetzt war einfach: Ich brauchte ab jetzt in der letzten Runde nur an seinem Hinterrad zu lutschen und ihn alleine im Wind arbeiten lassen. Auch wenn das Feld dadurch zurückkommen würde, war mir das egal. Im Schlussanstieg würde ich mich garantiert erneut absetzten können und würde wahrscheinlich nicht einmal um den Sieg sprinten müssen. Ich sah schon das Siegerfoto der Solo-Zieldurchfahrt von mir.
Aber noch war es nicht soweit und wir waren erst in der vorletzten Runde. Nachdem wir gemeinsam über die Kuppe fuhren, ging Tom in der Abfahrt volles Risiko und mir wurde etwas mulmig. Da ich die Strecke gut kannte, konnte ich zwar gerade noch mithalten, aber wohl war mir dabei nicht. Plötzlich passierte es. Im Scheitelpunkt einer Rechtskurve erwischte Tom eine feuchte Stelle und sein Hinterrad rutschte weg und er stürzte. Zum Glück war ich in diesem Moment nicht zu nah an ihm dran und konnte noch rechtzeitig bremsen und ausweichen, aber aus den Augenwinkeln sah ich, wie Tom über die Straße schlitterte und an einem steilen Abhang in der Böschung verschwand. Ich versuchte so schnell wie möglich anzuhalten, sprang vom Rad, lehnte es, unsanfter als mit lieb war, gegen die Leitplanke und rannte zu der Stelle wo Tom verschwunden war. Währenddessen raste das Feld an mir vorbei. Sie hielten mich, wegen meiner Versuche sie mit den Armen fuchtelnd zum Anhalten zu bewegen, für einen durchgeknallten Zuschauer, der an dieser saugefährlichen Stelle stand.
„Arschloch“ und „Verpiss dich!“ vernahm ich, als sie vorbeirauschten.
Als das Gruppetto, also die Fahrer, die dem Feld nicht mehr folgen konnten, kam, sah ich Lukas aus meinem Verein.
„Lukas, Stopp! Hilfe!“, brüllte ich.
Lukas, der das Rennen sowieso schon abgehakt hatte, stoppe an derselben Stelle wie ich und kam angerannt zu mir: „Nico, was ist los?“
„Tom ist gestürzt und den Hang runter. Wir brauchen Hilfe. Halt die Fahrzeuge an!“
Ich schrie: „TOM! TOM! Bist du in Ordnung?“
Keine Antwort.
„Lukas, ich gehe ihn suchen.“
„Stopp Nico, spinnst du! Das ist zu steil mit den Radschuhen…“
In diesem Moment begann ich aber schon den Abstieg. Ich stelle mir vor, wie ich gerade dort unten lag und wie mich die Unsicherheit quälen würde, ob jemand meinen Abflug gesehen hatte und ob ich überhaupt gefunden wurde. Ich musste schnell zu Tom. Zum Glück bestand mein Trainer Maik darauf, dass wir regelmäßig Erste-Hilfe-Kurse machten. Ich hoffte aber, dass ich diese Kenntnisse jetzt nicht brauchen würde. Langsam dämmerte mir jedoch, dass der Abstieg keine gute Idee war, als ich mich ohne Halt rutschend von Busch zu Baum hangelte: „TOM, TOM! WO BIST DU?“
Irgendwann hörte ich ein schwaches: „Hier“.
Ich bewegte mich in die Richtung und sah Tom kurz darauf am Fuße eines Baumes liegen, der ihn aufgefangen hatte. Sein Rad hatte sich von ihm gelöst und war weit und breit nicht zu sehen. Seine Klamotten waren zerfetzt und er war von oben bis unten voller blutiger Schrammen, ein paar großen Schürfwunden und leichenblass.
„Hast du dir was getan? Spürst du deine Beine noch?“
„Ich glaube ich habe mir das Bein und eine Rippe gebrochen. Ja, ich spüre meine Beine, mehr als mir gerade lieb ist.“
„Okay, bleib einfach ruhig liegen. Hilfe kommt gleich.“
Im selben Moment hörte ich rufen von oben: „Seid ihr da unten?“
„Ja!“, brüllte ich zurück: „Tom ist verletzt und kann sich nicht bewegen. Wir brauchen Hilfe.“
„Okay, bleibt ruhig. Wir kommen gleich.“
Ich lotste die Retter zu uns und kurz darauf tauchten zwei Sanitäter auf. Einer wand sich an mich: „Hast du gesehen, ob noch weitere Fahrer gestürzt sind?“, während sich der andere Sanitäter sofort um Tom kümmerte.
„Nein, gestürzt ist ganz sicher nur Tom und ich bin ihn suchen gegangen.“
„So, du Held. Du bleibst jetzt ruhig hier sitzen und wartest bis dich jemand nach oben bringt, nicht dass wir gleich zwei Verletzte haben“, sagte der Sanitäter und schrie nach oben: „Wir brauchen noch zwei Helfer mit guten Schuhen, die einen zweiten unverletzten Jungen hochholen.“ Danach gab der die Situation über Funk durch und forderte einen Notarzt und die Feuerwehr an.
Zwei Männer kamen, packten mich unter den Armen und gemeinsam kämpften wir uns den Hang hinauf.
Oben stand Maik, legte mir meine Jacke um die Schultern und fragte: „Ist dir was passiert? Du bist ja kreidebleich.“
„Nein, mir geht es gut. Ich lag mit Tom vorne. Tom ist gestürzt und den Hang runter. Ich habe ihn nur gesucht.“
„Heldenhaft, aber nicht unbedingt klug mit den Radschuhen. Du hast einen sauberen Schock. Du setzt dich jetzt ins Auto und bewegst dich keinen Millimeter, ohne dass jemand in deiner Nähe ist. Verstanden!“
Lukas saß schon im Auto und reichte mir einen Elektrolytdrink, während Maik unsere Räder auf dem Dachträger verstaute.
Kurz darauf kam Maik und sage: „Okay, wir können hier nichts mehr ausrichten und fahren zum Ziel. Nico, wartet deine Mutter im Ziel auf dich?“
„Nein, die musste heute leider arbeiten und die paar Meter von zu Hause komme ich auch zu Fuß heim.“
„Dann bleibst du im Auto sitzen und ich bringe dich nach Hause.“
„Muss das wirklich sein?“
„Ja. Mit einem Schock ist nicht zu spaßen. Da kann dir ganz plötzlich schwarz vor Augen werden, und wenn du dann wie ein Sack Kartoffeln auf den Boden knallst, holst du dir doch noch eine Verletzung. Das muss echt nicht sein.“
„Maik, ich hab’s schon wieder vergeigt. Das Rennen hatte ich schon in der Tasche. Aber ich musste doch helfen.“
„Hör mal, Nico. Das letztes Mal war ein dummer Fehler. Das heute war ein Rennunfall und natürlich hält man da an und hilft. Wobei helfen auch bedeutet, sich selbst nicht in Gefahr zu bringen. Du hast alles richtig gemacht, bis auf deine halsbrecherische Rettungsaktion. Oder hättest du gewinnen wollen, während Tom verletzt im Hang liegt oder Schlimmeres?“
Nachdem die Rettungsfahrzeuge die Strecke blockierten, wurde das Rennen abgebrochen und so hatte ich zwar nicht gewonnen aber wenigstens auch nicht verloren, da es ja auch keinen anderen Sieger gab. Während wir fuhren, schrieb ich Steffi und Mom eine SMS: ‘rennabbruch nach unfall – keine sorge mir ist nichts passiert‘.
Nachdem alle Jungs zurück an Start-Ziel und auf dem Weg nach Hause waren, brachte Mike mich mit dem Auto nach Hause. Er hielt mich unterm Arm und wich die ganze Zeit keine Millimeter von meiner Seite.
Nachdem ich die Tür aufgesperrt hatte, sage Mike: „So, dann gehen wir jetzt als erstes unter die Dusche.“
„Aber ins Bad darf ich schon alleine?“
„Ich bleibe lieber in deiner Nähe. Du konntest dich nach dem Rennen auch nicht ausfahren. Nicht dass dir jetzt durch das warme Wasser die Venen aufgehen und der Kreislauf absackt. Sicher ist sicher. Und mach‘ nicht so ein Theater. Ich habe schon hunderte Männer beim Duschen gesehen. Die sahen alle mehr oder weniger gleich aus. Die Alternative ist alleine, aber eiskalt duschen.“
„Ich ja schon gut. Du hast mich ertappt. Ich geb’s ja zu. Ich bin ein Warmduscher.“
Ich hasste Gemeinschaftsduschen und versuchte diese so oft es ging zu vermeiden. Vor Maik wollte ich auch nicht nackt sein. Aber Maik machte es mir einfach. Er hielt ein Badetuch immer so, dass er maximal meinen Oberkörper sehen konnte. In der Dusche musste ich mich hinsetzen und in der Zeit drehte er sich demonstrativ weg. Als ich fertig war, rubbelte er mich mit dem Badetuch trocken, so wie Mom das früher immer gemacht hatte, als ich noch kleiner war. Meinen Intimbereich sparte er natürlich aus und ließ mich das selbst machen. Trotzdem fühlte es sich angenehm und gleichzeitig merkwürdig an, mal wieder auf solche Art umsorgt zu werden. Nach der Dusche hatte ich endlich wieder eine normale rosige Gesichtsfarbe. Maik wollte aber trotzdem sicherheitshalber noch kurz warten, bis Mom nach Hausen kam. Zum Glück durfte ich mich aber wieder alleine Anziehen. Sonst hätte ich am Schluss noch Maik erklären müssen, warum ich eine Packung Windeln im Schrank hatte.
Nach dem Anziehen setzte ich mich auf das Sofa im Wohnzimmer und bot Mike an, dass er sich an Kaffee und Getränken bedienen konnte.
Mike war für kurze Zeit als Pro für ein Continental-Team gefahren, hatte aber nie den Sprung ganz nach oben geschafft und hatte jetzt ein Physiotherapiestudio, das anscheinend ziemlich gut lief und war in unserer Kleinstadt als Playboy verschrien, weil er auch einen teuren Sportwagen fuhr und regelmäßig eine andere hübsche Frau an seiner Seite hatte. Also das ganz große Idol für uns Jungs.
„Maik, wie schafft man es eigentlich ein Mädchen rumzukriegen?“ fragte ich verlegen.
Maik musste sich das Lachen verkneifen: „Na ja. Wie beim Radfahren. Ein bisschen Talent und viel Training. Man darf sich nicht von Misserfolgen entmutigen lassen. Mit jedem Mal, wo es klappt gewinnt man an Selbstvertrauen und wird lockerer.“
„Aber hast du kein schlechtes Gewissen, wenn du die Frauen wieder abservierst, nachdem du sie rumgekriegt hast?“
„So, sagt man das so im Dorf, dass ich das mache? Na ja. So ist das nicht. Ich suche mir schon Frauen, die selbst nur auf kurze Abenteuer aus sind. Davon gibt es mehr, als du denkst. In deinem Alter vielleicht noch nicht. Aber, ich verrat’ dir mal was. Es ist viel einfacher eine Frau für ein kurzes Abenteuer zu finden, als die eine, mit der man es länger aushält.“ Unser Gespräch wurde unterbrochen als Mom nach Hause kam.
Ich berichtete Mom von meinen Erlebnissen. Sie bedankte sich bei Maik für seine Fürsorge und ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn Mom und Mike ein Paar wären. Optisch ein Traum, aber vermutlich inkompatibel wie Hund und Katze.
Ich verabschiedete mich von Maik und bat: „Mike, wenn du erfährst, wie es Tom geht, gibst du mir bitte Bescheid.“
„Klar, ich höre mich um. Mach‘s gut, Chase. Ich muss los. Ich will die Grand Depart nicht verpassen.“
Dass Mike sich die Übertragung des Starts der Tour de France ansehen wollte, wunderte mich nicht, aber woher kannte er die Zeichentrickserie für Vorschulkinder?
***
Am nächsten Abend klingelte das Festnetztelefon.
Kurz darauf rief Mom: „Nico, ist für dich.“
Nanu, wer rief mich denn auf dem Festnetz an? Mike, auf dessen Nachricht zu Toms Gesundheitszustand ich wartete, hatte doch meine Handynummer. „Hallo, Nico hier“, meldete ich mich.“
„Hallo Nico. Ich bin Frau Schmalbeck, die Mutter von Tom. Dein Trainer hat mir eure Nummer gegeben. Zunächst einmal wollte ich mich ganz herzlich bei dir dafür bedanken, dass du, wie er mir gesagt hat, dafür verantwortlich bist, dass Tom gefunden wurde. Tom hat sich den Oberschenkel und zwei Rippen gebrochen. Er wurde heute operiert und hat die OP gut überstanden. Er muss ein bis zwei Wochen im Krankenhaus bleiben. Tom hat mich gebeten, dich zu fragen, ob du ihn mal besuchen kommst. Bitte Nico, das wäre sehr wichtig, weil er sonst niemanden zu sich lässt, außer uns.“
„Klar, kann ich machen. Es sind ja jetzt Ferien und Urlaub steht nicht an.“
„Schön, er liegt im Kreiskrankenhaus, Block B, im ersten Stock, Zimmer 1204. Wie gesagt, es wäre sehr wichtig, dass du ihn besuchst. Bitte schiebe das nicht auf die lange Bank. Also noch mal vielen Dank und einen schönen Abend.“
„Ja, schönen Abend.“
„Und?“, wollte Mom wissen.
„Sehr strange. Es war die Mutter von Tom. Er hat sich den Oberschenkel und zwei Rippen gebrochen und wurde heute operiert. Aber seine Mutter ist scheinbar auch nicht ganz sauber. Sie hat mich gedrängt ihn im Krankenhaus zu besuchen. Ausgerechnet mich, wo ich den Typen nicht ausstehen kann. Aber scheinbar lässt er keine anderen Besucher zu sich. Merkwürdig das Ganze.“
„Dann solltest du vielleicht hin. Du hast ja jetzt Ferien. So schlimm wird’s schon nicht werden. Wahrscheinlich will er sich nur persönlich bei dir bedanken.“
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Ich schätze Tom hat wol arges Glück gehabt bei dem Sturz! Freu mich auf den nächsten Teil, bin gespannt wie es weiter geht!