Absicht
Dieser Eintrag ist Teil 1 von 2 der Serie Absicht
Windelgeschichten.org präsentiert: Absicht
Kapitel 1: Sonnenstrahl
An diesem Morgen wurde er durch einen Sonnenstrahl geweckt. Nicht durch Papa, seinen großen Bruder oder durch einen Wecker, sondern nur durch die Sonne.
Schon um diese Zeit hatte sie eine unglaubliche Kraft. Es war Spätaugust, die Temperaturen immer noch hochsommerlich und einen Moment lang war alles in Ordnung.
Der Zehnjährige kuschelte seinen Kopf in dasKissen hinein, summte leise, dann öffnete er ein Auge – und schloss es schnell wieder. Viel zu hell. Und zu warm! Jetzt schon, obwohl es erst Morgen war. Langsam schob er die dünne Sommerdecke von sich weg und eine angenehm kühle Brise strich über seine Beine. Er spürte die Windel zwischen seinen Beinen, nass, aber nicht warm. Jedenfalls nicht wärmer als alles andere um ihn herum.
Es hatte nicht lange gedauert, bis er sich daran gewöhnt hatte morgens wieder in einer nassen Windel aufzuwachen. Zuerst hatte er sich eingeredet, das wäre nur vorrübergehend, nur ein paar Tage. Doch die erste Packung war längst aufgebraucht und seine Windeln trotzdem jeden Morgen nass.
Sein Fenster stand auf Kipp, vielleicht war das auch der Grund für die Wärme. Draußen hörte er die Müllabfuhr. Vielleicht war es gar nicht der Sonnenstrahl der ihn geweckt hatte, sondern der Lastwagen der Müllabfuhr mit seinem lauten Motor, sinnierte er. Jeden zweiten Freitag hielt der große orange …
Moment, Freitag?
Der Junge sprang aus dem Bett. Jetzt war er hellwach!
Er hatte nicht den geringsten Zweifel: Gestern war Donnerstag gewesen, heute also Freitag! Er musste zur Schule! Wieviel Uhr war es?
Nur mit Windel bekleidet sprintete der Zehnjährige in den Flur. Dachte gar nicht darüber nach, was er anhatte – was er nicht anhatte.
»Papa! Nick!!«, rief er in die Stille und warf im Vorrübergehen die Türe zum Zimmer seines großen Bruders auf.
Niemand da.
Er fragte sich, ob sein Bruder diese Nacht überhaupt zu Hause gewesen war. In Filmen erkannten die Leute immer an einem ordentlich gemachten Bett, ob nachts jemand darin geschlafen hatte. Aber das war großer Quatsch. Nicks Bett war unordentlich, aber das war es gestern Abend auch schon gewesen.
»Papaaaaa?«, rief der Junge verwundert und lief weiter. Die Tür zum Elternschlafzimmer stand offen: Unordentliches Bett, aber kein Elternteil weit und breit. In der Küche sah der Zehnjährige auf die Uhr: Zwanzig vor Acht!
In Zwanzig Minuten begann die erste Schulstunde!
Wo ist Papa?
Wo ist Nick?
Was ist mit dem Frühstück?
Warum hat mich keiner geweckt?
Mit Mama wäre das nicht passiert!
Der Kopf des Zehnjährigen platzte beinahe vor Gedanken. Zum Glück brauchte er seinen Kopf nicht, um sich fertigzumachen. Dafür blieb auch gar keine Zeit! Er sprintete zurück in sein Zimmer, schnappte sich herumliegende, bereits getragene Kleidung und streifte sie rasch über. Grünes Tshirt und eine ebenso olivgrüne, kurze Stoffshorts. Zähneputzen übersprang er heute Morgen. Haare kämmen auch. Auf dem Weg in die Küche machte er halt im Flur, griff nach dem Telefon und rief seinen Papa an.
Es klingelte wieder ewig. Dabei hatte er überhaupt keine Zeit jetzt!
»Herbrands??«, meldete sich sein Vater, der Stimme nach saß er im Auto.
»Papaaa!«, meldete sich der Junge erleichtert.
»Ach, Fenix! Du bists … Guten Morgen!«, antwortete sein Papa.
»Wo bist duu?«
»Hab‘ ich dir doch erzählt gestern Abend! Oder? Oder nicht?«, überlegte sein Vater: »Ich bin schon auf Achse. Baustellenbesichtigung in so nem kleinen Dorf. Kleinfeldern, in Niedersachsen. Fährt man fast drei Stunden hin. Bis Morgen Mittag, da setzen wir den Rumpf fürs erste Windrad. Alles gut? Nick hat dich doch geweckt … oder?«
Fenix stockte kurz. Sah rüber zu dem leeren Zimmer seines Bruders. Er atmete kurz durch: »Klaaro!«
Sein Vater atmete erleichtert durch: »Alles gut, Fussel?«
»Japs«, log Fenix. Aber er konnte seinen großen Bruder doch nicht verpetzen! »Ich wollt nur Wissen, dass bei dir alles okay ist, Papi! Ich muss jetzt zur Schule. Tschüssi!«
Sein Vater wollte grade noch irgendetwas sagen, da hatte Fenix schon aufgelegt und suchte stattdessen die Handynummer seines großen Bruders aus dem Adressbuch. Nervös tippelte der Zehnjährige mit den Beinen und quetschte dabei seine aufgedunsene Nachtwindel zusammen während er wartete, dass sein großer Bruder den Anruf annahm. Oh, die Windel musste er unbedingt noch ausziehen!
Dreimal klingeln. Viermal klingeln. Sechs Mal. Anrufbeantworter.
»Wo. Bist. Du??«, rief er etwas zu laut hinein und lies das Telefon wütend neben die Ladeschale fallen. Schnell rannte er ins Bad, zog seine Hose etwas nach unten, riss die Seiten seiner Underjams-Hochziehwindel auf und warf sie in den Mülleimer. Seitdem er sich nachts wieder wie ein Baby vollpinkelte duschte er morgens eigentlich immer, aber dafür war heute definitiv keine Zeit mehr! Mit ein bisschen Toilettenpapier trocknete er seinen Windelbereich zumindest notdürftig ab, lies den Gummizug der Hose zurückschnappen und sprintete zurück in den Flur.
Laut Küchenuhr blieben ihm noch Zwölf Minuten. Eilig riss er den Kühlschrank auf, dessen Inhalt mangels Menge erstaunlich schnell zu erfassen war. Hätte er an diesem Morgen Heißhunger auf eingelegte Gurken, fast leere Marmelade oder Ketchup gehabt wäre sein Glückstag gewesen. Selbst der Brotkorb war leer. Er griff nach der Cornflakespackung, die auf dem großen Marmortresen stand: Leer. Nichtmal Cornflakes ohne Milch waren also eine Option.
»Maaaaaan …«, stöhnte der Zehnjährige genervt und knallte die Türe so hart zu, dass das Gurkenglas darin klirrte. Seit Mama nicht mehr da war klappte das wirklich schlecht mit dem Einkaufen. Ständig fehlte ihnen irgendetwas! Er hasste das. Barfuß sprintete er zurück in den Flur und nahm stattdessen einen Fünfzigeuroschein aus der obersten Schublade der Flurkommode. Wenigstens davon war immer genug da.
Er griff nach seinem Eastpak-Schulranzen, drückte die Klettverschlüsse seiner blauen Sandalen zu und rannte aus der Wohnung in den Hausflur. Er nahm die Treppen im Sprung, drückte die schwere Holztüre mit dem Arm auf und rannte den Bürgersteig entlang. Das Rennen tat gut! Als könnte er seine Gedanken einfach hinter sich lassen. Schnell sortierte er alles. Er hatte Hunger. Und Durst! Durst erst recht! In weniger als Zehn Minuten begann die erste Stunde. Aber er war fast da, das würde er locker schaffen. Selbst wenn die Ampel am Eimsbütteler Marktplatz rot wäre – was sie war, das sah er schon von weitem.
Amir Çelik lies die schweren Rolläden behutsam herunter. Es war erst kurz vor Acht, doch die Sonne stand schon hartnäckig in der Häuserschlucht. Den Rest des Tages musste er klug mit der Kühle haushalten, damit es nicht zu warm in seinem kleinen Kiosk wurde. Der schnauzbärtige Mann Ende Fünfzig haderte mit der Entscheidung, keine Klimaanlage in dem kleinen Ladenlokal eingebaut zu haben. Seine Eltern hatten früher nie eine gehabt, nicht mal in der Türkei. Auch wenn der Teil der Familie, der noch dort lebte längst überall Klimageräte verbaut hatte blieb er standhaft. Er lebte schließlich in Norddeutschland, nicht Anatolien.
Amir bückte sich, was nach dreißig Jahren schwerer Pakete und Getränkekisten längst nicht mehr so einfach ging wie früher, öffnete den kleinen versteckten Kühlschrank in der Ecke hinter dem Tresen und holte einen Apfel hervor.
Nur einen Apfel. Sein Magen vertrug um diese Uhrzeit wenig, ein Apfel war das höchste der Gefühle. Er goss sich grade seinen Tee in die Tasse neben der Registrierkasse ein da flog die Ladentüre sprunghaft auf und krachte unsanft gegen das Zeitschriftenregal dahinter. Ein Junge mit zerzausten blonden Haaren platzte in seinen Laden.
»Junge!«, wies Amir ihn barsch zurecht. Fenix sah erschrocken nach vorne, aber als der Mann am Tresen ihn erkannte weiteten sich dessen Gesichtszüge: »Fenix, mein Sohn! Darfst du nicht so einen Krach machen am Morgen!«
Die große rote LED-Uhr über der Ladentheke zeigte 7:53.
»Jaa Amir«, antwortete er und griff schnell in den Getränkekühlschrank, dann noch ins Snackregal: »Das ist ein Notfall, Tschuldigung!«
»Ein Notfall?«, wunderte sich der Ladenbesitzer. Amir war immer ruhig, egal was passierte. Manchmal fragte sich Fenix was er in seinem Leben wohl schon alles erlebt hatte. Er kam aus der Türkei, soviel wusste er. Mehr aber auch nicht.
»Musst du auf Toilette?«, fragte Amir.
»Hä??«
»Wegen deine Hose …«, erklärte der Ladenbesitzer. Erschrocken sah Fenix an sich herab und erkannte einen faustgroßen nassen Fleck auf seiner Hose. Scheiße! Ein völlig eindeutiger Fleck. Wann war das denn passiert? War er beim saubermachen nicht gründlich genug gewesen?
Schnell zog er sein Tshirt über die Hose, sodass man den Fleck nicht mehr sah und schüttelte mit dem Kopf.
»Ich hab verschlafen!«, erklärte er aufgeregt, während Amir die Kasse bediente. Er scannte eine Packung Ringli-Chips, anschließend die Flasche Vanillecola. Dann runzelte er die Stirn: »Hat dich dein Vater nicht geweckt?«
»Ist schon arbeiten. Nick hätte’s sollen, aber keine Ahnung wo der ist …«, antwortete Fenix während er den Fünfzigeuroschein hinlegte.
Amir schüttelte mit seinem Kopf, aber Fenix wusste nicht, ob er damit seinen Bruder meinte oder das Junkfood, das er sich als Pausensnack herausgesucht hatte. Amir reichte ihm zuerst das Wechselgeld, doch dann legte er noch einen Apfel dazu: »Iss nicht so viel ungesundes Zeug!«, mahnte er.
Fenix nickte pflichtbewusst, stopfte alles nachlässig in seinen Schulranzen, selbst den Apfel, und sprintete aus dem Laden hinaus. Die Ampel war grün, die Temperatur im Schatten der großen Häuser erträglicher als vorhin in ihrer Wohnung und am Ende des nächsten Blocks konnte er die Grundschule schon sehen. Und Essen und Trinken hatte er jetzt ja auch. Sogar einen Apfel.
Das Wetter war gut, die Sonne strahlte. Sogar Cola hatte er!
Warum freute er sich nicht?
Er sollte sich nicht so anstellen. Das war alles, was Fenix in diesem Moment dachte.
Fünf Minuten vor Schulbeginn kam er auf dem hinteren Teil des Schulhofes an. Erschöpft lehne er sich an die Kalksteinmauer des alten Schulgebäudes, öffnete die Cola und trank in einem Zug so viel, dass er sofort danach Rülpsen musste. Er wischte sich den Mund mit seinem Handrücken trocken. Starrte ins Leere. Spürte das klebrige Gefühl zwischen seinen Oberschenkeln, an seinem Po und vor allem in seinem Schritt. Er bereute es, sich nicht richtig saubergemacht zu haben heute Morgen. Er roch an sich selbst. Sein Tshirt roch nach Schweiß, erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er es schon die ganze Woche lang trug. Und er roch nach Pipi.
Er war ein Fünftklässler, aber er stand auf dem Schulhof, hatte eine angepinkelte Shorts an und stank nach Urin.
Es war 7:59, aber Fenix hätte sich am liebsten wieder ins Bett gelegt.
Den Schultag überstand er irgendwie. Wobei das nicht schwer war, an einer Grundschule mit offenem Konzept und dem modernsten pädagogischen Schnickschnack, wie sein großer Bruder zu sagen pflegte. In seinen Lerngruppen waren Viert- bis Sechstklässler vermischt, es gab keine Noten und in den letzten zwei Wochen waren eh alle total lieb zu ihm und nahmen Rücksicht auf ihn, wegen der Sache mit seiner Mutter.
So wie seine Klassenlehrerin, die ihn in der Frühstückspause mal wieder besorgt angestarrt hatte. Dafür waren Jasper und Karl, die zwei anderen Jungs an seinem Tisch ganz schön neidisch auf seine Chipstüte gewesen. Die ganzen sechs Stunden sagte er kaum etwas, konnte dem Unterricht trotzdem gut folgen und verließ die Schule nach Schulschluss so still wie er sie am Morgen betreten hatte mit dem einzigen Unterschied, dass er jetzt alle Zeit der Welt hatte. Trotzdem war sein erster Reflex, dass er losrennen wollte. Da war plötzlich dieser Gedanke in ihm. Dass zuhause alles normal wäre. Dass Mama am Herd stehen würde und kochte. Dass Nick genervt wäre von ihr und dann seine Zimmertüre zuknallen würde. Mama wäre verärgert und besorgt zugleich, aber dann würde sie ihn sehen, ihre Arme ausbreiten und alles wäre wieder gut. Eine Träne lief über seine Wange, gefolgt von einer Zweiten. Fenix versuchte seine Augen mit dem Handrücken trocken zu wischen, aber es waren zu viele. Er blickte in den blauen Himmel und dann war dieser Gedanke da: Was würde seine Mama sagen, wenn sie ihn so sehen würde?
»Es ist nicht schlimm zu weinen, wenn du traurig bist«, hatte sie ihm einmal gesagt. Da war er grade in der ersten Klasse gewesen und einer der anderen Jungen hatte ihn ausgelacht als er wegen einer schlechten Note geweint hatte.
Wegen einer schlechten Note. Einer drei in Englisch.
Kaum zu fassen.
Er würde nie wieder wegen einer Schulnote weinen, so viel war sicher. Fenix lies den Kopf hängen, schlurfte mit seinen Sandalen über den Bürgersteig und ging langsam nach Hause. Er hatte alle Zeit der Welt. Papa würde erst morgen zurückkommen, Mama nie wieder und Nick war bestimmt auch noch nicht zu Hause.
Ein Knoten formte sich in Fenix Bauch. Die Art von Knoten bei dem einem übel wurde, bei dem die Beine plötzlich schwach wurden und man sich auf den Boden setzen wollte. Ganz sicher würde er wieder alleine sein gleich. Weil Papa arbeiten musste und Nick es zu Hause nicht mehr aushielt.
Die Metropole war mittlerweile erwacht. Es waren Siebenunddreißig Grad, die Menschen um ihn herum waren entweder fröhlich oder man sah ihnen an, dass es heute zu heiß war. Niemand beachtete einen kleinen Jungen wie ihn. Ein Cabrio mit lauter Musik raste viel zu schnell durch die Straße, es roch nach Benzin, nach heißem Asphalt und dann, als das Auto weit genug weg war wieder nach Pipi. Das war er.
Scheiße.
Zu Hause angekommen griff er als erstes zum Telefon überprüfte den Anrufbeantworter und versuchte anschließend erneut, seinen großen Bruder anzurufen. Fenix war nicht überrascht, als Nick wieder nicht ans Handy ging.
Da war der Bauchknoten wieder.
Er könnte bei einem seiner Freunde anrufen und sich zum Spielen verabreden. Bei Marek zum Beispiel, oder bei Louis. Dann wäre er nicht mehr allein. Vielleicht würde Mareks Mama sie sogar ins Schwimmbad fahren, genau das richtige bei diesem Wetter. Aber dann müsste er mit Marek spielen, dabei konnte er grade nicht spielen. Er hatte gar keine Energie dafür. Und Mareks Mama würde ihn anschauen, wenn er zu Besuch kam. So wie ihn alle Erwachsenen seit zwei Wochen anschauten, zumindest alle die ihn kannten. Mit großen Augen, voller Mitleid und besorgt. So wie seine Lehrerin in der Frühstückspause. Sie wussten nicht, was sie sagen sollten so wie auch er nicht wusste, was er antworten sollte. Alle behandelten ihn wie ein rohes Ei, dabei wollte er einfach nur vergessen was passiert war. Auch wenn man nicht vergessen konnte, wenn plötzlich etwas fehlte was sonst immer dagewesen war.
Nein, zu Marek oder Louis konnte er nicht gehen.
Stattdessen trotte er ins Badezimmer, warf seine klebrige, miefige Kleidung auf den Boden und stellte sich unter die Dusche.
Das kühle Wasser war eine wahre Wohltat. Endlich das klebrige Gefühl auf der Haut loszuwerden fühlte sich mehr als gut an. Eigentlich störten ihn seine Windeln nicht mehr. Nicht, dass er damit ins Bett gehen musste und auch nicht, dass sie morgens nass waren. Wenn er keine Schule hatte, behielt er sie morgens gerne noch ein paar Stunden an, bis Papa ihn daran erinnerte, duschen zu gehen und sich für den Tag anzuziehen. Aber das dauerte meist, denn Papa schlief am Wochenende ganz schön lange, seitdem Mama Tod war.
Fenix duschte mehr als eine halbe Stunde. Nachdem er sich eingeseift hatte und sogar die Haare gewaschen hatte, setzte er sich hin, nahm sich ein paar Spielzeugautos die noch von früher in der Plastikkiste mit dem Badewannenspielzeug lagen – obwohl er gar nicht in der Badewanne war – und spielte damit.
Ein Polizeiwagen und zwei Feuerwehrautos kreuzten auf. Ein kleines graues Auto hatte sich überschlagen, kein Wunder bei diesem Sturm. Immer noch prasselte der Regen unbarmherzig auf die Einsatzkräfte. Ein großer Baum war umgefallen und blockierte die Kanalisation, sodass der Wasserpegel minütlich stieg.
Zuerst schickte Fenix das Tanklöschfahrzeug in das Wasser hinein, doch es kam nicht weit. Schon nach der zweiten Fliesenfuge stand die Flut bis zur Unterkante der Fenster – und ab da wurde es definitiv zu gefährlich. Die Einsatzkräfte könnten sterben!
Langsam zog sich das Tanklöschfahrzeug zurück. Fenix schielte zu der Spielzeugkiste: Er brauchte jetzt das kleine Boot, was darin vergraben war. Das war zwar ein Speedboot und viel zu groß verglichen mit den Feuerwehrfahrzeugen, aber es passte definitiv am besten zu dem Einsatz. Da gab es nur ein Problem: Sein linker Arm war der umgestürzte Baum. Wenn er jetzt aufstand und nochmal in die Kiste griff, floss das ganze aufgestaute Wasser ab und das Spiel wurde wieder langweilig! Das Badewasser lies sich wirklich super aufstauen. Unglaublich, wie schnell das ging. Zuerst waren es kleine, dünne Fäden gewesen, die sich über die Badezimmerfliesen geschlängelt hatten. Dann breite Ströme, die den leichten Unebenheiten des Bodens folgten. Das Wasser sickerte links an der bodentiefen Glaswand vorbei, in den Dreckwäschestapel vor der Waschmaschine und …
Scheiße!! Er setzte ja das ganze Badezimmer unter Wasser!
Sofort sprang Fenix auf, ließ das Wasser wieder in Richtung Abfluss fließen, die Spielzeugautos in das aufgestaute Wasser fallen und drehte den Hahn ab.
Das halbe Bad stand unter Wasser.
Gut, dass niemand zu Hause war, sonst hätte er unter Garantie großen Ärger bekommen.
Vorsichtig tapste er über die spiegelglatten Fliesen. Ein Handtuch griff er um sich abzutrocknen, die anderen legte er auf den Boden. Der Rest würde hoffentlich vom Wäschestapel aufgesaugt werden.
Die nächste Ernüchterung stellte sich beim Blick in den Kleiderschrank ein. So leer wie der Kühlschrank. Wie konnte ein Kleiderschrank leer sein? Okay, natürlich war der Schrank nicht ganz leer. In Puncto Schneeanzug war er super aufgestellt. Und bei den Pullis auch, auch wenn die definitiv nicht das richtige für diese Temperaturen waren.
Windeln hatte er auch noch genug. Immerhin.
Wo waren seine ganzen Shirts? Die Hosen? Fenix warf die Kleiderschranktüre genervt zu und sah sich in seinem Zimmer um, aber da lag auch nichts. Mit einer Hand hielt er das Handtuch fest, in das er sich eingewickelt hatte, aber auch das wurde langsam kratzig. Sich endlich wieder etwas anziehen wollend lief er zurück ins Badezimmer, wo der Wäschestapel all seine Fragen im Grunde beantwortete. Wenn er den so sah, dann fragte er sich, ob seit dem Tod seiner Mutter überhaupt schon jemand Wäsche gewaschen hatte? Zumindest lag das Hemd, was er auf der Beerdigung getragen hatte noch im Stapel.
Nach etwas Wühlen fand er ein zerknittertes, aber noch vergleichsweise frisches weißrotes Tshirt, das bedeutend besser war als das Handtuch. Es hatte recht weit oben auf dem großen Wäscheberg gelegen und war fast gänzlich von der Flut, die er eben veranstaltet hatte verschont geblieben. Was man von den meisten seiner Hosen nicht behaupten konnte. Die wenigen trockenen Unterhosen in der Wäsche rochen alle, als hätte er reingepinkelt. Was absurd war, immerhin war er seit einem Monat zehn Jahre Alt. Auch wenn er jetzt nachts wieder ins Bett pinkelte, er machte doch nicht in die Hose! Aber das war klar, das musste daran liegen dass er die Unterhosen Nachts über seinen Windeln trug, jetzt wo es zu warm für einen Schlafanzug war. Zumindest bis gestern Abend, wo in seinem Kleiderschrank keine Unterhosen mehr gewesen waren. Er nahm sich die heraus, die am wenigsten roch. Das war schon okay. Zuhause war eh keiner, der sich beschweren würde und ihn selber störte das eigentlich nicht, wenn man davon absah dass es peinlich war. Die vollgepinkelten Windeln morgens störten ihn ja auch nicht, auch wenn Fenix wusste, dass das echt komisch war.
Plötzlich kam ihm eine Idee! Er ließ den Wäschestapel wieder in sich zusammensacken, rannte rüber in sein Zimmer und entnahm seinem Kleiderschrank eine völlig frische, noch gänzlich ungetragene, sehr dicke und weiche Unterhose der Marke Pampers. Modell Underjams. Wenn er keine Unterhosen mehr hatte, konnte er ja einfach eine Windel tragen! Das war mindestens so verrückt wie kein Problem mit Pipi-Unterhosen zu haben, oder eine nasse Windel morgens einfach anzubehalten. Fenix wusste, das mit ihm etwas nicht stimmte. Und er schämte sich zwar dafür, aber als er die Underjams an seinen Beinen hochzog und das weiche Polster zwischen seinen Beinen spürte, fühlte er sich plötzlich trotzdem etwas besser.
Fast als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Plötzlich wurde alles ganz leicht: Im obersten Fach seines Kleiderschrankes lag seine Badehose. Die ging auch als kurze Shorts durch, easy. Ein paar Sekunden später war er frisch angezogen. Als nächstes lief er ins Bad, spürte dabei die weiche Windel zwischen seinen Beinen reiben und nahm sich dann den Wäschestapel vor. So viel wie in die Waschmaschine passte, stopfte er hinein, sodass er das Bullauge vorne nur noch mit viel Kraft schließen konnte. Er war nichtmal sauer auf Papa, dass er sich noch nicht drum gekümmert hatte. Stattdessen war er stolz, dass er die Dinge nun selbst anpackte!
Okay, der Kram war in der Waschmaschine drin.
Jetzt musste das Ding nur noch angeworfen werden. Fenix schraubte das Flüssigwaschmittel auf, er hatte oft genug gesehen wie seine Eltern die Waschmaschine angeschaltet hatten. Selbstsicher zog er die Einfüllschublade der Maschine auf – und stutzte.
Da waren ja drei verschiedene Fächer! Shit.
Und keines davon war sinnvoll beschriftet. Nirgends ein »Waschmittel hier rein« oder ein Symbol oder sowas. Wozu brauchte eine Waschmaschine überhaupt drei Fächer? Was für drei Sachen würde man in eine Waschmaschine reintun wollen?
Nachdem er kurz überlegt hatte, verteilte Fenix das Waschmittel auf alle drei Fächer. Dann drehte er den Regler auf »Intensivreinigung« und drückte auf Start.
Fertig.
Zack!
Zwei Stunden und Achtunddreißig Minuten.
Und das kriegen Papa und Nick nicht hin, wow.
Doch die Ernüchterung kam im selben Moment: Jetzt, wo er nichts mehr zu tun hatte, fühlte er die Einsamkeit wieder. Er war immer noch allein. Er hatte Hunger. Nicht auf Chips oder so, sondern auf ein normales Mittagessen. Wenn es sein musste sogar mit Spinat, oder mit Kolrabi oder sowas. Etwas wo man keine Lust drauf hatte und deshalb nur so drin rumstocherte während sich die Eltern über etwas unterhalten und der große Bruder gelangweilt auf sein Handy schaut und am liebsten gar nicht da wäre.
Wieder versuchte Fenix seinen großen Bruder zu erreichen. Das Einzige, was sich geändert hatte, war, dass diesmal sofort die Mailbox dranging. »Bitte komm nach Hause Nick, bitte!«, hinterließ er als Nachricht.
Jetzt klopfte sein Herz. Als kleiner Bruder machte man sich keine Sorgen um den Großen, vor allem wenn man Zehn war und der Große schon Sechzehn. Und Nick. Aber der Gedanke, heute Nacht alleine zu sein behagte Fenix gar nicht. Er griff wieder zum Telefon, wollte Marek anrufen und fragen, ob er bei ihm übernachten dürfe, da fiel ihm wieder seine Windel ein. Dann würde Marek herausfinden, dass er ins Bett machte. Aber das war okay, wenn er dafür nicht alleine zu Hause wäre heute Nacht, oder? Oder nicht?
Fenix entschied sich dazu, nichts zu überstürzen. Da musste er erstmal gründlich drüber nachdenken.
Er konnte ja auch immer noch seinen Vater anrufen, wenn er Angst bekam. Dann musste er zwar Nick verpetzen, aber Papa würde sich auf jeden Fall sofort ins Auto setzen und zu ihm nach Hause fahren. Wenn es also gar nicht ging, dann würde er einfach Papa anrufen. Außerdem war er ja schon Zehn, er konnte ja wohl eine Nacht zu Hause verbringen. Zur Not würde er einfach das Licht anlassen, dann wäre es nicht so gruselig.
Drei-Vier Stunden verbrachte Fenix auf der Couch vor dem Fernseher mit dem Toggo-Nachmittagsprogramm. Immerhin hatte er sich frisch geduscht und sogar die Waschmaschine angeworfen, er hatte sich also eine kleine Belohnung verdient. Auch wenn Mama ihm niemals so viel Fernsehen erlaubt hätte und Papa vermutlich auch nicht.
Es dauerte etwa zehn Werbepausen, bis Fenix so viel Hunger hatte, dass er etwas tun musste. Da die Aussicht auf Essiggurken mit Ketchup wenig verlockend war und nichtmal der Gefrierschrank mehr zu bieten hatte als Kühlakkus und eingefrorenes Hackfleisch schlüpfte er gegen Siebzehn Uhr zum zweiten Mal an diesem Tage in seine Sandalen und ging nach draußen. Diesmal ganz in Ruhe, dafür mit Underjams unter der Hose. Und ohne Plan. Dafür stand ihm die ganze Welt von Hamburg-Eimsbüttel offen und wenn er wollte sicherlich noch mehr. Vom S-Bahnhof Diebsteich konnte er nach Altona fahren und von dort hin im Prinzip überall hin, vielleicht sogar zu seinem Vater. Wo hatte der nochmal gesagt war er? Kleinefeld?
Aber halt, eigentlich wollte er doch Essen besorgen. Vielleicht ein Happymeal im Mcdonalds hinter der Schule? Noch etwas, das Mama nicht gut gefunden hätte. Langsam ging er die Kieler Straße entlang, denselben Weg den er heute Morgen in zwei Minuten gerannt war. Der Sushiladen hatte offen, doch Meerestiere mochte er nur in Form von Fischstäbchen. Die Gebäude hier sahen alle gleich aus, glatte Klinkerfassaden, Fenster mit dicken weißen Fensterläden die von weitem aussahen wie Gitter. Die Häuser waren hoch wie eine Wand und auch massiv wie eine. Obwohl es noch mitten am Tag war lag die Straße schon im Schatten der Häuserschlucht. Die Hitze kam nun nicht mehr von der Sonne, sondern wurde vom Asphalt und den Gehwegplatten ausgestrahlt. Überall standen noch die großen schwarzen Mülltonnen die ihn heute Morgen davor bewahrt hatten, die Schule zu verschlafen. An der Kreuzung parkte ein Lastwagen halb auf dem Bürgersteig und blockierte den Fahrradweg und die halbe Fahrbahn. Stoisch als hätte sie alle Zeit der Welt senkte sich die Ladebordwand mitsamt einer Palette brauner Pappkartons und ignorierte dabei das Hupen der Autos, die genervten Radfahrer und das hektische Treiben der Großstadt. ›Durstlöscher‹ las Fenix auf den Kartons und erst jetzt verstand er, dass der Lastwagen vermutlich grade Amirs Kiosk belieferte.
Jetzt wusste er, wo er hin wollte!
Autor: Giaci9 | Eingesandt via Mail
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Also beim Lesen kam mir die Story schon ein wenig bekannt vor 🙂 Erst der Spitzname Fusse… und dann such noch Fenix 😀 Wir bekommen also unsere Vorgeschichte zu die Kerkwald Geschwister.. Giaci du bist ein Genie! Aber jetzt tut mir Fenix echt total leid..
Das schöne ist ja, dass wir dank der Kerkwald-Geschwister wissen, dass es Fenix in Zukunft besser gehen wird! 😀
ich weis aber troootzdem..
eine Prequel zu der Kerkwaldgeschichte,über ************** du bist ************** mich sehr auf die Geschichte,bin gespannt wie ein Flitzebogen
Die Zensurfunktion hier ist ja schon echt komisch. Ich wüsste ja echt gerne, was da eigentlich stand … 😀
Da sollte eigentlich stehen daas ein Prequel zu der Kerkwaldgeschichte über Fenix echt mega ist und ich gespannt wie ein Flitzebogen bin wie es weitergeht 🙂
Ich habe den Filter mal komplett überarbeitet… es sollte jetzt passen
Hallo Giaco,
jetzt willst Du Dich also auch in der „hohen Kunst“ eines Prequels versuchen…
Bin gespannt, wie Du es umsetzen wirst !
Das „Klassen Baby“ bekommt dann keine Fortsetzung mehr, oder ?
LG von Windelspiel