Kein Zurück (18)
Nachdem ich beim Packen mit dem Gröbsten fertig war, schickte ich Leon eine Nachricht und fragte, ob er Zeit zum Telefonieren hat. Kurz darauf rief er an: „Hallo Nico, was ist?“
„Hi. Das weißt du ganz genau. Ich will wissen, wie du es geschafft hast, dass Lisa heute beim Baden dabei war.“
„Also, als ich am frühen Vormittag in den Stall bin, um nach meinen Katzen zu sehen, saß Lisa versteckt in einer Ecke auf einem Strohballen, mit Blacky, einer meiner Katzen auf dem Schoß und weinte. Zunächst dachte ich natürlich, dass Blacky etwas passiert ist. Aber der fühlte sich pudelwohl und schnurrte. Ich fragte Lisa, was sie hat und zuerst wollte sie es nicht sagen. Ich ließ aber nicht locker und dann erzählte sie mir, was Andrea total Fieses zu ihr gesagt hat. Lisa hatte heute eigentlich einen freien Tag und war nur für die Reitstunde da. Zufällig hörte ich in dem Moment die Stimme meiner Mutter und rief sie her. Lisa wollte Andrea nicht verpetzen, aber ich sagte ‘entweder du sagst es oder ich‘ und da hat sie es meiner Mutter gesagt. Die wurde richtig sauer, hat was von ‘dritter Abmahnung’ gesagt und war auf 180. Sie war aber trotzdem noch total lieb zu Lisa, hat sie getröstet und ist dann ab zu Andrea. Da wurde es richtig laut. Ich habe mich dann zu Lisa gesetzt und gefragt, wie sie es geschafft hatte, Blacky auf den Schoß zu nehmen. Blacky ist nämlich total scheu, der lässt sich selbst von mir nicht immer streicheln und schon gar nicht auf den Arm nehmen. Lisa sagte, sie hat gar nichts gemacht. Sie ist hier weinend gesessen und da ist ihr Blacky um die Beine und auf den Schoß gesprungen. Wir unterhielten uns dann noch ein bisschen über meine Katzen. Lisa erzählte, dass sie auch mal eine hatte, ihre Eltern jetzt aber keine mehr wollten, weil die Familie wochenlang traurig war, als die damals wegen Altersschwäche eingeschläfert werden musste.
Andrea rauschte dann wütend mit dem Auto davon und meine Mutter führte ein paar Telefonate. Dann kam sie zu uns und bot Lisa persönlich eine Privatstunde an. Meine Mutter gibt Anfängern nie Reitstunden. Das machen bei uns nur die Pferdewirte. Um von meiner Mutter Unterricht zu bekommen, muss man schon auf Meisterschaftsniveau sein. Also ganz große Ehre. Ich sah den beiden dann zu und ich glaube, Lisa hat in der Stunde mehr gelernt, als in allen anderen Stunden zusammen. Sie stellte sich auch echt gut an und scheint Talent zum Reiten zu haben. Jedenfalls war sie danach ziemlich happy und ich habe sie einfach gefragt, ob sie nachmittags schon etwas vorhat und ob sie nicht mit zum Baden mitkommen will. Sie hat ja gesagt.
Aber das Schärfste kommt noch. Meine Mutter hat mitbekommen, dass ich Lisa das mit dem Badengehen gefragt habe. Es ging aber nicht anders, sonst wäre Lisa weg gewesen. Beim Mittagessen fürchtete ich als schon eine Ansprache von meiner Mutter, von wegen, die ist nur hinter meinem Geld her und so. Aber stell dir vor, meine Mutter war voll im Schwiegertochtermodus. Sie hat Lisa in den höchsten Tönen gelobt. Wie fleißig sie doch ist und so hübsch und so eine tolle Köperspannung. Mir wurde ganz anders. Aber besser so, als wenn sie Lisa nicht leiden könnte. Dann erzählte mir meine Mutter noch, dass sie Andrea schon länger kündigen wollte und, dass das heute mit Lisa, so leid ihr das für Lisa tat, sehr hilfreich war, um Andrea endgültig loszuwerden. Sie hatte vor kurzem ein Bewerbungsgespräch mit einer sehr netten jungen Frau geführt, der sie gerade zugesagt hatte.“
„Also siehst du, dann war es ja doch nicht so schlimm.“
„Ja, lief von selbst und danke für deine Ermunterung. Ich hoffe ihr habt einen schönen Urlaub.“
„Danke. Und ich hoffe du und Lisa kommt euch näher. Ich denke, ihr passt super zueinander. Ach ja, und wenn du Lisa zu meiner Geburtstagsfeier mitbringen möchtest, ist sie natürlich auch herzlich eingeladen. Mach’s gut. Bis nächste Woche in der Schule.“
„Danke. Du auch. Bis dann.“
Am Sonntag war im Spaßbad mehr los als erhofft. Es waren wohl noch andere auf die Idee gekommen oder viele Leute kamen unabhängig vom Wetter. Leider durfte ich nicht in den Saunabereich, da der erst ab sechzehn war. So etwas Blödes, wegen der paar Tage. Aber die Verkäuferin wollte unbedingt meinen Ausweis sehen. Ich war schon öfter mit Mom in kleineren Saunen und fand das ziemlich cool, den Wechsel zwischen heiß und schwitzig und kaltem Wasser. Aber zum Glück gab es auch einen kleinen Saunabereich ohne Altersbeschränkung, in dem man ‘textil‘, also mit Badeklamotten, in die Sauna ging. Auch doof, in die Badesachen zu schwitzen, aber besser als gar keine Sauna. Den ganzen Tag nur Wasserrutschen wurde auf Dauer auch langweilig.
Am Sonntagabend um zehn Uhr abends holten Volker, Tina und Tom mich ab. Als Erstes montierte Volker im abklingenden Regen mein Rad zu seinem auf den Träger an der Heckklappe, während ich den Schirm hielt. Kurz nach neun hatte es nämlich angefangen zu gewittern. Danach verstaute er meine beiden Taschen im Auto, in dem noch Platz für mindestens eine weitere Person gewesen wäre. Ich verabschiedete mich von Mom mit einer langen Umarmung und dem Versprechen, sie jeden Abend anzurufen. Als wir auf der Autobahn waren, schlief ich ein. Der Tag im Spaßbad war offenbar anstrengender als gedacht. Ich schlief zwar nicht fest und wachte öfter auf, aber immerhin schlief ich. Als es dämmerte, waren wir schon in den Alpen. Als Volker merkte, dass ich wach war und mir die Landschaft ansah, zeigte er mir freudestrahlend ein Schild, auf dem die Tempolimits in Italien angezeigt wurden. Wir waren wohl gerade über die Grenze gefahren. Weil das mein erstes Mal in Italien war, blieb ich von da an wach und sah mir die Landschaft im Morgengrauen an. Circa eine Stunde später hielt Volker an einer Raststätte. Er weckte Tina und Tom mit dem Wort: „Pinkelpause!“ und zu mir fügte er hinzu: „Der erste Autogrill nach der Grenze. Endlich wieder gescheiter Kaffee.“ Wir gingen alle aufs Klo, das überraschend sauber war. Danach bekam jeder einen Cappuccino und ein Hörnchen. Es gab sie ohne Füllung, mit Pistazie, Schoko und Vanillecreme. Ich nahm Pistazie, was sehr lecker war. Wir tranken und aßen im Freien und über unsere Brösel freuten sich ein paar sehr freche Spatzen. Danach fuhren wir weiter.
Schon am Gardasee gingen wir in einem Supermarkt einkaufen. Wir mussten noch fünf Minuten auf dem Parkplatz warten, bis er öffnete. Tina und Volker packten einen Einkaufswagen randvoll. Dabei wollten wir doch nur eine Woche bleiben!
Tom gab mir ab und zu eine Kurzzusammenfassung: „Wie die Fahrt war … Es gibt eine neue Spülmaschine … Die Pizzeria Tip Tap hat den Besitzer gewechselt und ist nicht mehr so gut … Das Haus nebenan gehört jetzt einem arroganten Österreicher – bei ‘arrogant‘ bin ich mir nicht sicher, das Wort habe ich nicht ganz verstanden, jedenfalls mag Francesco ihn nicht. … Mama hat einen Liter von seinem Olivenöl bestellt.“
Anschließend machten wir gemeinsam einen kurzen Rundgang durchs Haus. Zum Schluss übergab Francesco den Schlüsselbund an Volker.
Als wir unser Gepäck aus dem Auto holten, schimpfte Tom plötzlich wie ein Rohrspatz: „Verdammt, verdammt, verdammt!“
Ich fragte: „Tom was ist los?“
„Ich habe das Backgammon daheim vergessen. Dabei habe ich es als Allererstes hergerichtet.“
Der Himmel war strahlend blau und wolkenfrei und es war knapp unter 30 Grad, sodass wir den Tag alle an einem schattigen Plätzchen im Garten verbrachten. Zum Glück wehte ein frisches Lüftchen. Gerade als wir alle vier weggenickt waren, bekam Tina eine SMS. Durch das ‘Pling’ des Handys waren wir alle wieder wach.
Tina sagte zu mir: „Nico, kannst du mir bitte schnell einen Gefallen tun? Francesco hat das Öl abgefüllt und ich soll es abholen. Francesco ist sehr nett, aber der letzte Einheimische weit und breit. Alle die Häuser hier gehören jetzt Ausländern oder reichen Italienern, die nur selten hier sind. Wenn dann mal jemand zum Reden da ist, ist Francesco natürlich sehr redselig. Ich möchte jetzt aber lieber ein bisschen schlafen.“ Tina gab mir zwanzig Euro und sagte: „Gib ihm bitte die ganzen zwanzig Euro. Das ist zwar nicht günstig, aber sein Öl ist echt gut und er ist auch sonst sehr hilfsbereit.“
Ich ging ein Stück über die Straße zum Nachbarhaus und klingelte. An der Türklingel stand, dass Francesco mit Nachnamen Pannolino hieß. Er kam mit einer Plastikwasserflasche voller Öl und redete auf mich ein. Ich zuckte mit den Schultern und sagte: „No italian.“ Daraufhin redete Francesco mit gebrochenem Deutsch weiter und auch bei mir dauerte es relativ lange, bis wir das Gespräch beendet hatten und ich Tina das Öl bringen und mich wieder in den Garten legen konnte.
Volker war ziemlich froh, als er mich am Nachmittag fragte, ob ich heute schon eine erste kurze Runde fahren wolle, und ich ablehnte: „Nein, lieber morgen am frühen Vormittag, wenn es noch kühl ist.“
Ich machte dann nur kurz vor dem Abendessen ein bisschen Gymnastik und geräteloses Krafttraining, während Tom seine Physio-Übungen machte. Bei einigen Übungen half ich ihm, nicht ohne ihm vorher ins Ohr zu flüstern: „Ist es okay, wenn ich dich anfasse oder soll dir lieber dein Vater helfen.“
„Danke, das ist schon okay.“
Am Montagabend waren wir alle noch ein bisschen müde von der Fahrt. Volker telefonierte und konnte einen Tisch in einer Pizzeria in Saló direkt am Ufer ergattern. Die Pizza schmeckte super. Danach spazierten wir noch in der Dämmerung durch das schöne Städtchen und tranken alkoholfreie Cocktails auf einem Sofa in der Bar am Fähranleger.
Zum Glück waren Volker und ich beide Frühaufsteher. Und so saßen wir am Dienstag bereits um acht Uhr nach einem kleinen, schnellen Frühstück auf unseren Rädern. Wir fuhren runter nach Saló, dann ein Stück nach Norden und schließlich eine kleine Straße mit Serpentinen 300 Höhenmeter hoch nach San Michele. Volker war ziemlich fit und ich musste ans Limit gehen, um dranbleiben zu können. Regel Nummer fünf war kein Problem, denn ob ich ihn hätte abhängen können, wollte ich lieber nicht probieren. Es waren sehr viele Rennradler unterwegs, aber die meisten überholten wir ziemlich zügig. Oben hielt Volker an einer Bar, an der viele andre Radler auch Pause machten. Scheinbar musste Volker aufs Klo, denn eine Trainingsfahrt unterbricht man ja nicht. Als ich ihn fragte, ob er mal müsse, erklärte er mir: „In Italien ist es so üblich, dass man einen Berg flott hochfährt, oben einen Kaffee trinkt und dann wieder gemütlich runterfährt. Außerdem machen Italiener Sport eigentlich immer in Gruppen. Alleine gilt als unsozial. Das ist eine gute Motivation, denn man sollte besser fit oder vermögend sein, da der Letzte natürlich den anderen den Kaffee zahlen muss. Heute geht der Kaffee aber auf mich, weil du mich ja nicht überholen durftest – Regel Nummer fünf. Also, was willst du?“
„Ich bin mir nicht sicher. Gibt es in Italien nicht ungeschriebene Gesetze, wer welchen Kaffee wann trinken darf?“
„Ah, ich weiß was du meinst. Das erkläre ich dir gleich. Aber jetzt ist Vormittag, da hast du die freie Auswahl: Espresso, Doppio, Macchiato, Cappuccino oder Corretto?“
Ich schaute ihn mit großen Augen an.
„Sag’ einfach auf Deutsch, was du willst.“
„Am liebsten wäre mir ein Espresso mit ein bisschen Milch“.
„Kommt gleich“ und er rief der Bardame etwas zu, das sich anhörte wie: „Bon Tschorno. Due Kafä. Un Mackiatoh eh un Lischo, per Fawore. Ei Fwori.“
Wir setzten uns an einen freien Plastiktisch auf dem Gehweg.
Während die freundliche Bardame den Kaffee zubereitete und ihn uns brachte, erklärte Volker: „Nun zu den ungeschriebenen Kaffeegesetzen in Italien. Das Einzige, was in Italien verpönt ist, ist Cappuccino mittags oder abends nach dem Essen. Das kommt daher, dass das typische italienische Frühstück ein Cappuccino und ein Hörnchen ist. Der Cappuccino gilt als Sättigungsgetränk, wegen der vielen Milch. Wenn du also in einem Restaurant oder noch schlimmer bei Freunden einen Cappuccino nach dem Essen bestellst, heißt das so viel wie ‚Dein Essen war so schlecht, ich habe immer noch Hunger‘. Das ist so, als würdest du einen Italiener zu dir zum Abendessen einladen und wenn du ihm nach drei Gängen einen Verdauungsschnaps anbietest, will der eine Schüssel Müsli. Aber wem Espresso zu bitter ist, der kann nach dem Essen einen Macchiato trinken, das ist das was du hast, also Espresso mit ein bisschen Milchschaum oder auch durchaus üblich, man kippt viel Zucker in den Espresso und macht quasi Marmelade.“
„Und die anderen Kaffees, die du vorhin aufgezählt hast?“
„Nur ‘Cafè‘ ist der normale Espresso. In touristischen Gegenden sollte man aber besser Espresso sagen, sonst bekommt man am Schluss stattdessen einen ekligen Americano; das ist Espresso mit Wasser verdünnt. Doppio ist der doppelte Espresso. Macchiato hatten wir schon. Corretto war nur ein Scherz, dass ist ‘der Korrigierte‘, also Espresso mit einem Schuss Schnaps. Latte Macchiato ist Milch mit ein bisschen Espresso. Das gibt man in Italien nur Kindern zu trinken, die noch keinen Kaffee mögen. Und dann gibt es noch viele lokale Besonderheiten.“
„‘Buon giorno‘ und ‘per favore‘ kenne ich. Aber was ist ein Lischo?“
Wenn man einen Espresso mit und ohne etwas darin bestellt, sagt man zum normalen Espresso ‘Liscio’. Auf Deutsch wäre das ein ‘normaler Espresso’, wobei liscio eigentlich glatt heißt.“
„Und das Ei?“
„‘Ai fuori‘ bedeutet, dass sie ihn uns bitte nach draußen bringen soll. Wenn mal ihn gleich an der Theke im Stehen trinkt, sagt man ‘al banco‘. Der ist dann auch billiger per Gesetz.“
„Gibt es sonst noch etwas, das man in Italien nicht machen sollte, im Vergleich zu Deutschland?“
„Wenn man in Italien lebt, gibt es schon ein paar merkwürdige Bräuche und Fettnäpfen, in die man treten kann. Zum Beispiel lässt man das Preisschild an Geschenken. Touristen gegenüber sind Italiener aber relativ tolerant. Da gibt es hauptsächlich zwei große Fehler, die man machen kann: unangemessene Kleidung – vor allen in Kirchen – und sich im Restaurant einfach an einen freien Platz setzten. Letzteres kann dazu führen, dass man nicht bedient wird oder sogar rausgeworfen wird.
So langsam sollen wir aber wieder fahren, ehe es zu warm wird. Wir müssen auch noch ein paar Meter hoch zum Haus.“
Während wir duschten, packte Tina Brotzeit zum Mittagessen ein. Volker sorgte dafür, dass sich alle ganz dick mit Sonnencreme einschmierten. Dann fuhren wir nach Saló und Volker mietete für den Nachmittag ein Motorboot.
Kurz vor dem Abendessen half ich Tom wieder bei seinen Übungen.
Abends kochten wir alle vier gemeinsam in der großen Küche der Ferienwohnung. Beim Essen fragte Volker mich, wie es mir bisher gefiel.
Ich sagte: „Es ist hier echt super. Ich wünschte nur, Mom wäre hier. Ich habe ein ziemlich schlechtes Gewissen, weil ich hier so eine tolle Zeit habe, während sie alleine zu Hause sitzt und wegen meinem neuen Rad keinen Urlaub machen kann.“
Nach dem Abendessen machten Tina und Volker einen kleinen Spaziergang durch den Olivenhain, während ich mit Tom auf der Terrasse blieb.
Im Schein von vielen gelben Kerzen, die nach Zitrone rochen und gegen Mücken helfen sollten, konnte ich endlich einmal mit Tom unter vier Augen reden.
Ich fragte ihn: „Und, wie geht es dir? Also ich meine nicht dein Bein.“
„Ich habe letzte Woche viel mit Lea und Hannah gesprochen, und ja, es wird allmählich besser. Ich fange langsam an, mich zu akzeptieren. Das Verknalltsein in dich kann ich natürlich nicht wie mit einem Schalter abstellen, aber es lässt allmählich nach, und es tut fast nicht mehr weh, mit dir zusammen zu sein. Zumindest ist es nicht mehr so schlimm, sodass ich nicht trotzdem die tolle Zeit hier mit dir genießen kann. Danke noch mal, dass du mir das damals so einfühlsam gesagt hast und dich so toll verhalten hast. Einen besseren Freund kann man sich echt nicht wünschen. Übrigens hat mir Hannah Sonntag noch gestanden, dass sie sich dir gegenüber verplappert hat. Sie hatte deswegen wohl ein ziemlich schlechtes Gewissen. Aber gerade bei Hannah verstehe ich nicht, wie das passieren konnte, und ich habe ihr deswegen eine ziemliche Standpauke verpasst.“
„Sei doch nicht so hart zu ihr. Sie hat es ja eigentlich nur gut gemeint und wollte dir helfen. Wir hatten ein Missverständnis und sie war einen Tick zu schnell. Ich glaube aber, ‘was Besseres hätte dir gar nicht passieren können. Ich selber wäre da ziemlich sicher noch nicht so früh darauf gekommen, dass ich dich deswegen angesprochen hätte. Stell dir mal vor, wir wären jetzt hier im Urlaub und du würdest immer noch damit hadern, ob ich auch auf dich stehe, oder wie du mir beibringst, dass du auf mich stehst. Oder du hättest jetzt hier von mir den Korb bekommen.“
„Oh ja, das wäre die Hölle gewesen und sicher kein schöner Urlaub für mich geworden. So gesehen hast du recht und Hannah hat mir sogar einen großen Gefallen getan. Ich glaube ich rufe sie gleich mal an und sage ihr, dass ich nicht mehr sauer auf sie bin.“
Am Mittwochvormittag fuhren Volker und ich eine längere Tour mit 80 Kilometern und über tausend Höhenmetern in fast drei Stunden. Zuerst ging es ein Stück Hauptstraße am See entlang. Das war nicht so toll, weil uns ein paar Autofahrer sehr knapp überholten. Danach fuhren wir in Serpentinen die Küste hoch, mit traumhafter Aussicht auf den Gardasee, und durch ein Tal zu einem Stausee. Die Straße war richtig geil kurvig und leicht bergab. Wir fuhren fast so schnell wie die Motorradfahrer. So eine schöne Strecke bin ich vorher noch nie gefahren. Danach ging es nochmal ziemlich steil hoch nach Capovalle. Am letzten langen Anstieg machte sich mein größeres Trainingspensum bemerkbar und Volker gab mir die Erlaubnis, Regel Nummer fünf zu brechen, wenn ich an der Passhöhe auf ihn warten würde. Ich fuhr dann hoch, drehte um und fuhr zu Volker zurück und die letzten paar hundert Meter nochmal gemeinsam mit Volker hoch, damit ich nicht verschwitzt am zugigen Pass warten musste. Danach ging die Strecke wieder in Serpentinen runter zu einem See. Zurück ging es durch ein Tal, das nicht mehr ganz so schön war, aber trotzdem Spaß zum Fahren gemacht hat. Diesmal fiel es mir echt schwer Regel Nummer vier zu befolgen und mein glückliches Grinsen vor Tom zu verbergen.
Tom sagte aber nur: „Erzähl’ mir jetzt bloß nicht, dass das voll langweilig und gar nicht schön war. Ich bin die Tour auch schon gefahren.“
Den Nachmittag verbrachten wir mit lesen, spielen, faulenzen und Toms Physio.
Am Abend waren wir essen. Tina hatte einen Tisch in einer versteckten Osteria in Saló reserviert. Was eine Osteria war, wusste ich nicht und Tina erklärte mir, dass man ähnlich wie bei uns mit Imbiss, Kantine, Kneipe, Wirtschaft, Restaurant auch in Italien unterschied in die Bar, vergleichbar der Kneipe, die Pizzeria, wie bei uns auch, die Enoteca, also dem Weinlokal, in dem es meist nur mit Kleinigkeiten und kalte Küche zu essen gab, die Trattoria, der einfachen, kleinen Arbeiterwirtschaft oder Raststätte, die Osteria mit traditioneller und eher einfacher Küche und das Ristorante, also gehobene Küche mit drei Gängen.
Auf dem Weg zur Osteria entdeckten wir einen kleinen Spielzeugladen. Also nicht so einen klassischen Spielzeugladen mit Plüschtieren, Plastikdinos, Barbie, Lego, Playmobil und so, sondern eher ausgefallenes Designer-Spielzeug, vieles davon aus Holz. Dort gab es ein ziemlich tolles Backgammon, das gar nicht so teuer war. Klar, das Tom das haben musste.
In der Osteria gab es lokale Spezialitäten wie Hecht. Die Vorspeisen und Nudeln waren auch sehr lecker. Während wir auf den Hauptgang warteten, sagte Volker, dass er Francesco versprochen hatte, morgen Nachmittag jemanden am Flughafen in Verona abzuholen, weil Francescos alter Fiat in der Werkstatt war, und ob wir das nicht nutzen wollten, um uns vormittags die Stadt anschauen. Klar wollten alle. Tom durfte sein Bein inzwischen schon wieder teil-belasten und konnte ohne Probleme auch schon längere Strecken mit den Krücken laufen.
Verona war wunderschön. Wir schauten uns den durch Romeo und Julia weltberühmten Innenhof mit dem Balkon sowie die Arena an. Natürlich saßen wir auch gemütlich an einem schönen Platz vor einem Café und tranken Cappuccino als zweites Frühstück und aßen dazu leckere Kekse. Volker erkläre: „So kleine Sünden gehören zum Urlaubmachen einfach dazu. Schließlich muss man Land, Leute und Kultur kennenlernen. Und in Italien ist Essen Teil der Kultur.“
Am Flughafen parkte Volker in der Kurzparkzone. Tina und Tom blieben im Auto. Volker bat mich, bitte mitzukommen, um ihm eventuell beim Koffertragen zu helfen. Ich wunderte mich noch, dass Volker gar kein Schild oder keinen Zettel dabei hatte, aber scheinbar kannte er die Person, die er abholen sollte. Wir warteten im Ankunftsbereich. Irgendwie sah man sofort, dass jetzt gerade eine Menge Leute aus dem Flieger aus Deutschland ausstiegen. Wer trägt sonst Sandalen mit langen Socken? Plötzlich sah ich Mom durch die Schleuse kommen. Wir liefen uns entgegen und fielen uns um den Hals.
„Mom, was machst du denn hier? Was für eine schöne Überraschung.“
Inzwischen war Volker zu uns gekommen, nahm Moms Reisetasche und sagte: „Ich habe da noch einen anderen Bekannten, der gelegentlich günstig an Flugtickets kommt. Ich hatte ja versprochen Wünsche zu erfüllen, wenn es mir möglich ist.“
„Danke Volker, du bist der Wahnsinn!“
Mom ergänzte: „Ich konnte tatsächlich heute und morgen frei nehmen. Montag wird dann zwar anstrengend, aber was soll’s. Ja nochmal vielen Dank, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, das zu organisieren.“
„Volker, bitte. Und das war mehr Glück als Arbeit. Das hat mich tatsächlich nur ein Telefonat gekostet.“
Abends kochten wir nach Toms Physio alle fünf gemeinsam. Beim Essen bekam ich eine Nachricht von Leon: „bin so happy“ mit einem total süßen Bild von Lisa und Leon eng umschlugen. Nach dem Essen saßen wir noch bis elf auf der Terrasse und unterhielten uns.
Mit Mom waren die letzten drei Tage noch schöner.
Am Freitagvormittag fuhr ich mit Volker eine schöne, aber nach gestern zum Glück nicht ganz so anstrengende 50-Kilometer-Runde nach Desenzano und übers Hinterland wieder zurück, während Mom, Tina und Tom im Garten des Ferienhauses lasen. Am späten Nachmittag fuhren wir alle mit dem Auto zur Rocca di Manerba und machten an einer wunderschönen Klippe über dem See ein feudales Picknick im Sonnenuntergang. Da Volker fahren musste, leerten Mom und Tina zusammen eine ganze Flasche Rotwein und waren danach albern.
Am Samstagvormittag fuhr ich mit Volker noch einmal die große Runde über Capovalle, weil sie mir so gut gefallen hatte. Nachmittags kosteten Mom, Tina und Volker die bequemen Liegen im Garten voll aus, während Tom und ich Backgammon spielten. Abends ging es wieder runter nach Saló, um in einer kleinen Spaghetteria, also einem Nudelrestaurant zu essen. Ich fand das ziemlich abgefahren, ein Restaurant, in dem es nur Nudelgerichte gab, aber Tina erklärte mir, dass man hier nur hausgemachte Nudeln servierte, die täglich frisch gemacht und nicht getrocknet wurden, was auch in Italien etwas Besonderes es war. Beim Bezahlen gab es kurz eine Diskussion zwischen Mom und Tina, da sie ja einen Deal vereinbart hatten, dass Mom für mein Essen und meine Getränke aufkommen würde und die Summe, die Tina nannte, ziemlich unglaubwürdig war. Als Tina merkte, dass Mom das zu viel Großzügigkeit war und sie leicht sauer wurde, nahm sie einen kräftig aufgerundeten Betrag an und Volker ließ zu, dass Mom die Rechnung für den Abend zahlte. Danach schlenderten wir wieder durch die Stadt. Neben dem Dom gab es für jeden ein Eis. Mom und Tina nutzten die langen Ladenöffnungszeiten, um nach Klamotten und Taschen zu schauen. Danach setzten wir uns noch in eine Bar am Ufer, um etwas zu trinken.
Am Sonntagvormittag standen wir relativ früh auf, packten zusammen und machten das Haus ‘besenrein’.
Tina betonte immer wieder: „Anja, nur besenrein! Francesco putzt eh nochmal komplett durch“, als Mom hier und da noch putzen wollte.
Danach fuhren wir zu einem Strandbad. Volker lud auf dem Parkplatz die Räder sicherheitshalber ins Auto. Das Strandbad war relativ leer. Die meisten waren scheinbar gerade auf der Autobahn im Stau auf dem Weg nach Hause. Wir verbrachten den Tag mit Baden, Rumliegen, Eis und Snacks.
Neben uns war eine Familie mit drei kleinen Kindern. Der Jüngste saß mit Sonnenhut, T-Shirt und nur einer Windel bei Mama und Papa. Der Mittlere spielte mit untenrum nur Windel, UV-Shirt und Kappe mit seiner älteren Schwester, die schon einen Badeanzug trug. Die Windel des mittleren Kindes war schon ziemlich voll oder er war damit im Planschbecken gewesen und sie hing schwer zwischen seinen Beinen. Den Jungen schien das aber nicht groß zu stören. Auch sonst konnte ich kaum irgendwo hinschauen, ohne kleine Kinder in Windeln zu sehen. Ich dachte mir, wie gern würde ich jetzt eine Windel tragen! Aber nur mit Windel und T-Shirt, wie die Kinder hier, war für mich leider für immer tabu. Ich fragte mich, ob es in einer Welt, wo man als Erwachsener, wie diese Kinder, nur mit einer Windel bekleidet rumlaufen dürfte, trotzdem peinlich wäre? Das waren aber ohnehin nur theoretische Gedankenexperimente.
Ich überlegte auch, wie Tom wohl reagieren würde, wenn ich mir vorhin, statt der Badehose eine Windel angezogen hätte. Er würde wahrscheinlich mit Fassungslosigkeit und Unverständnis reagieren. Und wie wäre es bei meinen anderen Freunden? Jannik und Sophie? Wahrscheinlich eher noch schlimmer. Am meisten Verständnis würde ich mir von Hannah erwarten. Lea würde das sicher medizinisch sehen und nach einer Heilung suchen. Und Leon? Den konnte ich gar nicht einschätzen. Janina hatte auf dem Flug Windeln getragen, dessen war ich mir absolut sicher, aber hatte es ihr gefallen? Sehr wahrscheinlich nicht. Sie musste halt notgedrungen. Und was, wenn sie nicht nur tagsüber oft auf Klo musste, sondern auch nachts Probleme hatte. Vielleicht musste sie ja nachts Windeln tragen. Wobei, das sollte Jannik dann zwischen wissen und wäre bezüglich Windeln beim Flug in die USA vermutlich zurückhaltender gewesen. Aber wenn einer meiner anderen Freunde Bettnässer wäre? Dann würden sie wahrscheinlich Windeln genauso hassen wie Tom und sie nur tragen, weil sie mussten. So jemand würde wahrscheinlich noch weniger verstehen, dass mir das gefiel. Und Steffi? Schwierig. Steffi schätzte ich wie Hannah ein. Und schließlich Mom. Wie würde sie wohl reagieren? Wahrscheinlich würde sie die Schuld erst einmal bei sich selbst suchen und sich Vorwürfe machen, dass sie in meiner Erziehung etwas falsch gemacht hatte. Dass sie es mir einfach verbieten würde, glaubte ich nicht. Aber in jedem Fall würde sie mir helfen wollen, was wahrscheinlich bedeutete, dass ich zu einem Psychologen musste. Aber würde mir das wirklich helfen?
Während ich über mich und meine Windelleidenschaft – oder besser mein Windelleiden – nachdachte, rannte der Junge mit seiner aufgequollenen Windel immer an mir vorbei, gerade wenn ich mich mit anderen Themen ablenken wollte. Und schon wieder hatte ich das Verlangen, Windeln zu tragen. Das Einzige, was half, war, mich umzudrehen und die Augen zu schließen.
Als es Zeit wurde aufzubrechen, duschte jeder nochmal, zog sich um und wir fuhren heim. Abendessen gab es unterwegs an einer Raststätte. Alle außer Volker konnten die Nacht ein bisschen schlafen. Außerdem kamen wir schon um kurz vor drei Uhr morgens zu Hause an, sodass Mom noch ein paar Stunden schlafen konnte.
Obwohl ich von der Fahrt noch sehr müde war, stand ich mit Mom zum Frühstück auf. Nachdem sie zur Arbeit gegangen war, zog ich mir eine Windel an und legte mich wieder ins Bett. Endlich wieder eine Windel! Nach über einer Woche ohne und dem Erlebnis gestern im Strandbad, hatte ich mich schon so darauf gefreut. Außerdem wollte ich meinen letzten Ferientag noch richtig auskosten.
Autor: Hans_Steam | Eingesandt via Ticket
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